Der berühmte Satz 7 aus Wittgensteins »Tractatus logico-philosophicus« lautet: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« Heidegger hat in seinem Handexemplar des »Tractatus« dazu notiert: »Darüber kann man auch nicht schweigen. Schweigen kann nur wer etwas zu sagen hat, wovon er sprechen kann.«[112] Ein seltsamer Kommentar, der die philosophische Tragweite des Satzes ignoriert. Dabei kommt sie Heidegger entgegen.
Wittgenstein möchte nicht behaupten, dass das, worüber man nicht sprechen kann, nichts gilt. Eine solche Interpretation macht aus dem Philosophen einen logischen Positivisten, der er nicht war. Der »Tractatus« will vielmehr sagen, dass sich das in Sätzen nicht sagen lässt, was keine »Tatsache« (oder kein »Sachverhalt«) im »logischen Raum« (1.13), d.h. in der Welt, sei: »Sätze können nichts Höheres ausdrücken.« (6.42) Das Höhere sei außerhalb der Welt. Daher lasse sich auch »die Ethik nicht aussprechen« (6.412).
Dass die Ethik etwa, weil nicht aussprechbar, unwichtig wäre, ist abwegig. Wittgenstein betont vielmehr: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (6.522) Heidegger hat auch diese Sätze gelesen. Dennoch kritisiert er Wittgenstein. Der Grund dafür hängt mit den wichtigsten philosophischen Entscheidungen zusammen, die Heidegger traf.
Die »ontologische Differenz«, die ihn seit »Sein und Zeit« beschäftigte, die aber schon im Spiel war, als er das Problem der Verdinglichung entdeckte, fordert ein besonderes Sprechen. Es muss etwas aussprechen, ohne dass dieses Etwas zu einem Gegenstand wird. Heidegger bezeichnet es in einem exoterischen Zusammenhang als »nichtobjektivierendes Sprechen«. Als Beispiel dient ihm die Dichtung, und zwar die Rilkes.
Er zitiert eine Zeile aus den »Sonetten an Orpheus«: »Gesang ist Dasein.« Dann fügt er hinzu: »In solchem Sagen wird nicht etwas gesetzt und vorgestellt als Gegenstand und Objekt.«[113] »Anwesendes« brauche nicht »Gegenstand zu werden«. Nun kann dagegen eingewendet werden, dass man sich unter Gesang durchaus etwas vorzustellen pflegt. Allerdings wird diese Vorstellung nicht gegen ein »Objekt empirisch« abgegolten. Aus der Sicht eines Positivisten wird man sagen können, dass sich unter Gesang eben jeder etwas anderes vorstellt.
Dass die Dichtung ein anderes als philosophisches Sprechen ist, wusste auch Wittgenstein: »Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefaßt zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten.«[114] Um das, was man gemäß dem »Tractatus« nur zeigen kann, auch auszusprechen, müsste man dichten können. Wittgenstein, der Trakl und Rilke Geld schenkt, weiß, dass er »nicht ganz kann, was er zu können wünscht«. Er ist kein Dichter.
Wittgenstein hat sich den Grenzen des philosophischen Ausdrucksvermögens gefügt. Für ihn war die Dichtung etwas anderes, jenseits der Philosophie. Er wusste allerdings, worum es in der Dichtung ging. Worüber er schwieg, war ihm also bewusst. Er achtete die Grenze zur Poesie, zu einem Sprechen, das keine »Tatsachen« enthielt; ein Sprechen, das er genau wie Heidegger für das höhere hielt.
Heidegger hingegen nahm die Herausforderung an. Auch er war kein Dichter und wollte auch keiner werden. Aber die Dichtung bot ihm das »Beispiel«. Sie erschien ihm als »nichtobjektivierendes Sprechen«. Es musste noch eines jenseits ihrer geben. Heideggers esoterisches Denken ist der Versuch, im Sprechen jeden Gegenstandsbezug, ja jede Gegenständlichkeit zu überwinden. Sowenig wie es Dichtung ist, ist es Philosophie. Auch Wittgenstein hätte das gesagt.