Als Ende April 1947 der Geburtstermin für das sehnlichst erwartete Baby näher rückte, logierten sich die Schmidts bei Freunden in der Martinistraße in Hamburg-Eppendorf ein, nur wenige Minuten zu Fuß entfernt vom Universitätskrankenhaus. Dort hatten sie sich für die Geburt angemeldet, der Weg von ihrer Wohnung in Neugraben zur nächsten Geburtsstation war ihnen zu lang und risikoreich erschienen. Auch wenn die Geburt eines Kindes damals noch »nicht so ein großes Ereignis wie in späteren Jahren war«, wie Loki Schmidt später meinte,[148] die Schmidts wollten bei Susannes Geburt medizinisch gut aufgehoben und sicher sein.
Die Entbindung verlief ohne Komplikationen, das Kind war gesund und die Eltern waren glücklich: »[…] da Susanne etwas später, als ich ausgerechnet hatte, geboren wurde, war sie sehr gut entwickelt, das war ein properes Kind«.[149]
Was immer die beiden Schmidts für die Betreuung der gemeinsamen Tochter abgesprochen haben mögen, in der Praxis lag die Verantwortung nahezu ausschließlich bei Loki. Während der Vorlesungszeiten im Semester konnte ihr Mann tagsüber nicht beim Kind sein, also nahm Loki ihre kleine Tochter mit in die Schule. Abends war er wegen der Aktivitäten im SDS und in der SPD oft unterwegs, manchmal übernachtete er sogar wegen der schlechten Zugverbindungen in Hamburg.
In der Erinnerung von Loki Schmidt stellt sich der Alltag mit dem Neugeborenen als eine große Herausforderung dar. Morgens bereitete sie das Fläschchen vor, schob Susanne im Kinderwagen zur Schule und stellte ihn auf dem Gelände der Schule Fischbek unter einem schützenden Strauch ab: »In der großen Pause brauchte ich keine Aufsicht zu führen, damit ich mich um mein Kind kümmern konnte: füttern, neu bünzeln, und dann habe ich sie wieder unter einen Fliederbusch gestellt. 1947 war ein ausgesprochen freundlicher Sommer, es hat so gut wie nie geregnet, sodass ich keine Sorge zu haben brauchte, dass das Kind nass würde.«[150]
Die stolzen Eltern mit Tochter Susanne, Sommer 1948
Susanne scheint das alles problemlos mitgemacht zu haben: »Sie war ein geeignetes Kind für eine berufstätige Mutter – also ausgesprochen friedlich, wollte nicht ständig unterhalten werden; wenn sie genug zu essen bekam, legte sich hin und schlief oder spielte mit ihren Fingern. Das war also sicher einfacher für mich, als wenn es ein quengeliges Kind gewesen wäre.«[151]
Mit dem zunehmenden Alter Susannes musste sich auch Helmut Schmidt an der Betreuung des Kindes beteiligen, aber nicht immer klappten die gemeinsamen Absprachen. Manchmal musste Loki in unvorhergesehenen Situationen das Kind sogar für Stunden allein im Laufstall zurücklassen. »Heute würde man wegen Grausamkeit verklagt!«, sagt sie später dazu. Aber auch schon damals musste sich die Mutter in einer erheblichen Notlage befunden haben, bevor sie sich zu einer solchen Maßnahme entschloss. Im Dezember 1948 machte ihr Mann eine längere Studienfahrt nach England. »Da wusste ich nun gar nicht mehr, was ich mit unserer Tochter machen sollte. Jeden Tag wollte ich sie nicht alleinlassen. […] Ich hab dann ein Kinderheim gefunden bei der Klopstockkirche in der Nähe des Altonaer Rathauses, wo man sie aufgenommen hat. Ich bin also morgens vor der Schule über eine halbe Stunde mit dem Kind nach Altona geradelt und dann von dort eine Stunde zur Schule. Und das Ganze retour.«[152]
Im Nachhinein stellt man sich als außenstehender Betrachter die Frage, warum eine Studienreise unter diesen Umständen überhaupt Vorrang hatte, denn Helmut Schmidt war an der Universität bereits in seiner Prüfungsphase und die Reise kann gewiss keine Pflichtveranstaltung gewesen sein. Die Prioritäten des Familienvaters Helmut Schmidt haben zu diesem Zeitpunkt ganz offensichtlich bei seinem Studium und den politischen Aktivitäten in der SPD und beim SDS gelegen. Wenn Loki Schmidt rückblickend formulierte: »Zeitlich hat Susanne von Helmut nicht sehr viel gehabt«, dann galt das wohl bereits für die frühen Jahre der jungen Familie.[153]
Ein Jahr nach dem Umzug von der Othmarscher Lindenallee nach Barmbek, zu Ostern 1953, wurde Susanne an der Schule ihrer Mutter am Othmarscher Kirchenweg eingeschult. Diese Schule war Susanne schon gut vertraut, da Loki ihre Tochter bereits vor der Einschulung manchmal in den eigenen Unterricht hatte mitnehmen müssen. Obwohl die Schmidts mittlerweile eine Frau gefunden hatten, die am Vormittag auf Susanne aufpasste, klappte das manchmal nicht, und Susanne fuhr mit ihrer Mutter zum Unterricht nach Othmarschen. Auf dem langen, gemeinsamen Weg in der Straßenbahn zählte sie die Autos und lernte die Beschilderungen in der Bahn zu entziffern. In der Klasse von Loki Schmidt saß sie dann auf einem eigenen Platz, ein wenig abseits von den Schulkindern. Sie war immer noch ein selbstgenügsames Kind, sie beschäftigte sich selbst, malte, beobachtete die anderen Kinder und bekam, wie sich dann bald zeigte, auch einiges vom Lernstoff im Nebenbei mit.
Schon bevor sie sechs war, konnte sie fließend lesen, in Druckschrift schreiben und erstaunlich gut mit Zahlen umgehen. Susanne wurde deshalb gleich in die zweite Klasse eingeschult und fügte sich dort problemlos ein. Wenn tatsächlich etwas intensiver nachzuarbeiten war, kümmerte sich der Klassenlehrer geradezu vorbildlich um die Tochter der geschätzten Kollegin. In der dritten und vierten Klasse musste Loki Schmidt bei ihrer Tochter das Fach Handarbeiten unterrichten. Das Sticken, Häkeln und Stricken fand Susanne prima, aber dass ihre Mutter nun ihre Lehrerin war, fand sie »als Kind nicht so toll«, wie sie sich 2012 anlässlich der Umbenennung ihrer früheren Schule in »Loki-Schmidt-Schule« erinnerte: »So hat mir meine Mutter häufiger gesagt: Das hast du wirklich schön gemacht und hättest eigentlich eine Eins verdient, aber die kann ich dir nicht geben, denn sonst sagen die Leute, die bevorzugt ihre Tochter. Das verstehst du doch? Und ich hab immer ganz brav genickt, denn sie hatte ja recht, aber fair fand ich das überhaupt nicht.«[154]