Peter Sloterdijk schreibt einmal anlässlich eines Ausflugs ins Deutsche Literaturarchiv zu Marbach, als ihm ein Heidegger-Manuskript gezeigt wird: »Es ist berührend zu sehen, in welchem Maß Heidegger Denken und Schreiben gleichsetzte, ohne die Gleichung je zu bemerken.«[86] Sloterdijk hat recht, auf die Bedeutung des Schreibens in Heideggers Denken hinzuweisen.
Heidegger hat alles mit der Hand geschrieben, in deutscher Kurrentschrift; alles, sämtliche philosophischen Manuskripte und Briefe; bei 102 Bänden der Gesamtausgabe eine ungeheure Leistung, wahrlich eine Engführung von Denken und Schreiben. Und er sollte über sie nicht nachgedacht haben?
Das »Hand-werk der Schrift« sei »rar geworden«.[87] Um die Verbindung der Schrift mit der Hand geht es. Über die Hand hat Heidegger in einer Vorlesung im Winter 1942/43 gesprochen. Im Juli 1942 hatte Hitler den Angriff auf Stalingrad befohlen, am 23. August zerstört die deutsche Luftwaffe beinahe die ganze Stadt. Im November beginnt die Gegenoffensive der Roten Armee. Seit Anfang des Jahres war die sogenannte »Endlösung der Judenfrage« in Gang. Heidegger schreibt: »Durch die Hand geschieht zumal das Gebet und der Mord, der Gruß und der Dank, der Schwur und der Wink, aber auch das ›Werk‹ der Hand, das ›Handwerk‹ und das Gerät. Der Handschlag gründet den bündigen Bund. Die Hand löst aus das ›Werk‹ der Verwüstung.«[88] Welche Hand betet, mordet, grüßt oder dankt, wird nicht weiter ausgeführt. Zu Recht: Denn ein und dieselbe Hand hat all das allzu oft getan.
Auch die Handschrift wird erwähnt. Heidegger versteht sie vom Wort her: »Das Wort als die Schrift aber ist die Handschrift.«[89] Das Wort ist nicht immer schon Schrift. Es steht am Anfang. Von ihm her erhält alles seinen Sinn. »Nur aus dem Wort und mit dem Wort« sei »die Hand entsprungen«. Das ließe sich auf die banale Idee reduzieren, dass es ohne Sprache keine Hand gäbe – weil es ohne Sprache eben überhaupt nichts gibt. Doch Heidegger will auf etwas anderes hinaus.
»Das Wort als der Wesensbereich der Hand« sei »der Wesensgrund des Menschen«. Wenn sich in der Handschrift das Wort zeigt, dann erscheint in ihr zugleich der Mensch; nicht im Allgemeinen der Mensch, sondern der, der in der Handschrift den Grund seines Wesens erblickt. Zeige mir deine Handschrift, und ich sage dir, wer du bist … Klages Graphologie wurde weithin gelesen. Und warum auch nicht?
Das hat Folgen für die »Schreibmaschine« und so immerhin für Heideggers Bruder Fritz, der mit ihr sämtliche Manuskripte des berühmten Bruders abtippte. Eigentlich entreiße die »Schreibmaschine« »die Schrift dem Wesensbereich der Hand, und d.h. des Wortes«. Wo jedoch die »Maschinenschrift« »nur Abschrift« sei und »der Bewahrung der Schrift« diene oder »die Schrift an Stelle des ›Druckes‹« ersetze, da habe sie »ihre eigene und begrenzte Bedeutung«.[90] Gewiss, denn Heidegger brauchte seinen Bruder, brauchte ihn, um die Handschriften zu bewahren, um gegebenenfalls die Veröffentlichung im Druck zu ermöglichen.
Ansonsten sei die »Maschinenschrift« »sogar mit ein Hauptgrund für die zunehmende Zerstörung des Wortes«. Dann eben auch des Menschen. Der Gedanke bezieht sich auf Heideggers Denken der Technik. Für ihn ist sie »im Wesen« nichts, was zum Menschen gehört. Sie geschieht, der Mensch kann sich ihr unterwerfen oder sie auf Distanz halten. Ganz entziehen kann er sich nicht. Da sie mit den Maschinen über ihn kommt, findet ein Angriff statt. Das Wort und sein Mensch werden zerstört, weil es sich nicht mehr in der Handschrift zeigt.