Die Pointe von Donatella Di Cesares Begriff des »metaphysischen Antisemitismus«[133] bei Heidegger ist die, dass es in der Seinsgeschichte eigentlich keinen Antisemitismus geben könne. Weil das seinsgeschichtliche Denken die Metaphysik hinter sich gelassen habe, habe es auch die Identitätsfixierungen, die Heidegger in den antisemitischen Passagen der »Schwarzen Hefte« verwendet, überwunden. So hält Di Cesare das seinsgeschichtliche Denken für geeignet, zur Deutung der Shoah beizutragen, weil es die Grenze zur Metaphysik markiert. Die Shoah sei eben ein Ereignis der Metaphysik.
Um so über die Metaphysik zu sprechen, muss sich der Sprechende außerhalb ihrer befinden. Befinden wir uns außerhalb der Metaphysik? Versuche, das zu durchdenken, hat es nach Heidegger einige gegeben. Neben der kontinentalen Philosophietradition, die bei diesem Problem größtenteils von Heideggers »Überwindung der Metaphysik« ausgeht, gibt es noch eine analytische, die seit Wittgenstein ebenfalls die Metaphysik verlassen habe. Da Di Cesare ausdrücklich bemerkt, sie würde von Heideggers seinsgeschichtlichem Denken aus die Shoah deuten wollen, scheint sie sich zu einem Metaphysik-Verständnis in genau diesem Kontext zu bekennen.
Die Metaphysik ist aber nicht einfach das Andere zum seinsgeschichtlichen Denken, sondern nur sie selbst innerhalb diesem. Metaphysik, wie Heidegger sie thematisiert, gibt es nämlich nur hier – als großes Kapitel des seinsgeschichtlichen Narrativs von einem vormetaphysischen Anfang, der zur Metaphysik verfällt, um zuletzt als anderer Anfang von ihr sich wieder abzusetzen. Die Interpretation der Metaphysik ist demnach selbst eine seinsgeschichtliche. Zu meinen, dass Heidegger dabei die Grenze zwischen einem metaphysischen und nachmetaphysischen Bereich des Denkens aufmerksam eingehalten hätte, ist problematisch.
Vielleicht haben Interpreten dieses Denkens wie z.B. Jacques Derrida diese Grenze zu sehr betont: um gleich zu zeigen, wie Heidegger hinter sich selbst zurückgefallen sei.[134] So vorzugehen ist, aus Derridas Perspektive betrachtet, berechtigt. Für ein Denken, das den Übergang von der Metaphysik zur Seinsgeschichte nicht für eine scharf gezogene Grenze hält, gerät sie leicht zu schematisch. Heidegger selbst hat da und dort gespürt, wie wenig befriedigend eine Interpretation ist, die Nietzsche als letzten metaphysischen Philosophen darstellt.[135]
Im Rahmen der Argumente, die in der Diskussion eine Rolle spielen, scheint mir der »metaphysische Antisemitismus« deshalb ein »seinsgeschichtlicher« zu sein, weil bei Heidegger alles Metaphysische aus einer seinsgeschichtlichen Betrachtung stammt. Metaphysik heißt für ihn seinsgeschichtliche Metaphysik. – Ich gebe zu, dass Differenzierungen wie diese rein scholastischen Charakter haben. Der Antisemitismus in Heideggers »Schwarzen Heften« von 1938 bis 1946 bleibt schmerzhaft, weil er eine Spur des »banalen Bösen« (Arendt) ist, das Millionen von Männern, Frauen und Kinder getötet hat; bleibt schmerzhaft, weil immer noch Juden aus antisemitischem Hass gemordet werden.