Es ist immer bedenklich, wenn sich Politiker, Aktivisten, Populisten etc. auf Philosophen berufen. Prominente Beispiele fallen ein: Hitler in Weimar, beim Besuch Elisabeth Förster-Nietzsches, den Blick auf Klingers Nietzsche-Büste; Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir in Kuba bei Che Guevara, Che zündet Jean-Paul eine Zigarre an, der Revolutionär erscheint, als mache er gerade eine Paffpause vom Guerillakrieg; Ernst Jünger, Helmut Kohl und François Mitterand im steinalten Türbogen der Oberförsterei von Wilflingen.
Die Bilder existieren nicht zufällig. Sie entstehen, um eine Allianz von Geist und Macht zu beweisen. Das hat eine lange Tradition. Das Urbild mag Aristoteles und Alexander sein. Platon und Dionysios II. von Syrakus brachten es aufgrund des subalternen Tyrannen wohl nicht zum Prototyp. Eher schon Sokrates und Alkibiades. Das Bild besagt: Geist strebt zur politischen Macht und braucht daher den genialen Politiker; Macht strebt zur besten Politik und braucht daher den genialen Philosophen.
Doch die Wirklichkeit sieht allzu oft anders aus. Was hat Hitler mit Nietzsche zu tun? Hat Hitler die Sowjetunion angegriffen, weil er den »Willen zur Macht« gelesen hat? Was teilen Jean-Paul, Simone und Che? Vielleicht die Marx’sche Hoffnung auf die »kommunistische Gesellschaft«? Doch welche Politik entspringt daraus? Wer würde behaupten, dass die Kubanische Revolution die Revolution war, von der Marx im »Manifest der Kommunistischen Partei« spricht? Und was wollten Kohl und Mitterand von Jünger? Dem Augenzeugen des Großen Krieges begegnen? Oder war Kohls Politik etwa vom »Arbeiter« geprägt?
Die Allianz von Geist und Macht – wenn es um die Pragmatik der politischen Praxis oder um die Komplexität einer philosophischen Theorie geht, erweist sie sich als Camouflage. Kein Wunder: Wo schon der Philosoph selbst nicht weiß, was es heißt, philosophisch zu leben, da wird die Frage, wie ein Philosoph Politik gestalten oder auch nur beeinflussen könnte, absurd.
Mit dieser Vorbemerkung soll nicht gesagt werden, dass es zwischen Philosophie und Politik keinen Zusammenhang gibt. Selbst wenn intellektuelle Beeinflussung schwer oder gar nicht nachzuweisen ist, ist es nicht reiner Zufall, welche Politiker oder Aktivisten sich auf welche Philosophen beziehen. Dass Heidegger ein gern genannter Name bei Rechten wie Götz Kubitschek, »Identitären« wie Martin Sellner oder beim russischen Ex-Punk Alexander Dugin ist, kann nicht bloße Willkür sein.
Was rechte Ideologen an Heidegger (oder auch an Carl Schmitt) anzieht, sind – setzt man überhaupt einen intellektuellen Magnetismus voraus – Begründungsfiguren des Politischen. Das Politische ist bei ihm nichts Eigenständiges, sondern abhängig von Voraussetzungen »metapolitischen« Charakters. Das mag der Heraklitische Krieg als Vater aller Dinge sein oder die Epiphanie eines Gottes als Geburt eines Volkes. Auch das Volk selbst kann als notwendige Bedingung von Politik betrachtet werden, wobei es dann als homogene und autochthone Gemeinschaft verstanden wird.
Das aber macht Kubitschek und Sellner nicht zu Philosophen und Heidegger nicht zum Politiker (oder Aktivisten). Die Differenz ist entscheidend. Heideggers Denken des Nicht- und Nie-Gegenständlichen ist zwar ein performatives, aber nicht anwendbares Denken. Vor allem in einer Zeit, in der jede politische Praxis im techno-ökonomischen Apparat stattzufinden hat, schiebt sich zwischen rechter Politik und Heideggers Denken eine unübersteigbare Wand. Auch die Rechten müssen, solange sie demokratisch tun oder sein wollen, in Technik und Ökonomie mitspielen. Bezugnahmen auf den Philosophen können daher nur selektiv oder gar im Widerspruch zur »reinen Lehre« verfahren.
Bleibt noch die Performanz – sie ist fast alles, will sagen, sowohl von Heidegger als auch von Ernst Jünger und Carl Schmitt überzeugt die Rechten vor allem das Theater. Heidegger auf der Hütte in Todtnauberg, Jünger in der Alten Försterei von Wilflingen, Schmitt in seinem sauerländischen Geburtsort Plettenberg – und alle drei lassen aus tiefster Provinz die Welt kreisen. Das scheint sich in Schnellroda fortzusetzen … Wer das als unwichtig erachtet, versteht nichts. Der rechte Mann schmeckt den Duft der Erde, die rechte Mutter liebt den tapferen Sohn, das rechte Mädchen springt lachend über Bäche. Man trifft sich am Kartoffelfeuer. Sei! Das ist wichtiger, als Heideggers Gesamtausgabe auswendig zu kennen.
Und wirklich: Hier wird nicht das Argument gesucht, das die in sozialen und anderen Medien Diskutierenden überzeugen soll. Leben wird repräsentiert. Wahrheit wird behauptet. Geist wird bezeugt. Das ist unphilosophisch, weil Denken sich und andere bewegt, weil es zerstört, um aufzurichten. Weil es unterwegs bleibt … Die Rechten hassen das und halten sich an die stabilen Formen, die von ihren Helden zerbrochen werden.
In ihrer antiargumentativen Haltung haben sie jedoch in einer Hinsicht recht: Ihre drei Heiligen Könige lehnen den rationalen Diskurs ab. Souverän ist, wer den Diskurs entscheidet. Entweder man gehorcht den diktierten Vorgaben zum Sprechen oder eben nicht. Dann aber gibt es nichts zu sagen. Überhaupt soll mehr gezeigt als diskutiert werden. Delphi ist der Nabel der Welt, nicht Athen. Das gilt besonders für Heidegger.
Die Frage, ob nicht durch solche Nähen sein Denken obsolet wird, verneine ich. Sie geht davon aus, dass die Moral die Königin der Philosophie ist. Die Meinung, dass alles – Philosophie, Politik, Naturwissenschaft, selbst Kunst – moralisch beurteilt werden muss, ist weit verbreitet. Dadurch aber ist sie nicht schon plausibel oder gar zutreffend. Ich bestreite nicht moralische Probleme, die sich in und aus Heideggers Denken ergeben. Ich bezweifle jedoch, dass sie dazu auffordern können, es zu ächten und zu verbannen.
Die Abgründe der Moral sind dazu da, sie auszuhalten. Unmöglich, die moralische Verfehlung zu negieren. Ich lebe mit ihr, verschmerze sie oder gehe zugrunde. Ich komme immer wieder auf sie zurück, entgehe ihr nicht. Auch wer philosophiert, ist nicht immun. Das gilt ebenso im Politischen. Die Moral zum Prinzip der Öffentlichkeit zu erheben widerspricht ihrer verpflichtenden Stimme, die einzig und allein in meinem Gewissen zu rufen beginnt. Niemand außer Gott (wenn er denn wollte) hat die Macht, sich zu meinem Seelenrichter zu machen. – Vielleicht haben Rechte in ihrer Vorliebe fürs Performative das besser verstanden als Moralisten, die ihre eigenen Standards blamieren. Jedes Handeln, sagt Heidegger, sei »notwendig ›gewissenlos‹«.[330] Und ist nicht Denken eigentliches Handeln?