Das Schweigen der Erde. Zum Anthropozän

Als im Jahr 1979 Hans Jonas’ »Das Prinzip der Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation« erscheint, ist ein ökologisches Bewusstsein noch kaum vorhanden. Das philosophische Buch ist ein Bestseller (bis 1987 erscheinen sieben Auflagen). Von heute aus gesehen ist das von Heidegger, Jonas’ Lehrer, beeinflusste Buch prophetisch.

Sein Autor weist aufs »globale Wärmeproblem« hin. Es handle sich um den »›Treibhauseffekt‹«, der eintrete, »wenn das bei der Verbrennung gebildete Kohlendioxyd sich weltweit in der Atmosphäre anreichert und wie die Glaswand eines Treibhauses« wirke. Ein so »eingeleitetes und von uns weitergespeistes Ansteigen der Welttemperatur […] könnte zu Dauerfolgen für Klima und Leben führen«, »bis zum katastrophalen Extrem von Polareisschmelze, Steigen des Ozeanspiegels, Überflutung großer Tieflandflächen …«[418] Seit beinahe vierzig Jahren gibt es also ein vielverkauftes Buch, das die Phänomene beschreibt, mit denen wir es heute zu

Jonas war sich über die zentrale Rolle des Zeitfaktors im Klaren. Er betont, dass eine Ethik, die sich zu etwas verpflichten will, das noch gar nicht existiert, »vielleicht ohne Religion überhaupt nicht zu begründen« sei.[419] Warum? Weil die Religionen über einen Zugang zur Zeit verfügen, den die Naturwissenschaft nicht kennt. Es geht um die Erzählung der Apokalypse, der Offenbarung der Wahrheit am Ende aller Zeiten. Was, wenn die Vertreibung aus dem Paradies diese Wahrheit schon enthielte? Die Ereignisketten der Natur mögen über den Menschen hinausgehen. Ohne ihn aber wird niemand mehr sie betrachten, sie loben und feiern. Noch eine andere Vertreibung scheint sich anzubahnen.

Im Anthropozän wird der Mensch zum ersten geologischen Faktor. Es sind nicht mehr Vulkanausbrüche oder größere Veränderungen der Erdkruste, die die Erdgeschichte bestimmen, sondern die humanoide Technik. Das Anthropozän soll das Holozän ablösen, das vor ungefähr 11000 Jahren mit einer langsam ansteigenden, hier und da unterbrochenen Erderwärmung begann. Nun sei anzunehmen, dass seit der industriellen Revolution im letzten Jahrhundert die CO2-Emissionen technischer Vorgänge das Klima maßgeblich beeinflussen. Das wirkt auf die Ereignisse der Erdgeschichte ein (Stand des Meeresspiegels, Entwicklung der Pflanzen- und Tierwelt, Desertifikation etc.).

Man kann auch sagen: zum ersten Mal in der Geschichte der Erde hat ein Lebewesen die Macht, diese Geschichte mitzuschreiben. Der Mensch wird also tatsächlich zum »Hirten des Seins«[420] – besser, er könnte nun zum »Hirten des Seins« werden, wenn er seine im Anthropozän zu besetzende Rolle zu spielen bereit ist. Da ist die Frage nicht

»Warum schweigt die Erde bei dieser Zerstörung?«,[421] fragt Heidegger Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. »Die Natur, herausgesondert aus dem Seienden durch die Natur-wissenschaft, was geschieht ihr durch die Technik?« Die Frage nimmt nicht nur Folgen einer jahrhundertelangen technischen Ausbeutung der Erde vorweg. Sie spricht auch zugleich ein Problem an, das uns in Zeiten der von Menschen beeinflussten oder gemachten globalen Erwärmung besonders betrifft. Es besteht darin, dass wir unser Handeln auf ein Individuum beziehen müssen, das nicht mit uns kommuniziert: »Que même les pierres crient de douleur face aux misères que les humaines leur ont faites«,[422] doch sie schreien nicht, sie bleiben stumm. Kann es einen »stummen Appell um Schonung«[423] geben? Hoffentlich.