Hannahs Güte

Ich habe in meinem Buch über »Heidegger und den Mythos der jüdischen Weltverschwörung« darüber nachgedacht, ob nicht Hannah Arendt nach ihrer Rückkehr nach Deutschland und zu Heidegger 1950 ihren (ehemaligen) Geliebten auf die Shoah und die mit ihr verbundene Verantwortung hingewiesen haben muss.[289] Ist es denkbar, dass sie nach der Wiederbegegnung einfach davon geschwiegen, es ignoriert

Es gibt einen Brief von Martin an Hannah, einen Briefanfang, der einer genaueren Interpretation bedürfte. Er stammt vom 15. Februar 1950 und beginnt: »Hannah, Hören befreit. Daß Du der Stimme folgtest, löst alles ins Gute und verschenkt die neue Gewähr der retractatio.«[290] Das lateinische Substantiv retractatio vom Verb retractare heißt zunächst: zurückziehen, widerrufen. Es kann aber auch wieder vornehmen oder einfach überarbeiten und verbessern bedeuten. Die retractatio eines Philosophen ist beides, Überarbeitung als Widerruf des früher Gedachten. So versteht man die retractationes des Augustinus.

Klar, Heidegger könnte einfach an sein Leben, die Liebe, die Ehe mit Elfride gedacht haben. Dann wäre sie der Widerruf und die Überarbeitung einer einst getroffenen Entscheidung für Elfride. Doch der Fortgang des Briefes spricht gegen diese naheliegende Interpretation: »Das Gute bedarf der Güte des Herzens, die sieht, weil sie schon alles ab-gesehen hat auf die Rettung des Menschen in sein Wesen […].« Diese Güte scheint Hannah Martin erwiesen zu haben.

Denn sie hatte offenbar keine Rachegedanken oder -gefühle gegen ihn, gegen die Deutschen im Allgemeinen. Wie es seine Art ist, wendet er das Ganze ins Philosophische. »Retten« heiße nicht nur, jemanden einer Gefahr zu »entreißen, sondern im vorhinein freimachen ins Wesen«. Das nennt er dann eine »unendliche Absicht«, die aber zugleich die »Endlichkeit des Menschen« sei. Und dann schreibt er: »Aus ihr vermag er den Geist der Rache zu verwinden.«

Es ist ein schöner Gedanke, dass sich der endliche Mensch schon allein deshalb für die Güte und gegen die Rache entscheidet, weil er sich in seiner Endlichkeit mit allen anderen

Auch ohne das manchmal wie an den Haaren herbeigezogene Brimborium des »Seyns« kann behauptet werden, dass »die Gerechtigkeit keine Funktion der Macht, sondern der Strahl der rettenden Güte« sei. Ich schreibe »kann«, weil die Gerechtigkeit als »Strahl der rettenden Güte« schnell in die Nähe zur Liebe rutscht. Und sind Gerechtigkeit und Liebe dasselbe? Ist das Vergelten nicht doch ein Moment des Gerechten?

Auch diese »›Gerechtigkeit‹« kennt Heidegger: »Was ist es, das sie so nennen und ausrufen? Nur der überanstrengte Kampf der schlechten Verheimlichung einer ratlosen Rache.«[291] »Sie«, das sind in dieser Aufzeichnung ohne Zweifel die Siegermächte, die Amerikaner und Sowjets, denen Heidegger unterstellte, die Deutschen und mehr noch ihr Deutsches auslöschen zu wollen. Hannah Arendt zählt nicht zu ihnen.

Hatte sie Heidegger zu einer retractatio bewegt, gütig, jenseits der Rache? Schwer wiegt, dass die Formulierung vom »Geist der Rache« auf einen Nietzsche zurückgeht, der den Ursprung einer solchen Moral ins Judentum verlegt. Da mag es so aussehen, als habe Hannahs Güte das starre Gesetz der Juden gegen die Liebe der Christen getauscht. Wie so häufig in jenen Jahren der Postapokalypse waren die Motive zu einem neuen Gespräch noch verbunden mit Motiven, die das Gespräch ein paar Jahre früher zerstörten; ein Gespräch, das ohnehin vielleicht niemals stattgefunden hatte.

Möglich, dass – wie so oft – auch hier, in der Vermutung, Hannah könnte Martin zum stillschweigenden Widerruf seiner kruden Äußerungen übers »Weltjudentum« bewegt haben, der Wunsch Vater des Gedankens ist. Der Brief jedenfalls kommt vom »Gelenk des Seyns« zuletzt auf den »spontanen