Am 21. September 2010 fährt das Ehepaar Schmidt noch einmal nach Langwedel am Brahmsee. Loki Schmidt war der Aufenthalt im Ferienhaus mit seinem geringen Komfort seit längerem schon zu beschwerlich geworden. Ihr Mann dagegen drängte bisweilen. Er kam nach wie vor gern an den See.
An diesem kühlen Septembertag probieren sie es noch einmal, es soll auch nur ein Tagesausflug sein. Zurück in Langenhorn schreibt Loki am nächsten Tag einen Brief an ihren Bruder Christoph und dessen Frau. Es sind melancholisch gestimmte Zeilen, getragen von schönen Erinnerungen und einer Vorahnung, dass sie vielleicht nie mehr an den Brahmsee zurückkehren wird. Tatsächlich ist es der letzte Brief, den sie schreibt.
»Liebe Liesel, lieber Christoph, herzliche Grüße von Helmut und von mir aus einem schon recht herbstlichen Hamburg. Wir haben gestern wieder einen Versuch unternommen zum Brahmsee zu fahren. Bei einem heißen Tee, den Helmut uns gemacht hat, haben wir auf den lang gestreckten See geschaut, der kleine weiße Schaumkronen hatte. Von all den vielen Wasservögeln, die man normalerweise beobachten kann, war nichts zu sehen. Eine verlorene Möwe flog über dem Wasser, aber weder Blesshühner, Schwäne oder Gänse haben wir zu sehen bekommen und auch nicht gehört. Wir haben also erst mal in dem kalten Haus einen Mittagsschlaf gemacht, sind abends zum Essen in die nächste Stadt und waren froh, als wir um 22.00 Uhr wieder in der Dunkelheit zu Hause [in Hamburg] waren. Man bekommt zwar sentimentale Gefühle, wenn man in dem Haus ist und sich erinnert an so viele schöne und interessante Erlebnisse in den 50 Jahren, seit wir das Grundstück haben. Aber jetzt sind wir beide zu alt, um länger dort bleiben zu können.[333]
Als sie am 23. September nach einer längeren Fernsehaufnahme im Neubergerweg stürzt, bricht sie sich das Sprunggelenk des rechten Fußes. Sie wird sofort im nahe gelegenen Heidberg-Krankenhaus operiert, kann sich aber von den Folgen der Narkose nicht mehr erholen. Das Risiko der Operation und der damit notwendigen Narkose war sie bewusst eingegangen, sie wollte sich unbedingt ihre Mobilität und die damit verbundene Eigenständigkeit erhalten. Im Krankenhaus war sie teilweise noch ansprechbar und Helmut Schmidt bat einige enge Freunde, seine Frau zu besuchen. Die Ärzte hatten gehofft, dass bekannte Gesichter und eine vertraute Ansprache eine Besserung ihres Zustandes einleiten könnten. Auch ihre Verlegung in das Haus am Neubergerweg brachte keine Änderung, stattdessen wurde bald deutlich, dass sie nicht wieder gesunden würde. »Loki ist sehr krank. […] Susanne ist seit 10 Tagen hier. Wir sind beide sehr traurig«, berichtet Helmut Schmidt am 15. Oktober an Lokis Bruder Christoph. Er sitzt am Krankenbett und versucht, sie ins Leben zurückzuholen. Einmal glaubt er, ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. Er hatte es dieses Mal mit dem Familienpfiff der Schmidts versucht, so wie am 24. August 1945, als er aus der Gefangenschaft zurückkam und vor ihrer Tür in Hamburg-Neugraben gestanden hatte. Mehr als fünfundsechzig Jahre war das nun her.
Am 20. Oktober sollte Helmut Schmidt in Berlin bei einem Festvortrag zum 25. Jubiläum des Deutsch-Japanischen Zentrums sprechen. Da die Ärzte davon ausgingen, dass seine Frau noch etwa zwei Wochen hatte und er seine Tochter Susanne am Krankenbett wusste, sagte er nicht ab und fuhr nach Berlin. In seine Rede »Deutschland, Japan und ihre Nachbarn« fügte er eine kleine Geschichte von Loki und dem japanischen Tenno anlässlich eines gemeinsamen Staatsbesuchs im Jahre 1978 ein. Bei einem Festbankett im Palast des Tennos hatte sie ihn in ein längeres Gespräch über sein Interesse an Fischen verwickelt. Und obwohl das Protokoll eine direkte Ansprache des Kaisers verbietet, war dieser gern darauf eingegangen. Helmut Schmidts Zuhörer erfreute diese Anekdote, und der Altkanzler konnte sich sogar ein wenig mitfreuen. Für die, die im Publikum um Loki Schmidts ernsten Zustand wussten, war es ein berührender Moment. Helmut Schmidt ließ sich an diesem Abend nicht mehr zurück nach Hamburg fahren. Während er in seinem Berliner Hotel übernachtete, verstarb seine Frau im gemeinsamen Zuhause am Neubergerweg. Ihre Tochter Susanne war bei ihr.
Bei der Trauerfeier von Loki Schmidt am 1. November 2010 sieht man in der Hauptkirche St. Michaelis einen tief trauernden, in sich versunkenen Helmut Schmidt, der mehr als einmal um Fassung ringen muss. Die Tochter sitzt neben ihm, stützt und tröstet ihn. Als er drei Wochen später dem Hamburger Abendblatt ein bereits vor dem Tode Loki Schmidts abgemachtes Interview gibt, ist zu spüren, dass er mit der Einsamkeit und dem Gefühl der Verlassenheit kämpft. Gleichzeitig ist der Wille deutlich, durch die Fortsetzung aller beruflichen Tätigkeiten dagegen ankämpfen zu wollen.[334] Schon wenige Tage nach der Trauerfeier nimmt er seine Arbeit in der ZEIT wieder auf.
Vielleicht noch wichtiger wird für ihn die Unterstützung durch Ruth Loah. Seit mehr als fünfzig Jahren kannte er sie, nach seiner Rückkehr 1983 nach Hamburg hatte sie zunächst in der ZEIT für ihn gearbeitet, später dann das Archiv in Langenhorn geführt und war zum Schluss in der Funktion einer Privatsekretärin tätig gewesen. Zu ihr hatte Helmut Schmidt, wie er in seinem letzten Buch schreibt, »ein vertrauensvolles, enges Verhältnis« und »ohne diese langjährige Freundin […] hätte ich den Tod von Loki wahrscheinlich nicht überlebt«.[335] Diesen Dank an Ruth Loah drückte er auch im Thalia Theater in seiner Rede zur Feier seines fünfundneunzigsten Geburtstags aus. Der Kernsatz zum Schluss dieser Rede aber war: »Ohne Loki wäre ich nur die Hälfte.«
Nach Lokis Tod hat Helmut Schmidt noch sieben Bücher veröffentlicht, etliche Artikel geschrieben, Interviews gegeben und einige Reisen unternommen, die längste – in Begleitung eines Arztes – als Abschiedsbesuch über Singapur, wo er seinen alten Freund Lee Kuan Yew besuchte, der den Stadtstaat jahrzehntelang autoritär geleitet hatte, nach China.
Am 10. November 2015 verstarb Helmut Schmidt – wie seine Frau im Haus des Ehepaares in Langenhorn am Neubergerweg 80. Das gemeinsame Grab von Loki und Helmut Schmidt befindet sich auf dem Friedhof Ohlsdorf. Ein kleines, gusseisernes Schild weist den Weg von der Mittelallee des Friedhofes zu dem denkbar schlichten Grab.