Heideggers Marx

Ich bezweifle, dass es einen Heideggero-Marxismus – also eine sinnvolle Verbindung Heidegger’scher und Marx’scher Gedanken – geben kann. Die Unterschiede in den theoretischen Fundamenten sowie in den leitenden Absichten der philosophischen Entscheidungen sind zu groß. Das lässt sich Heideggers Marx-Auslegungen entnehmen. Dass er sich 1933 dem antimarxistischen Nationalsozialismus anschloss, spielt dabei nicht die Hauptrolle.

Einmal bezeichnet Heidegger das Proletariat als absolute »Subjektität« der Technik und daher die »Objektität« als Herrschaft über den Planeten. Welt werde von Marx als Totalität der Erdherrschaft verstanden; die Erde ist einziger Rohstofflieferant und trägt den Menschen als Arbeiter. [278]

Die Interpretationsrichtung ist klar. Heidegger liest Marx als eine wichtige Affirmation der Entstehung des »Ge-Stells«, gleichsam als einen entscheidenden Abschnitt seiner Vorgeschichte. In dieser Sicht kann Marx das »Sein« nur als »Subjektivität« verstehen. In der Mitte des Marx’schen Denkens steht der Mensch – und nur der Mensch. Und er wird in seinen grundlegenden Eigenschaften als »Proletarier« bezeichnet.

Nach Marx befindet sich der Mensch in der Natur. Er unterliegt ihr, indem seine Naturbestimmung die Arbeit ist. Alles sei da Material der Bearbeitung, alles sei Arbeit, Produktion, Befriedigung der Bedürfnisse. Um der Befriedigung der Bedürfnisse willen ist der Mensch ein Wesen der Gesellschaft. Welt reduziert sich auf ökonomische Planung. Ein Moment des Seins wird zum Ganzen erklärt.

Heidegger liest Marx keineswegs – wenn überhaupt – als einen Beschreiber, einen Theoretiker der Wirklichkeit. Im Gegenteil: Der »›Kommunismus‹« sammle nicht »die vermeintlich an sich schon vorhandenen ›Proletariar aller Länder‹«, sondern er versetze »allererst ein Menschentum in das ›Proletariat‹«.[279] Dieser Gedanke, der als eine implizite Antwort auf die elfte Feuerbach-These verstanden werden kann, ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Das Proletariat war auch zu Marx’ Zeiten keineswegs eine vorhandene Klasse. Sie sollte von ihm vielmehr erst geschaffen werden.

Das scheint Marx einmal selbst zuzugeben. In einem Aufsatz aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern heißt es:

Das soll das »Manifest der Kommunistischen Partei« leisten. Hatte Marx mit dem Appell: »Proletariar aller Länder, vereinigt Euch!«, nicht selbst eingeräumt, dass das Proletariat noch gar nicht existierte? Im wörtlichen Sinne nicht. Und es bleibt bemerkenswert, dass der Appell gleichsam bis heute uneingelöst blieb. Cum grano salis ist es nicht die Frage, ob es aktuell ein Proletariat gibt, sondern ob es den Proletarier jemals gegeben hat. Und was, wenn Marx die Frage kannte? Wenn er meinte, dass das »Proletariat« noch kommen muss?

Heidegger glaubte, mit dem Narrativ seiner Seinsgeschichte, die im Kapitel der »Machenschaft« bzw. des »Ge-Stells« endet, Marx übertroffen, wenn nicht überwunden zu haben. Denn die Notwendigkeit der Produktion und der damit verbundene ständige Fortschritt der Produktionsmittel blieb für Marx ein unhinterfragtes Element der Revolution; für ihn war klar, dass das Wohl des Menschen in seinem Verhältnis zur Natur bestand. Von dieser Bedürftigkeit, die Natur (und so sich selbst) bearbeiten zu müssen, ging er aus. Dazu braucht man Technik.

Für Heidegger ist der Mensch keineswegs das »arbeitende Tier«; eine Formulierung, die in Hannah Arendts »animal laborans«[281] einen Nachhall findet. Das »Dasein« existiert in der »Sorge«; gewiss, doch diese »Sorge« kennt keine unmittelbar körperlichen Bedürfnisse. Überhaupt ist für Heidegger der Körper Verfallsphänomen des Leibes. Er erinnert an

Der Abgrund zwischen Heideggers und Marx’ Denken ist die Wirklichkeit und ihr Verständnis. Marx sah im techno-ökonomisch-medialen Apparat – in Produktion und Kapital – die natürliche Wirklichkeit des arbeitenden Lebewesens ›Mensch‹. Heidegger sah im Apparat der technischen Wirklichkeit eine historische Möglichkeit des »Seins-Geschicks«. Für ihn kann es eine natürliche Wirklichkeit nicht geben. Für Marx ist das Reden von einem »Geschick des Seins« unsinnig. Wie kann eine Philosophie nur in der Wirklichkeit sein, eine andere nie? Vielleicht treffen sich Marx und Heidegger darin am meisten, dass ihr Denken keine Philosophie mehr sein will.