Das Denken eines Philosophen wird performativ, wenn es sich im Denker verkörpert. Es geht dann nicht mehr nur darum, was er zu jenem oder diesem Problem zu sagen hat. Vielmehr wird Denken selbst zu einem. Es wird zur Problem-Handlung, in der sich ein Denker zeigt. Das ist es, was sich in Heideggers Philosophie darstellt: dass es nicht nur um das Gedachte, sondern auch und vor allem ums Denken geht.
Ein Hintergrund des Performativen ist das Ritual, die Zusammenführung von Wort und Gebärde, von Gesagtem und Getanem. Fritz Heidegger hat einmal in einem Brief über seinen Bruder geschrieben: »Wer Martin nicht als in der Meßkircher Sakristei aufgewachsenen Mesnerbuben kennt, hat seine Philosophie nicht begriffen, wenn auch der äußere Anschein oft anders aussieht; ich glaube gerade bei Martin an das Walten der Vorsehung und an das Weben des Hl. Geistes in der beständigen Nähe des Abgrundes«;[17] eine erstaunlich katholische Äußerung, die sich allerdings daraus erklären lässt, dass der Briefempfänger katholischer Pfarrer ist.
Judith Butler meint, dass Performativität »in erster Linie die Eigenschaft sprachlicher Äußerungen« bezeichne, »durch die im Moment des Äußerns etwas geschieht oder ins Leben gerufen wird«.[18] Wenn ich rufe: »Nieder mit T.!«, dann verstehe ich diesen Appell als Aufforderung, die Herrschaft von T. zu beenden. Vor allem: Der Appell erscheint als eine Handlung, mit der ich mich in besonderer Situation gegen etwas einsetze. Nicht nur im Politischen, sondern gerade beim religiösen Ritual, in der Liturgie, spielen solche Formulierungen die größte Rolle.
Erinnern wir uns! Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebt der junge Martin Heidegger in einer katholischen Welt. Glocken rufen zur Messe: Leib wird Brot, Blut wird Wein. Der Theologiestudent wird Bücher lesen, die ihn aufwühlen: Friedrich Nietzsche spricht vom Tod Gottes, Søren Kierkegaards und Fjodor Dostojewskis Werke lassen zerquälte Seelen zum ersten Mal in deutscher Übersetzung sprechen, und die wichtigen Dichter sind Rilke und George. Dann bricht der Große Krieg aus.
Damals erschien auch schon Hölderlin, der später zum Dichter-Giganten anwachsen wird. Er spricht von »Göttern«; Nietzsche, Rilke und George auch. Heidegger übernimmts, verwandelt das Ganze aber sehr eigenständig. Das ist auch deshalb zu sagen, weil es in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht ungewöhnlich war, von Göttern zu plappern. Walter F. Ottos »Die Götter Griechenlands«[19] von 1929 war eine Art Bestseller.
Für das »Weben des Hl. Geistes« ist das kein Problem. Der Katholizismus hatte es mit vielen Götter-Kröten zu tun, die sich als durchaus verdaulich erwiesen. Man errichtete die Kirche dann einfach auf den Säulen des zerstörten Tempels. Doch es ging auch anders. Noch Schelling kümmerte sich sehr um die Beziehung Dionysos/Jesus Christus, im Rückblick auf die »Dionysiaka« des Nonnos aus dem 5. Jahrhundert. In diesem Epos trägt Dionysos sozusagen das Kreuz. Max Klinger hat solche Spät-Gedanken zum Anlass seines »Christus im Olymp« genommen, an dem er sage und schreibe von 1889 bis 1897 malte, übrigens die ersten acht Lebensjahre des kleinen Martin.
Und dennoch spricht Heidegger – am Ende einer langen Reihe von schärfsten Angriffen auf die katholische Kirche – von seinem »Anti-Christentum«. Er habe nicht die »Gnade«.[20] Könnte sein, dass er dabei auch an seine erotischen Verhältnisse dachte. Aber die katholische Dialektik ist schlau. Wer hätte nicht die Gnade als gerade der, der verneint, sie zu haben? Der in Sack und Asche geht? Heideggers Denken über die Götter beansprucht überall einen so spirituellen Ernst, dass liberale oder auch nur leicht enttäuschte Christen diesen Ernst ernster nehmen können als die erschöpften akademischen Versuche der Theologen.
Doch angesichts der Äußerung von Fritz Heidegger scheint mir keineswegs Heideggers religiöse Orientierung auf dem Spiel zu stehen, sondern eher das, was er als Mesnerbube in der Stadtpfarrkirche Sankt Martin zu sehen und zu hören bekam. Sowohl als Ministrant am Altar als auch als »Läuterbube«[21] im Chorgestühl hat Heidegger erfahren, wie große Worte und große Gesten zu einem einzigen großen Sinn verbunden wurden: »Hoc est enim corpus meum … Hic est enim calix sanguinis mei …« Und das Brot wandelte sich zum Leib Christi, der Wein zum Blut. Sehet das Wunder der Wandlung!
Das konnte nicht auf einen Gedanken oder eine Erkenntnis reduziert werden. Worte wurden durch Handlungen verkörpert, erlangten im Gesehenen und Gehörten erstaunliche Sinnlichkeit. Das ist es, woran man sich erinnern muss, wenn man Heideggers Denken, das zuletzt nichts anderes mehr sein will als die Handlung des Denkens selbst, verstehen möchte. Wenn Löwith von Heideggers philosophischen Zauberkünsten berichtet, dann bezeugt der Bruder Fritz, wo Heidegger diese Künste lernte.