Die Geschichte von Heideggers Gesamtausgabe muss noch erzählt werden. Sie bietet neben den historischen Fakten ein Epos der Begegnung von unterschiedlichen Personen, die an der Entstehung dieses Großwerks beteiligt waren und sind. Noch wichtiger ist, dass Heidegger selber es von Anfang an als einen Anschlag auf die akademische Philologie plante.

Er hatte zunächst starke Bedenken gegen das Projekt. Noch am 11. April 1972 schreibt er an den Verleger Vittorio Klostermann: »Leider kann ich Ihrem Wunsch, eine Gesamtausgabe meiner Arbeiten herauszubringen, nicht zustimmen. Es würde nicht dem Stil meiner Denkweise entsprechen.«[22] Der Stil seines Denkens ist ohne Zweifel einer, der in Werken fixiert nicht nur verschwindet, sondern sich dabei in etwas ihm Widerstrebendes, nämlich Gegenständliches, verwandelt. Heideggers Denken hat – obwohl oft komponierend – nichts Werkhaftes, es verliert, wenn es zu einem Ding wird.

Wenige Zeit später hat Heideggers Einstellung sich gewandelt. Hermann Heidegger berichtet, die Möglichkeit eines totalen Verlustes der Manuskripte in einem Atomkrieg habe ihn umgestimmt. Er hatte sich aber auch darüber Gedanken gemacht, wie eine Gesamtausgabe dem Stil seiner Denkweise entgegenkommen könnte. Sie solle »auf verschiedene Weisen zeigen: ein Unterwegs im Wegfeld des sich wandelnden Fragens der mehrdeutigen Seinsfrage«.[23] Sie sollte die Verwandlungen des Denkens darstellen, sollte seine Bewegung deutlich werden lassen. Doch wie sie das tun sollte, das hatte Heidegger in den wenigen (veröffentlichten) Bemerkungen nicht mehr angegeben.

Es fehlten noch zwei weitere. Wahrscheinlich hatte Heidegger sie noch selbst geplant. Die dritte Abteilung enthält die sogenannten »seinsgeschichtlichen Abhandlungen«, darunter die lang vor ihrer Veröffentlichung im Jahr 1989 unter Heidegger-Vertrauten kursierenden »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«. Der vierte Bereich des »Wegfelds« ist der heterogenste. Neben den Seminaren und einer Briefauswahl enthält er als die letzten neun Bände die sogenannten »Schwarzen Hefte«. Dass sie zuletzt erscheinen mussten, soll Heidegger noch mündlich bestimmt haben.

Die Manuskriptlandschaft erhält dadurch eine Ordnung. Sie verfolgt eine stufenweise Vertiefung des Denkens von exoterischen Werken der Veröffentlichungen und Vorlesungen zu den schon sich an die »Wenigen« und »Seltenen« wendenden »seinsgeschichtlichen Abhandlungen«. Dann geht es weiter zu den eigentlich esoterischen Texten der »Schwarzen Hefte«.[24] Der Abstieg von der exoterischen in die esoterische Sphäre orientiert sich am eigentlichen Problem dieses Denkens: der Entdeckung und Entfaltung einer nicht verdinglichenden Sprache. Nur ihr konnte es gelingen, das Nicht-Ding »Sein« an- und vielleicht auszusprechen. In den »Schwarzen Heften« ist Heidegger dieser Sprache am nächsten gekommen.

Auf dem »Wegfeld« entspricht dem Abstieg ein Aufstieg.

Bei einem solchen Aufbau der Gesamtausgabe muss der Heidegger-Leser wissen, auf welcher Stufe er sich befindet. Er muss überhaupt die Spannung zwischen den esoterischen und exoterischen Manuskripten im Auge behalten, um vorschnelle Dogmatisierungen in seinen Lektüren zu vermeiden. Das Dogma ist bei diesem »sich wandelnden Fragen der mehrdeutigen Seinsfrage« ohnehin ein Missverständnis. Die Lehre von Heideggers Denken besteht in der Einsicht seiner Wandlungen. Wer das verstanden hat, weiß, dass der Philosoph kein Lehrer von Gedanken, sondern des Denkens ist.