In den »Anmerkungen II«, einem »Schwarzen Heft« aus der Nachkriegszeit, findet sich der seltsame Eintrag:
»Der Mutter ist, der jungen Schnitterin des Lochbauernhofes, im Wesensbild des Kruges, der dem ›Unterschied‹ gehört, ein verschwiegen Denkmal des Denkens gesetzt, das sie in den Jahren der Entscheidung seines Weges mit Schmerzen frei gab.«[119]
Johanna Heidegger (geb. 1858) war eine katholische Frau. Man wird sagen können, dass sie ein gottgefälliges Leben zu führen versuchte und es darin wahrscheinlich zu einigem Erfolg brachte. Im Briefwechsel mit seinen Eltern war, wenn überhaupt, sie es, die dann und wann mit Briefen antwortete. Heidegger erscheint in diesen Briefen als der Sohn, Ehemann und Vater, der ebenso ein katholisches Leben zu führen versuchte. Etwaige Probleme in der Ehe mit Elfride durften den Eltern nicht bekannt werden.
Dennoch darf Heideggers Verhältnis zur katholischen Welt seiner Eltern nicht unterschätzt werden. Die »Auseinandersetzung mit dem Christentum« sei »auf diesem ganzen bisherigen Weg« – er notiert das Ende der dreißiger Jahre – mitgegangen. Sie sei »kein aufgegriffenes ›Problem‹«, »sondern Wahrung der eigensten Herkunft – des Elternhauses, der Heimat und der Jugend – und schmerzliche Ablösung davon in einem«.[120] Und dann eine weitere, sym-bio-graphische Bemerkung, die vom Wechselspiel zwischen Leben und Denken spricht: »Nur wer so verwurzelt war in einer wirklichen gelebten katholischen Welt, mag etwas von den Notwendigkeiten ahnen, die auf dem bisherigen Weg meines Fragens wie unterirdische Erdstöße wirkten.« Heidegger scheut offenbar davor zurück, sich als entwurzelt zu bezeichnen. Möglich, dass es andere Wurzeln als die einer »gelebten katholischen Welt« gibt. Doch so, wie diese »kein aufgegriffenes ›Problem‹« war, waren vielleicht andere Wurzeln eher solche der Luft …
Als 1927 »Sein und Zeit« erscheint, ist die Mutter bereits schwer erkrankt und hat nur noch ein paar Monate zu leben. Der Sohn möchte ihr das Buch dennoch zeigen, bemerkt aber am 17. März: »Zwar wirst Du darin nicht lesen können und dürfen. Aber Du sollst doch auch das Resultat meiner langjährigen Arbeit sehen.«[121] Dann, am 14. April, dankt er ihr für »Mutterliebe und Sorge«, »weil ich weiß, daß Liebe und Vertrauen dann noch größer sind, wenn wir nur lieben und vertrauen, ohne daß wir in allem verstehen warum«.[122] Das Buch sei »auch ein Stück Dein Werk. Und sollte es seine Aufgabe erfüllen, dann bleibt mit ihm auch die Erinnerung an die Mutter des Verfassers verknüpft.« Die Worte sind liebevoll. Die Hoffnung auf die Wirkung von »Sein und Zeit« hat sich erfüllt. Ich beschäftige mich mit Johanna Heidegger nur, weil ihr Sohn der berühmte Denker geworden ist.
Dennoch überrascht die Bemerkung, dass die Mutter das Werk zwar sehen, aber nicht »lesen könne und dürfe«. Vermutlich wird Heidegger an den Gesundheitszustand der beinahe Siebzigjährigen gedacht haben. Doch das Verbot der Lektüre verweist auch darauf, dass die Reaktion der Mutter verheerend ausgefallen wäre. Nicht nur, dass die Gottesfrage in »Sein und Zeit« methodisch ausgeklammert wird. Heidegger hätte über Gott nur philosophisch – eben als Frage – schreiben können. Zudem waren seine Ausführungen zum »Sein zum Tode« wenig geeignet, einer sterbenden Christin den Rücken zu stärken.
Nichts von dem aber bereitet darauf vor, in ihr das »Wesensbild des Kruges« zu sehen. Die für Heidegger typische Formulierung vom »Wesensbild« meint, dass sich im Krug das Wesen der Mutter als Bild vergegenwärtigt. Zugleich aber verweist er auf den Kontext des »Unterschieds«. Im selben »Schwarzen Heft« sagt Heidegger, dass er »keine Utopie« sei. Vielmehr sei er die »Topo-logie des Ereignisses der Enteignis«.[123] (Eine esoterische Redeweise, die in einer Übersetzung viel verliert: Warum überhaupt esoterisch sprechen, wenns sich auch exoterisch sagen lässt?) Der »Unterschied« ist, zu dieser Zeit des Heidegger’schen Denkens, die ungegenständliche Mitte, die alle Dinge und Menschen aufeinander bezieht. Das kann entweder so geschehen, dass Dinge und Menschen an einem Ort sind, an dem sie ihr Eigenes finden (»Ereignis«), oder so, dass sie an einem Ort sind, an dem sie es verlieren (»Enteignis«).
Wie kann das mit der Mutter verbunden werden? Heidegger weiß, dass Aristoteles den Ort (τόπος) als etwas wie ein Gefäß (ἀγγεῖον, Physik, 209b29) bezeichnet. Gefäß – umwandete Leere, in der eine Flüssigkeit aufbewahrt werden kann. Ort – der einem einen begrenzten Raum ermöglicht, an dem man zu leben vermag. Das wirft Licht auf eine andere Charakterisierung der Mutter: Sie sei die »junge Schnitterin des Lochbauernhofes«. Die Schnitterin ist ein Mäherin, d.h. eine Frau, die mit der Sense oder Sichel bei der Ernte aushilft. Die Arbeit ist hart. Erst mit der Heirat wird Johanna sie hinter sich gelassen haben.
Lochbauer ist ein in Deutschland nicht seltener Name (in Schwaben, aber auch in Sachsen), so dass der Hof des Lochbauers der Lochbauernhof ist. Vielleicht spielt dabei die Etymologie des Wortes »Loch« eine Rolle. Demnach hängt es mit dem verbum ahd. lûhhan, liohhan, mhd. nhd. liechen, d.h. schließen, zusammen. Das Loch wäre dann womöglich der Abschluss eines Weges, der Lochbauernhof ein Anwesen als Ziel und Ende eines Weges, ein Ort eben.
Dann wird die Mutter zur Erinnerung eines Ortes. Daran hat Heidegger in anderen, früheren »Schwarzen Heften« angeknüpft, so z.B. als er sich einer Bestimmung des Begriffs der Bodenständigkeit annähert. »Boden-ständig« sei, »wer aus Boden herkommend, in ihm genährt auf ihm« stehe. Dies sei »das ursprüngliche«, was ihm »oft durch Leib und Stimmung« schwinge, als ginge er »über die Acker am Pflug, über einsame Feldwege zwischen reifendem Korn, durch die Winde und Nebel, Sonne und Schnee, die der Mutter Blut und das ihrer Vorfahren im Kreisen und Schwingen hielten …«[124] Die Äußerung stammt vom Beginn der dreißiger Jahre und atmet Zeitkolorit; sie verbindet die Mutter nicht nur mit einem Ort, sondern mit der Erde schlechthin, mit der familiären Herkunft, die »der Mutter Blut« genannt wird. Ist es bemerkenswert, dass Heidegger sich beim Blut nicht am sogenannten Stammhalter orientiert, sondern ans Mutter-Blut denkt?
Der Ort seiner Mutter erscheint in noch einer anderen Formulierung. Er bemerkt, wie häufiger nach 1934, dass er sich bei den Alemannen, »am Oberrhein«, er meint Freiburg, nicht zu Hause fühle. Seine »Heimat«, das »Dorf und der Hof« seiner »Mutter«, sei »ganz durchweht von Lüften und durchströmt von den Quellen Hölderlins«. Es habe »durchaus die Härte und Prägsamkeit und Abgründigkeit des Hegelschen Begriffes« und sei »durchwaltet von jenem weit sich vorwagenden »spekulativen« Drang Schellings«.[125] Die Mutter kam wie die drei Genannten aus Schwaben. Dass sich Heidegger zur schwäbischen Troika hingezogen fühlte, darf bei einem schwäbischen Philosophen nicht überraschen. Allerdings gehört die Differenzierung der Herkünfte ins Alemannische und Schwäbische in eine Zeit, in der die deutsche Reichsgründung von 1871 in weiter Ferne lag. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass solche Unterschiede noch heute eine gewisse Popularität haben. Nach ihnen ist es keineswegs gleichgültig, ob man aus dem Holsteinischen oder dem Fränkischen stammt.
Die Mutter ist Ort der Herkunft, ein Gefäß, das Heidegger in einen Krug verwandelt. Der Krug verkörpert den »Unterschied«, diese auseinanderklaffende Leere (Loch), an der das »Ereignis der Enteignis« geschehen kann. Gibt es bei alldem ein ödipales Element? Viele Briefe an Elfride unterschreibt Martin: »Innigst küßt Dich Dein froher Bub.«[126] Es bleibt Unverstandenes – was der Mutter-Krug ist, lässt sich nicht erkennen …