»Schrift – ist sie verstummte oder schweigende Sprache?«,[206] fragt Heidegger einmal. Das ist in seinem Fall eine besondere Frage. Denn er war ohne Zweifel ein vom Schreiben und der Schrift Besessener. Und Schrift, das hieß für Heidegger zunächst – Handschrift, sowie das, was diese Handschrift schuf, das Manuskript.
Was ist ein Manuskript? Ist es eine Vorarbeit für den Satz und Druck? Oder ist der Satz und der Druck ein Abfallprodukt der Handschrift? Kann ein Manuskript als solches in der Philosophie überhaupt Bedeutung beanspruchen? Wie weit oder kurz ist der Weg von der Handschrift zum Kunsthandwerk? Oder geht es doch um Kunst?
Eine besondere Ausarbeitung hat das Manuskript der »Beiträge zur Philosophie« erfahren. Es liegt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und ist, da es in der Gesamtausgabe bereits publiziert wurde, der Öffentlichkeit zugänglich. Heidegger hat es zu »Weihnachten 1957« Dory Vietta geschenkt. Dazu hat er der Handschrift eine besondere Ausstattung zukommen lassen.
Abb. 2a und b: Das Manuskript der »Beiträge zur Philosophie« C© DLA Marbach)
Das Format der Handschrift von 1936/37 ist durchgängig DIN A5. Die einzelnen Kapitel des Werks bilden Konvolute, die Heidegger mit den jeweiligen Überschriften klar gekennzeichnet hat. Wie bekannt, hat der Herausgeber die Reihenfolge der Kapitel für die Veröffentlichung am Ende der Handschrift verändert. Das Manuskript hat keinen Skizzencharakter. Im Gegenteil: Es ist geradezu kalligraphisch klar in deutscher Kurrentschrift verfasst.
Das Besondere besteht darin, dass Heidegger für das Manuskript zwei Behältnisse hat herstellen lassen. Es befindet sich in zwei aus stabiler, in Leinen eingeschlagener Presspappe bestehenden Kästen. Der eine ist dunkelblau, der andere marmoriert grau. Wenn sie geschlossen vor einem auf dem Tisch liegen, weist im Grunde nichts darauf hin, dass sie ein Manuskript enthalten. Sie erscheinen als zwei Behälter, die einen Inhalt verbergen.
Indem man sie öffnet, wird das Verborgene sichtbar. Auf der einen Ansammlung von Manuskriptblättern erscheint der Titel: »Beiträge zur Philosophie/(Vom Ereignis)/1936/37«, auf der anderen: »Zuspiel/vgl. dazu S. S. 37 Übungen/W. S. 37/8 Die metaphys. Grundstellungen der abendländischen Metaphysik/alle geschichtlichen Vorlesungen«.
Mit anderen Worten: Die Behälter gleichen einem Schrein, der eine Schrift verbirgt und enthüllt. Doch es ist ein nüchterner Schrein. Nichts erinnert an einen Buchschmuck, wie wir ihn z.B. von Henry van de Veldes Prachtgestaltung (1908) des »Also sprach Zarathustra« kennen; sie macht das Werk zu einem heiligen Buch, dazu geschaffen, von einer Kanzel herab verlesen zu werden. Wenn auch das Schreinhafte am Manuskript der »Beiträge zur Philosophie« an ein religiöses Ritual denken lässt, wird es in der Schlichtheit der Kästen eindrucksvoll zurückgenommen.
Sie verwandeln die Handschrift tatsächlich zu einer »schweigenden Sprache«. Der Schrein verkörpert geradezu diese Schweigsamkeit. Dabei denke ich nicht daran, dass seine Öffnung das Schweigen bricht. Im Gegenteil: Die Präsentation des Manuskripts lässt die »schweigende Sprache« erst erscheinen.
Übrigens ist nicht bekannt, wer diese Behältnisse anfertigen ließ. Im Nachlass Hartmut Buchners, aus dem dieses Manuskript der »Beiträge« stammt, befindet sich noch ein weiteres Manuskript aus vorherigem Besitz von Dory Vietta.
Es befindet sich in einer ähnlichen Box, die dieses Mal rot ist. Da von Heidegger keine Bemerkung dazu überliefert ist, könnten die Behältnisse also auch von Buchner oder Vietta kommen. Ich gehe jedoch davon aus, dass sie von Heidegger selbst stammen.
Schwer zu sagen, ob eine solche Gestaltung des Manuskripts den Inhalt berührt, ob sie irgendwie zu ihm gehört? Wahrscheinlich läge ihr Sinn darin, dass die darin implizierte Unterscheidung von Form und Inhalt mindestens dialektisch verstanden werden, wenn nicht überhaupt fallengelassen werden müsste. Dann könnte der Schrein eine Verdeutlichung dessen sein, was ein Manuskript ist: die Enthüllung einer Schrift, die verhüllt, die in unendlichen Interpretationen doch niemals endgültig verstanden sein wird.