Der 40. Hochzeitstag und ein Bekenntnis von Helmut Schmidt

Am 27. Juni 1982 feierten die Schmidts ihren 40. Hochzeitstag. Alle wichtigen Familienfeste hatten sie bislang zu Hause in Hamburg gefeiert, dieses Mal jedoch luden sie einige wenige Freunde und Verwandte in den Kanzlerbungalow nach Bonn ein. Die Tischrede, die Helmut Schmidt an diesem Abend hielt, befindet sich im Hamburger Archiv. Den ersten Teil der Rede hatte er überwiegend mit Stichworten skizziert, erst die Schlusssätze hatte er ausformuliert. Sie waren ihm wichtig. Auch schien es angezeigt, zum Schluss der Rede in dem zwar kleinen, aber dennoch halb öffentlichen Kreis genau die richtigen Worte zu treffen für das, was er an seinem 40. Hochzeitstag zu sagen hatte.

Helmut Schmidts Rede setzt ein mit Bemerkungen darüber, wie die beiden sich kennengelernt hatten, dann spricht er über das, was sie zusammengehalten habe: »[…] menschliche Zuverlässigkeit in gemeinsam erlebten Fährnissen im Glück, im Krieg und im Frieden«. Hinzu kamen Liebe, die Gemeinsam

Nicht allen Anwesenden wird sich die Dimension der letzten Ausführungen gänzlich erschlossen haben, aber den näheren Freunden und vor allem seiner Frau und seiner Tochter war unmittelbar klar, was er hier zur Sprache brachte. Die Schlusssätze in Schmidts Tischrede zum Ehejubiläum mögen als eine Art Entschuldigung gedacht gewesen sein, indirekt aber sind sie ein Bekenntnis zu seiner außerehelichen Beziehung. In ähnlicher Form wiederholt er diese Sätze noch einmal im Februar 1994, als er auf einer Feier zu den gemeinsamen fünfundsiebzigsten Geburtstagen der beiden Eheleute das Wort ergreift.

Als Loki am 27. Juni 1982 der Tischrede Helmuts anlässlich des 40. Hochzeitstages lauscht, weiß sie nicht nur seit mehr als zwanzig Jahren über die außerehelichen Beziehungen ihres Ehemannes Bescheid. Sie weiß auch, dass die meisten anderen wissen, was im Stern, in der Welt am Sonntag oder der ZEIT über die Ehe der Schmidts geschrieben worden war, von ihrem Mann als »heimlichen Genießer«, vom »Abhauen, wenn die Reize schwinden«, von seinem »Ausweichen statt Ausbrechen« und vom Festhalten an der Ehe aus Gründen der Staatsräson.

Dass es ihr gelang, mit dieser – im wahrsten Wortsinn – »Lebensentscheidung« später eine außergewöhnlich reiche und erfüllende Ehe zu führen, ist den vielen Menschen, die das Ehepaar Schmidt ins Herz geschlossen haben, bekannt. Im Rückblick hat sie offenbar immer wieder verziehen, aber die Kränkungen doch nicht vergessen. Dass sich ihr Gatte Helmut Schmidt am 40. Hochzeitstag indirekt für ihr Verzeihen bedankte, kann man auch als Einsicht werten. Wenn er allerdings mehr als zehn Jahre später noch einmal Anlass hat, sich ähnlich zu äußern, kommen Zweifel an der Nachhaltigkeit seiner Entschuldigungen auf. Ebenso wenig überzeugend klingt auch seine Erinnerung aus seinem letzten Buch, dass das klärende Gespräch mit Loki über Helga R. die Ehekrise auf einen Schlag bereinigt hätte – man weiß schließlich, wie es weiterging.

2004 bezeugt Helmut Schmidt im Alter von sechsundachtzig Jahren in einem Gespräch mit Sandra Maischberger ausdrücklich – wenn auch sehr allgemein – sein Verständnis für eventuelle Seitensprünge von Politikern: »Die persönliche Moral eines Politikers muss in Ordnung sein, aber sie ist nicht notwendigerweise gleich in Unordnung, wenn er sich vorübergehenderweise in eine andere Frau verliebt. Das ist vielleicht in den Augen irgendwelcher Moralprediger unerhört – und in den Augen des Ehemanns jener Frau vielleicht auch –, aber so sind die Menschen, und nicht nur die Politiker. So sind sogar

An dieser Stelle erlaube ich mir einen kleinen Exkurs: Als ich im Juni 2013 mit meiner Biographie zu Loki Schmidt weit fortgeschritten war, habe ich Helmut Schmidt auf die Affären in seiner Ehezeit angesprochen.[231] Im Vorwege dazu, vor allem aber, als ich aus der Innenstadt nach Langenhorn in den Neubergerweg fuhr, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Wie würde er auf solche Fragen reagieren? Würde er ein solches Gespräch in seinem Hause überhaupt zulassen oder meine Fragen von vornherein als unangemessene Einmischung zurückweisen? Zwar hatte ich ihn in den vielen Jahren meiner regelmäßigen Besuche im Haus der Schmidts nie unfreundlich, wenn auch manchmal kurz angebunden erlebt. Aber dass er auch barsch und abweisend sein konnte, war ja ein bekannter Wesenszug von Helmut Schmidt.

Das Gespräch, wie alle anderen, die ich nach dem Tode seiner Frau mit ihm in Langenhorn geführt habe, fand in seinem nicht sehr großen Arbeitszimmer im ersten Stock des Hauses statt. Die Sitzanordnung war immer gleich. Die Sessel waren so gestellt, dass er den jeweiligen Besucher möglichst gut hören und verstehen konnte. Immer trank er Tee aus einem großen Becher, immer rauchte er, und immer bot er mir an, dass ich mich gern an seinen Zigaretten bedienen dürfe. Wie immer waren auch alle Fenster geschlossen. Sein Schreibtisch war gut gefüllt, es war deutlich: hier wurde gearbeitet. Neben dem Schreibtisch stand eine schwarze, voluminöse Aktentasche, die – gefüllt mit zu bearbeitenden und fertig gestellten Vorgängen – täglich von seinem Fahrer zwischen dem Pressehaus der ZEIT und dem Neubergerweg hin- und hertransportiert wurde. Auf einem der Wandborde stand seit Längerem neben einem Foto seiner verstorbenen Frau ein etwas kleineres von Ruth Loah, die er im

Erwartungsgemäß zeigte er sich bei diesem besonderen Gespräch zunächst wenig bereit, über die Binnenprobleme seiner Ehe mit mir zu reden. Wäre er nicht prominent, kommentierte er, würde das niemanden interessieren. Mein Hinweis, dass ich schlecht eine Biographie über seine Frau schreiben könne, ohne über ihre Beziehung zu dem für sie wichtigsten Menschen Auskunft zu geben, hat ihm dann jedoch eingeleuchtet.

So sprach er über die lebenslange große Liebe zu seiner Frau, dass sie ihm in all den Jahren das Gefühl des Zuhauseseins gegeben habe. Nicht einmal im Traum habe er je daran gedacht, sich von ihr zu trennen. Ihr Angebot, wegen seiner Beziehung zu Helga R. einer Scheidung zuzustimmen, habe ihn entsetzt. Ja, es habe auch andere Affären gegeben – »Leidenschaften« war der Begriff, den er dafür benutzte –, das aber seien private Angelegenheiten, die mich im Detail doch nicht bewegen müssten. Das habe ich akzeptiert. Darüber, dass seine Beziehung zu Helga R. seine Frau in eine tiefe und langwährende Krise gestürzt hatte, sprachen wir hingegen offen. Mir schien allerdings, dass ihm das durch ihn verursachte Ausmaß ihrer Lebenskrise nicht – oder nicht mehr – bewusst war.

Als ich an diesem Nachmittag aus Langenhorn zurückfuhr, wurde mir klar, dass seine Differenzierung zwischen der »Lebensliebe Loki« und seinen »Leidenschaften« im Prinzip dem gleichen Duktus folgte, den seine Frau schon vor Jahren in einem Gespräch mit Reinhold Beckmann vorgegeben hatte. Da hatte sie ganz allgemein formuliert, dass man in einer langen Beziehung zwischen »Liebe« und »verliebt sein« unterscheiden müsse. Das eine sei beständig, das andere verginge auch wieder. Ich fand dies frappierend: Selbst für ihre eigene, doch sehr unterschiedlich wahrgenommene Eheproblematik hatten die Schmidts eine gemeinsame Sprache gefunden.