Eine esoterische Theologie kann es eigentlich nicht geben, jedenfalls wenn man die Theologie als Rationalisierung eines geoffenbarten Textes versteht. In solcher Rationalisierung wird der Text nicht selbst vollkommen rationalisiert, doch die Bedingungen und Voraussetzungen, aus und auf denen er entstanden ist. Der Glaube bleibt der einzige Zugang zu Gott, doch der theologische Diskurs orientiert sich formal an rationalen Kriterien.

Heidegger bezeichnet die Theologie als »positive Wissenschaft«.[226] Dabei ist es ganz gleich, was das Positum dieser Wissenschaft ist. Dass es überhaupt ein solches gibt, treibt einen Keil zwischen Theologie und Philosophie. Sie, die Philosophie, weiß nicht, was ihr Positum ist, sie weiß nicht, ob sie überhaupt eines hat. Beiden schreibt Heidegger ins Stammbuch, dass sie ein »nichtobjektivierendes Sprechen«[227] einüben müssen. Das gebe es besonders in der Dichtung.

Heideggers eigenes Denken des Göttlichen geht viele Wege. Er, der aus einer katholischen Welt stammt und daher ein Leben in religiösem Fluidum kennt, spricht im Anschluss an Hölderlin von einem »letzten Gott«, einer eschatologischen Gestalt, die im »Ereignis« eine zentrale Rolle übernimmt. Was in den »Beiträgen zur Philosophie« über sie gesagt wird, adressiert sich an die »Wenigen«. Kein Wunder, für irgendwie christlich Lebende muss die Rede von einem Gott, der nicht der ihrer Kirche ist, phantastisch klingen.

Im esoterischen Manuskript der Anmerkungen IX macht Heidegger einen anderen Versuch. Dort heißt es zunächst: »Der Gott im Weltalter des Ereignisses: Ἀλήθεια: die Göttin.«[228] Offenbar knüpft er einerseits an die Bruchstücke des

Andererseits betont Heidegger, dass »im Weltalter des Ereignisses« (?) von dem Gott die Rede sei, der nun aber eben eine Göttin sei. Heidegger wiederholt die Formulierung: »Der Gott ist: die Göttin.« Es ist unübersehbar, dass es um das Genus, das Geschlecht, geht; allerdings auf scheinbar paradoxe Weise, denn wie kann Männliches Weibliches sein? Heidegger erläutert:

»Das ›ist‹ wird hier gedacht aus dem Ereignis des Ver-Hältnisses, das den Unter-Schied für das Geviert und die Dinge, das Zwischen, aus dem sie als dem Geläut der Stille wesen, an sich hält, zögernd verwahrt aus der Zögerung, die sich in der Verweigerung der Zögerin ereignet, die das reine Schenken der Scheu ist und sich so in das Ewige hält, d.h. hütet und hütend die Hut mehrt und aus der sich mehrenden Hut die innigere Scheu verschenkt. Dieses Hereinblicken und Erblitzen der Ankunft des Nie-Kommens ist das Ereignis des Bräutlichen schlechthin, ist das Wesende der Braut, ist die Göttin (θέα – θεός).«[229]

Im Mysterienspiel von Heideggers Denken soll das Göttliche »aus dem Ereignis des Ver-Hältnisses, das den Unter-Schied […] an sich hält«, verstanden werden. Zu diesem »Unter-Schied« scheint der Denker hier auch das Geschlecht des Göttlichen zu zählen, so als ob dieses notwendig geschlechtlich verstanden werden müsse. Er spricht jedenfalls von einer »Braut«, der »Zögerin«, ihrer »Verweigerung«, ihrem »Nie-Kommen«, das als das »Ereignis des Bräutlichen schlechthin« bezeichnet wird.

Geht es also um den Hieros Gamos, die Heilige Hochzeit

Heidegger fügt hinzu: »Zu sagen bleibt: die Göttin ist der Gott. Sie überneigt das Wesen der Gottheit und durchmißt die weiteste Weite der Nähe.«[231] Dem Männlichen wird die Herrschaft über das Weibliche aus der Hand geschlagen. Ihm kommt kein Primat zu. Überhaupt ist die Verwendung des identifizierenden »ist« bemerkenswert. Das Männliche ist das Weibliche, das Weibliche das Männliche. Dass Heidegger dem Weiblichen klassische Attribute zuordnet (»Hut«, »Scheu« etc.), ist unübersehbar.

»Verweigerung« und »Nie-Kommen« sind in diesem Kontext ungewöhnliche, aber nicht überraschende Eigenschaften der göttlichen Braut. Ungewöhnlich sind sie, weil die hochzeitliche Begegnung das Gegenteil vorauszusetzen scheint: Die Vereinigung ereignet sich. Wenig überraschend sind sie dennoch, weil eine spezifische (erotische) Sicht des Weiblichen den Entzug und die Verbergung betont. Verführung scheint im Großen und Ganzen darin zu bestehen, dass die Hingabe durch Entzug gesteigert wird – denkt ein Mann.

Der »Unter-Schied« differenziert, und er differenziert alles. Das gilt für die Differenz zwischen Göttlichem und Menschlichem. Anscheinend aber gilt es auch für die Differenz des Geschlechts. So wie das Lebendige von der Geschlechterdifferenz betroffen ist, so anscheinend auch das Göttliche. Das ist kein ungewöhnlicher Gedanke.

Gibt es einen deutlicheren Hinweis auf die Mächtigkeit des Geschlechterunterschieds als den, dass selbst Götter (Gott) von ihm betroffen sind (ist)? Nur diese Macht kann die Rolle der Keuschheit in Religionen erklären. Zwar wird sie im Christentum als Gegenmittel zur paradiesischen Erbsünde begründet. Doch indem Gott »Vater« und »Sohn« ist, kann selbst ihm die Geschlechtlichkeit nicht abgesprochen werden. Die Menschwerdung steigert das Ganze. Das Geschlecht wird sichtbar.

Im Zeitalter der Ablösung des Sexus durch den demonstrativ artikellos verwendeten Begriff Gender ist die Zuschreibung der sexuellen Konnotationen des Männlichen und Weiblichen ein alter Hut. Das Geschlecht ist nicht mehr unter-, sondern verschieden. Der Gegensatz von Mann und Frau ist nur noch eine seiner Möglichkeiten. Das Geschlecht öffnet sich dem weiten Feld der Performanz. Zudem erscheint die Einführung des Geschlechts ins Göttliche ohnehin als Anthropomorphismus. Das Göttliche hat kein Geschlecht. Oder?