Dichtung sei »Stiftung, erwirkende Gründung des Bleibenden«, »Aushalten der Winke der Götter – Stiftung des Seyns«.[310] Zu dieser Ansicht gelangte Heidegger durch Hölderlins Vers aus der Hymne »Andenken«: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.« Höher – heiligmäßiger – kann man die Dichtung nicht schätzen. Heidegger hat niemals anders gedacht. Doch Probleme sind unübersehbar.
Problematisch ist schon, dass der Philosoph diese Deutung zum ersten Mal im Winter 1934/35 vorträgt. Die »metapolitische« Intention ist deutlich. Hölderlin sei der »Stifter des deutschen Seyns«.[311] Ein solches Dogma geht an der Komplexität von Hölderlins Verhältnis zu »den Deutschen« vorbei.[312] Selbst wenn dieser ein Nationalist gewesen sein sollte, geht es Heidegger vorrangig gar nicht um den Dichter, sondern um die Applikation seiner Deutung im Kontext der »nationalen Revolution«.
Heidegger wollte mit Hölderlin den Deutschen zeigen, was es heißt, deutsch zu sein. Das »Bleibende« sollte das Fundament für ein »deutsches Seyn« liefern. Hatten nicht Homer, Pindar und Sophokles »den Griechen« gesagt, wer sie waren? Und war es nicht Hölderlin, der im zweiten Böhlendorff-Brief vom Verhältnis zwischen Griechen und Deutschen sprach, als wären diese Zeitgenossen? Die Vorlesung vom Winter 1934/35 endet mit seiner recht knappen Auslegung.[313] Trotz dieser Knappheit gibt es aber keinen Zweifel, dass Heidegger in ihm irgendwie sein ganzes Denken vorweggenommen sah.
Zwischen den Hölderlin-Interpretationen in den dreißiger und vierziger Jahren und den anschließenden Auslegungen von Rilke, Trakl und George gibt es den Unterschied, dass das »metapolitische« Interesse fehlt. Von den Deutschen ist keine Rede mehr. Der Zusammenbruch des »Dritten Reichs« hatte gezeigt, dass die Engführung von »Seins-« und politischer Geschichte in die Irre ging. Heidegger erklärte zwar, dass diese unbedingt zum Denken gehöre. Doch immer auf die gleiche Weise zu irren war wohl selbst ihm nicht geheuer. Einige Aufzeichnungen in den »Schwarzen Heften« zeigen, wie schwer es ihm fiel, von der »seinsgeschichtlichen« Sonderrolle der Deutschen abzusehen.[314] Eine Welt ohne »Volk« schien ihm bis ganz zuletzt der größte Irrtum zu sein.
Aber selbst wenn Heidegger in seinen George-Interpretationen ohne den »metapolitischen« Rahmen der dreißiger Jahre auskommt, bleibt sein Zugang zur Dichtung stets auf der Höhe der ersten und letzten Fragen. Wie im Denken, so geht es ihm auch in der Dichtung ums Ganze. Mehr noch: »wohnen« könne nach einem weiteren Hölderlin-Vers der Mensch nur »dichterisch«. Wissenschaft und Technik erscheinen als Weltzerstörer. Daher »wohne« der Mensch eben noch nicht.[315]
Vermutlich war Paul Celan die »metapolitische« Dimension von Heideggers Poetologie nicht bekannt. Die wichtigsten Texte, die sie enthalten, waren in den fünfziger und sechziger Jahren noch nicht erschienen. Daher konnte er nur sehen, dass da ein Philosoph die Dichtung nicht als Gegenstand der Ästhetik, sondern als ein der Philosophie ebenbürtiges Leben betrachtete. Heidegger suchte die Nähe von Dichtern, auch die Celans.
Im Umkreis seiner Aufzeichnungen zur »Meridian«-Rede schreibt Celan einmal: »Nicht indem es vom Ärgernis spricht, sondern indem es, unerschütterlich, es selbst bleibt, wird das Gedicht zum Ärgernis – wird es, erlauben Sie mir, es so zu nennen, zum Paria und Juden in der Literatur.«[316] Auch Celan war von der unverwechselbaren Bedeutung der Dichtung überzeugt. Wie für Heidegger war ihm die Dichtung ein Alles-auf-eine-Karte-Setzen, eine Aussetzung, lebensgefährliches Risiko. War nicht schon das reine Dasein von Gedichten ein Skandal so, wie das reine Dasein der Juden störte? Celan sprach von eigenen Gedichten.
In einer anderen Notiz heißt es: »Man muß das Dunkle lieben lernen – gelten lassen – wie das Dunkeläugige, Dunkelhäutige.«[317] Wenn Celan an das Dunkel der Augen und der Haut erinnert, dann aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, weil er an Menschen afrikanischer Herkunft dachte. Vielmehr waren auch hier die Juden gemeint, die sich von den blauäugigen Deutschen (vgl. Todesfuge) phänotypisch unterschieden. Das Dunkle zu lieben, das Dunkle des Gedichts, ist in sich verbunden mit einer Liebe zum Anderen, mit einer Offenheit, die im Dunkel von Auge und Haut die Offenheit der Dichtung erblickt.
Was hätte Heidegger zu solchen poetologischen Versuchen gesagt? Auch er liebte das Dunkle, das Ärgernis. Nichts war ihm unangenehmer als affirmative Allgemeinverständlichkeit. Und doch hat er wohl niemals die Möglichkeit gesehen, das Ärgernis eines Gedichts mit der Existenz seines jüdischen Schöpfers zu verbinden. Das ist umso überraschender, als er ja in den Gedichten Hölderlins unentwegt die Stimme eines, nein, des Deutschen zu hören glaubte. Hat er in Celans Gedichten die Stimme eines Juden gehört? Und wenn Celan genau das von Heidegger erwartete?
Heideggers Verständnis der Dichtung ist monumental-mythologisch, eine maximale Potenzierung ihrer Bedeutung. Das mag manchen, den die bloß ästhetische Beschäftigung mit ihr langweilt, begeistern. Doch der Dichter oder die Dichterin reichen nicht an das Schicksal der Völker. Das hatten »gelahrte« Köpfe des 18. und 19. Jahrhunderts falsch verstanden. In erster Linie dichten Dichter unverwechselbar sich selbst – und erst so das Leben, das wir alle leben. In ihrem Ausgesetztsein sprechen sie mit ihren einzigartigen Stimmen zu Einzelnen, indem sie ihnen ihre Hand reichen. Was sie sagen, wird günstigstenfalls eine Offenheit bilden, in der alles möglich ist – für dich, für mich, doch niemals für ein »Volk«.
Heutzutage hat sich das poetologische Klima geändert. Lyrik liebende Grinsekatzen finden Gedichte wunderbar. Regentonnen und Koalas sollen poetisch sein, ganz furchtbar sinnlich. Alle Kleinigkeiten sind schön, man muss es nur sagen. Es lohnt sich, zu leben. Wer würde widersprechen? Der Erfolg ist da. – In dieser Landschaft des unerschütterlichen Frohsinns erscheinen Heidegger und Celan als sich im Letzten widerstreitende Melancholiker einer Geschichte, von der die Zeitgenießer der neuen Heiterkeit nichts wissen wollen.