Mit Hilfe der Lektüren vom Rowohlt Verlag konnten die Schmidts die moderne Literatur aus den europäischen Nachbarländern und aus Übersee kennenlernen. Sobald die Familienkasse es erlaubte, begannen sie auch – man könnte fast sagen systematisch – die Nachbarstaaten zu bereisen. Helmut Schmidt erklärte seine ausgiebige Reisetätigkeit später einmal mit einer chinesischen Spruchweisheit: »Einmal sehen ist besser als hundertmal hören.«[145] Dieses Prinzip galt nicht nur für ihn, hier waren sich beide Schmidts einig: Wann immer sich die Möglichkeit bot, gingen sie auf Reisen.
Die erste große gemeinsame Reise führte sie 1951 mit einem Frachter der Reederei Uhlmann nach Schweden. Die Kontakte zu der Reederei hatte Schmidt über seine berufliche Tätigkeit im Amt für Verkehr herstellen können. 1952 folgte eine Reise ins österreichische Salzburg, 1953 unternahmen sie eine Rundreise mit zahlreichen Stationen durch Frankreich. Letztere hatten sie zu Hause detailliert vorbereitet, die Reiseroute genau festgelegt. Alle ihre Reisen dokumentierten sie mit zahlreichen Fotos, die sie in diversen Fotoalben ausführlich beschrifteten. Fast dreihundert dieser Alben gibt es im Archiv der Schmidts, viele davon mit Fotos von dienstlichen Anlässen und Begebenheiten, viele aber auch mit privaten Fotos. Wer die Gelegenheit hat, diese Alben durchzublättern, begibt sich auf Weltreise, die Schmidts waren im wahrsten Sinne des Wortes »weitgereiste Menschen«.
Seine erste große berufliche Reise absolvierte Helmut Schmidt im August 1950. Seiner Familie sollte diese Reise eine schwierige Entscheidung abverlangen. Hamburgs Bürgermeister Max Brauer wollte mit einer Delegation aus Wirtschaft und Politik in die USA, um dort die Leistungsfähigkeit der Hamburgischen Hafenwirtschaft publik zu machen. Zu seiner Begleitung gehörten auch Wirtschaftssenator Karl Schiller und dessen Abteilungsleiter im Amt für Verkehr Helmut Schmidt. Während die Delegation nach Gesprächen und Besichtigungen in New York und Chicago bereits nach wenigen Tagen nach Hamburg zurückkehrte, hatte Helmut Schmidt seinen Aufenthalt um mehrere Wochen verlängert. Er wollte Amerika näher kennenlernen, und er wollte zu Verwandten nach Duluth, einer kleinen Hafenstadt am Lake Superior im Bundesstaat Minnesota. Diese hatten nach 1945 die Großfamilie Schmidt mit Carepaketen versorgt und ihnen damit eine heute kaum noch vorstellbare Freude bereitet: Kaffee für die Erwachsenen, Schokolade für die Kinder.
Zu Helmut Schmidts Erstaunen stellte sich heraus, dass sein Onkel August Hanft – die Hanfts und die Schmidts hatten denselben Urgroßvater mütterlicherseits – ein begüterter Fabrikant und Unternehmer war. Er führte eine kleine Eisengießerei mit etwa zwanzig Arbeitern und Angestellten. »Das faszinierende aber war: es standen genauso viele Autos davor, wie Leute dort beschäftigt waren, jeder besaß ein Auto! Dergleichen hätten wir in Deutschland nicht zu träumen gewagt.«[146] Helmut Schmidt bewunderte auch die Wohnverhältnisse der Arbeiter, viele von ihnen hatten sogar ein eigenes Häuschen.
Die größte Überraschung allerdings folgte noch. Nachdem August Hanft den offenbar agilen und gut Englisch sprechenden Neffen näher kennengelernt hatte, machte er ihm ein verlockendes Angebot. Hanft wünschte sich Unterstützung in der Leitung des Unternehmens und offerierte dem deutschen Neffen eine gut bezahlte Stellung in seinem Betrieb. Am besten sollte er gleich dableiben und Frau und Tochter so schnell wie möglich nachkommen lassen.
Von einem Neustart in den USA träumten damals Zehntausende Deutsche. Das zerstörte Deutschland zurückzulassen und hier in Duluth sorgenfrei in eine gut bezahlte Stellung zu wechseln, das war auch für Helmut Schmidt mehr als nur eine Überlegung wert. Zurück bei seiner Frau in Hamburg besprachen die beiden ausführlich dieses Angebot, wägten Vor- und Nachteile ab. Am Ende entschieden sie sich dagegen: »Wir haben uns nicht entschließen können, Deutschland zu verlassen, obschon wir damals mit vier Familien in einer Vierzimmerwohnung ziemlich trostlos hausten«, berichtet Helmut Schmidt, ohne noch weitere Gründe zu benennen.[147]
Letztendlich verfügten die beiden über genügend Zuversicht, dass sich für sie auch in dem zerstörten Deutschland neue Chancen auf ein besseres Leben eröffnen würden. Er stand am Anfang einer verheißungsvollen und relativ gesicherten Berufslaufbahn, und sie hätte bei einer Umsiedelung in die USA ihre Berufstätigkeit als Lehrerin aufgeben müssen. Auch die vielen guten Freunde und die starke Verbundenheit zu ihrer Heimatstadt spielten eine Rolle bei der Entscheidung gegen das verlockende Angebot des erfolgreichen amerikanischen Onkels.
Wenn das Paar später auf die gemeinsame Vergangenheit schaute, erzählten sie auch immer von dieser ernsthaft erwogenen, durchaus realistischen Berufsalternative für Helmut Schmidt. Das Angebot aus Duluth zeigt, dass sich der gemeinsame Lebensweg der Schmidts auch in ganz anderen Bahnen hätte entwickeln können.