Die zunehmende Bedrohung des deutschen Staates durch die Rote Armee Fraktion gehörte mit Sicherheit zu den größten politischen Herausforderungen, mit denen sich Helmut Schmidt als Kanzler konfrontiert sah. In emotionaler Hinsicht war es wahrscheinlich seine größte Bewährungsprobe. Selbst privat wurde der Terror der RAF zu einem sehr persönlichen und in diesen Jahren lebensbegleitenden Thema.
Die tödlichen Schüsse auf den Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration in Berlin 1967 und der Anschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke zu Ostern 1968 hatten Teile der Studentenbewegung in erheblichem Maße radikalisiert. Die gewaltsame Befreiung des nach einem Brandanschlag auf ein Frankfurter Kaufhaus verurteilten Andreas Baader im Mai 1970 gilt in der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung als Geburtsstunde der RAF. Über Jahre hinweg verbreitete die Terrorgruppe mit ihren Bombenanschlägen, Überfällen und Schusswechseln mit der Polizei Angst und Schrecken im ganzen Land.
Die Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann im November 1974 war der Beginn einer Serie von brutalen Gewalttaten gegenüber führenden Repräsentanten des Staates. Peter Lorenz, CDU-Politiker in Berlin, wurde im Februar 1975 entführt, im April 1975 besetzten deutsche Terroristen die deutsche Botschaft in Stockholm. Im April 1977 wurden der Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei seiner Beschützer ermordet. Noch im gleichen Jahr ermordete die RAF den Frankfurter Bankier Jürgen Ponto, entführte Hanns Martin Schleyer, den Präsidenten der Deutschen Arbeitgeberverbände, und erschoss seine vier Begleiter. Die Entführung Schleyers und der Versuch, mit diesem verbrecherischen Gewaltakt elf in Haft sitzende Terroristen der RAF freizupressen, mündete in die Entführung der mit Mallorcaurlaubern besetzten Lufthansa-Maschine »Landshut« durch palästinensische Terroristen, die mit der RAF sympathisierten. Nach einem langen Irrflug wurde schließlich die »Landshut« durch die Eingreiftruppe GSG 9 auf dem Flughafen Mogadischu gestürmt und alle Geiseln befreit. Unmittelbar darauf begingen Baader, Raspe und Ensslin in ihren Zellen in Stammheim Selbstmord und Hanns Martin Schleyer wurde von seinen Entführern kaltblütig ermordet.
Was hier in aller Kürze geschildert wurde, entwickelte sich in den langen Jahren des sich stetig steigernden Terrorismus für das Land, für die verantwortlichen Politiker, für den Kanzler, aber auch für dessen Frau und Tochter zu einer ernsten Bedrohung und Belastung.
Die ohnehin schon starke Bewachung des Kanzlers und seiner Frau wurden noch einmal intensiviert. Bei öffentlichen Auftritten wurden zusätzliche Beamte des BKA mit Maschinenpistolen eingesetzt, vorab wurden Fluchtwege festgelegt und die Kontrollen an den Auftritts- oder Versammlungsorten ausgeweitet. Bis in den Schlaf hinein verfolgten Loki Schmidt die Gewaltakte der RAF. Sie hatte Alpträume, die von Überfällen und Entführungen handelten und damit endeten, dass sie sich – um das Leben der jungen Begleiter besorgt – schützend vor sie warf.[216]
Auch im Langenhorner Wohnhaus und im Ferienhaus am Brahmsee wurden zusätzliche Maßnahmen zur Sicherung der Familie installiert: Schusssichere Fenster, gepanzerte Türen, hohe Zäune und Videoüberwachung rund um die Uhr. Selbst in dem sowieso schon vom Bundesgrenzschutz bewachten Kanzlerbungalow wurde weiter aufgerüstet. Experten der Sicherheitsgruppe hatten ausgerechnet, dass der Bungalow von der gegenüberliegenden Seite des Rheins mit tragbaren Raketenwerfern beschossen werden konnte. Die Schmidts mussten fortan mit einer Wand aus Panzerglas vor ihrer Wohnstatt im Park des Palais Schaumburg leben.
Natürlich ergibt sich selbst bei einer so bedrohlichen Lebenslage nach einiger Zeit ein gewisser Gewöhnungseffekt, den man auch als eine Art psychischen Selbstschutz verstehen kann. Niemand kann jeden Tag aufs Neue an die möglichen Gefahren für Leib und Leben denken, und auch der Anblick der schwer bewaffneten Begleiteskorte wird nach einer gewissen Zeit zur Normalität.
Das Ehepaar lernte, mit der Gefährdungslage zu leben. Woran sie sich als Eltern aber nicht gewöhnen konnten, war, dass auch ihre Tochter Susanne als höchst gefährdet eingestuft wurde und dauerhaft geschützt wurde. Ohne Sicherheitsbegleitung durfte sie nicht mehr das Haus verlassen. Wollte sie sich in einem Restaurant die Hände waschen, wurden vorab die Toilettenräume durchsucht. Noch Jahre später sei sie zusammengezuckt, wenn auf der Straße ein Pkw neben ihr anhielt.[217] Auch wenn die Schmidts nicht dazu neigten, Dinge zu dramatisieren, jetzt machten sie sich die allergrößten Sorgen um die Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Tochter. Die über Jahre anhaltende Gefährdung durch den RAF-Terror führte 1979 sogar dazu, dass Susanne ihren Lebensmittelpunkt nach England verlagern musste. Ihr Arbeitgeber, die Deutsche Bank, wollte ihren Kunden den stets anwesenden schwer bewaffneten Personenschutz nicht zumuten, und machte ihr daher das Angebot, nach London zu wechseln. Für die Kleinfamilie Schmidt wurde Susannes beruflicher Wechsel nach England zur dauerhaften Trennung. Die Tochter schlug dort Wurzeln und kehrte aus ihrer neuen Heimat nicht mehr nach Deutschland zurück.
Die immer brutaleren Terroraktionen der RAF zwangen Kanzler Schmidt im Verlauf seiner ersten Amtsperiode, sehr weitreichende Entscheidungen zu fällen. Nachdem Peter Lorenz im Februar 1975 durch den Austausch gegen fünf inhaftierte Terroristen freigekommen war, kamen Schmidt und sein enger Beraterkreis überein, dass ein demokratischer Staat sich nicht noch einmal durch terroristische Gewaltaktionen erpressen lassen dürfe. Bereits bei der Besetzung und Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm im April 1975 hatte Schmidt diese Linie verfolgt und lehnte einen Geiselaustausch ab. Die Terroristen töteten zwei Geiseln, sie selbst überlebten bei der anschließenden Erstürmung des Gebäudes durch schwedische Sicherheitskräfte. Der erschütternde Ausgang dieser Terroraktion der RAF hatte das Kanzlerehepaar tief berührt und sie zu einem schweren persönlichen Schritt bewogen.
Bei einem Gang durch den Park des Palais Schaumburg kamen sie überein, dass sie in einem eigenen Entführungsfall nicht ausgetauscht werden sollten. Sie wollten für den deutschen Bundeskanzler und für dessen Ehefrau keine Sonderstellung geltend machen und sichergehen, dass im Falle einer Entführung ein Austausch ihrer Person gar nicht erst in Erwägung gezogen würde. Diesen Entschluss legten sie umgehend schriftlich nieder und übergaben das Schreiben am folgenden Tage dem Chef des Bundeskanzleramtes. Auch den Leiter des vierköpfigen Leibwächter-Teams setzten sie in Kenntnis.
Als am 5. September 1977 mit der Entführung Hanns Martin Schleyers der sogenannte »Deutsche Herbst« mit extremen Gewaltakten und Terroraktionen seinen blutigen Verlauf nahm, stand Kanzler Helmut Schmidt erneut in der Verantwortung für die Menschenleben, die sich in der Hand der Terroristen befanden. Vier Stunden nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer gab er im Deutschen Fernsehen seine erste öffentliche Stellungnahme zu dieser verbrecherischen Tat ab: »Der Staat […] muss darauf mit aller notwendigen Härte antworten. Alle Polizei- und Sicherheitsorgane […] haben deshalb die uneingeschränkte Unterstützung der Bundesregierung und ebenso meine sehr persönliche Rückendeckung.«[218]
In dem unmittelbar nach der Entführung eingerichteten großen und kleinen Krisenstab wurden drei Leitlinien festgelegt: Die Geiseln sollen lebend befreit werden. Die Entführer sind zu ergreifen und vor Gericht zu stellen. Die Gefangenen werden nicht freigegeben. Von diesen drei Grundsatzentscheidungen wurde in den folgenden vierzig Tagen des immer weitere Kreise ziehenden Geiseldramas nicht mehr abgewichen.[219]
Bis zur Entführung der »Landshut« am 13. Oktober hatte die Bundesregierung vordringlich versucht, das Versteck von Hanns Martin Schleyer aufzuspüren und Zeit für die Suche zu gewinnen. Die Situation spitzte sich zu, als im Fernsehen eine Videobotschaft Schleyers ausgestrahlt wurde. In dieser wendete sich Hanns Martin Schleyer in verzweifelter Verfassung an die staatlichen Verantwortlichen und bat diese mit dramatischen Worten um seinen Austausch und die Erfüllung der Forderungen seiner Entführer, die RAF-Häftlinge in Stammheim freizusetzen. Die Schmidts waren sich völlig darüber im Klaren, dass diese Botschaft ganz direkt an den Kanzler gerichtet war. Aber Schmidt hatte sich entschieden, nicht auf die Erpressung der Terroristen einzugehen. Die RAF-Häftlinge in Stammheim wurden nicht freigelassen. Stattdessen sollten die entführten Passagiere und die Crew der »Landshut« befreit werden.
Im Falle eines Misslingens der Geiselbefreiung in Mogadischu wäre Helmut Schmidt von seinem Amt als Bundeskanzler zurückgetreten. Diesen Entschluss hatte er längst gefasst und mit seiner Frau besprochen. Dass aber die glückliche Befreiung der Geiseln gleichzeitig das Todesurteil für Hanns Martin Schleyer bedeutete, war allen klar. Mit dieser tragischen Logik des Handelns hatten die Menschen in den Krisenstäben, die Sicherheitskräfte, die Militärs, die verantwortlichen Politiker bis hin zum Kanzler – jeder für sich und an seiner Stelle – fertig zu werden.
Bei der Trauerfeier für Hanns Martin Schleyer am 25. Oktober 1977 verzichtete Loki Schmidt auf die Begleitung ihres Mannes, der Kanzler musste den Gang ohne sie tun. Als Ehefrau konnte es Loki Schmidt nicht über sich bringen, neben der Witwe und den verwaisten Söhnen Schleyers zu sitzen. Die Familie Schleyer hatte im Verlauf der Entführung nichts unversucht gelassen, um die Regierung und vor allem Kanzler Schmidt zu einem Nachgeben gegenüber der Forderung der Terroristen zu bewegen. Sie konnten kein Verständnis für sein unnachgiebiges Handeln aufbringen und haben die Entscheidung des Kanzlers, Hanns Martin Schleyer nicht gegen die Freilassung von RAF-Häftlingen auszutauschen, ihm nicht verzeihen können.[220]
Während der vierzig Tage des Geiseldramas um Hanns Martin Schleyer und die Entführung der »Landshut«, durchlebte Helmut Schmidt eine extreme Ausnahmesituation. Er hatte die Verantwortung für die Rettung der Geiseln und musste die endgültigen Entscheidungen zu deren Befreiung treffen. Man darf davon ausgehen, dass der Zuspruch und die Loyalität seiner Frau ihm Kraft dazu gaben. Ohne die Gewissheit, dass sie in den ethischen Richtlinien seines Handelns mit ihm übereinstimmte, wäre es schwer für ihn gewesen, die Situation durchzustehen.
Die von beiden Schmidts getroffene Entscheidung, sich im Entführungsfall selbst nicht austauschen zu lassen und damit den eigenen Tod oder den des Partners in Kauf zu nehmen, soll rückblickend noch einmal einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Blickt man auf die Person Helmut Schmidt, auf seine Biographie und die von ihm auch öffentlich vorgetragene Haltung zu Führungskräften, dann ergibt sich der Entschluss, bei einer Geiselnahme den eigenen Austausch gegenüber den Geiselnehmern abzulehnen, fast zwangsläufig. Als Soldat und Offizier in der Wehrmacht hatte er gelernt, Vorbild zu sein. Von seinen Untergebenen hatte er nicht mehr an Mut und Einsatzbereitschaft zu erwarten, als er selbst bereit war zu geben, und andersherum war er in der eigenen Pflichterfüllung auch immer Maßstab für die Kameraden gewesen.
In seiner Rolle als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland dachte er offensichtlich nicht anders. Beschließt eine Regierung im Kampf gegen den Terrorismus, der Forderung nach einem Austausch von Geiseln und anderen Erpressungsversuchen grundsätzlich nicht nachzugeben, dann konnte und wollte er die eigene Person nicht ausnehmen. Im Ernstfall hatte ein Regierungschef die gleichen Risiken zu tragen wie die eigenen Sicherheitskräfte, führende Vertreter von Staat und Gesellschaft oder der einfache Bürger auch. Eine solche Haltung war für Schmidt folgerichtig, im Grunde hatte jeder, der ihn näher kannte, nichts anderes von ihm erwartet.
Schwerer zu verstehen ist allerdings, dass er eine solch folgenreiche Erklärung zusammen mit seiner Frau abgab, und damit akzeptierte, dass ein Austausch der eigenen Frau bei einer eventuellen Geiselnahme von vornherein ausgeschlossen wurde. Auch drängt sich die Frage auf, warum Loki Schmidt selbst die Erklärung unterschrieb. Als Frau des Bundeskanzlers füllte sie kein politisches Amt aus und hätte keine Veranlassung zu einer solchen Äußerung gehabt. Sie hatte aber offenbar inzwischen ein so starkes Pflichtgefühl gegenüber dem Amt ihres Mannes und dem Staat entwickelt, dass sie eine so bemerkenswerte Entscheidung auch als Ehefrau tragen wollte. Vielleicht liegt der Schlüssel zum Verständnis aber in der Beziehung zu ihrem Mann. Ihre Bindung zu ihm war für sie so existenziell, dass man Lokis Handlungsweise auch als eine Entscheidung für ihren Mann interpretieren kann, denn im Ernstfall hätte sie ihm so geholfen, seine eigene Grundsatzentscheidung nicht für die Rettung der Ehefrau aufgeben zu müssen. So hätte sie ihn vor einem ausweglosen Dilemma zwischen privatem Glück und öffentlicher Verantwortung bewahren können. Ob das Ehepaar Schmidt einer solchen Deutung zugestimmt hätte, bleibt offen. Es spricht einiges dafür, dass sie die hier aufgeworfenen Fragen gar nicht verstanden hätten. Als Paar sahen sie sich in der Pflicht, und dieser waren sie nachgekommen.
Ob die Schmidts bei ihrem gemeinsamen Entschluss auch ihre Rolle als Eltern bedacht haben, muss ebenfalls unbeantwortet bleiben. Als sie jedoch Tage danach ihrer Tochter von ihrem Vorgehen berichteten, akzeptierte diese den Entschluss der Eltern. Mehr noch, sie wollte genauso behandelt werden.[221] Für Loki und Helmut war das eine mutige, aber auch bedrückende Aussage.[222] In einem Interview von 2010 wird Susanne Schmidt die Frage gestellt: »Sie waren 30 Jahre alt, und Sie hätten sich fürs Vaterland erschießen lassen?« Sie beantwortet das mit einem unaufgeregten Satz, der nicht nur für sie, sondern auch stellvertretend für ihre Eltern als typisch gelten kann: »Das klingt viel zu heroisch. Aber im Ernstfall wäre es so gewesen.«[223]
Als Schlussfolgerung aus der gemeinsamen Erklärung des Ehepaars Schmidt bleibt zweifelsfrei stehen, dass sie politische und gesellschaftliche Herausforderungen der Kanzlerjahre als eine gemeinsame Aufgabe und ein »gemeinsames Projekt« nicht nur beschworen, sondern auch durchlebt haben.