Nachdem die Nationalsozialisten 1933 die Macht in Deutschland übernommen hatten, waren auch jene Schriftsteller und Philosophen, die sich noch Anfang der dreißiger Jahre mehr oder weniger immun gegen die Nazi-Ideologie gezeigt hatten, interessiert daran, nicht intellektuell abgehängt zu werden. Als Kern der synkretistischen Ideologie galt die Rassentheorie. Hitler hatte in »Mein Kampf« vor allem im Kapitel »Volk und Rasse« die Marschroute vorgegeben.
Plötzlich begannen Intellektuelle wie Gottfried Benn, Ernst Jünger und eben auch Martin Heidegger den Begriff der Rasse zu bedenken. Dabei konnten sie sich auf Nietzsche beziehen, der den Begriff meistens im nichtbiologischen Sinne verwendete. Auch ein Stefan George hatte sich aufs »Blut« kapriziert; einen Begriff, dem zumindest Heidegger sich 1934 anzunähern wagte. Eine Formulierung wie »Stimme des Blutes«[334] offenbart die Strategie: »Blut« ja, die Körperflüssigkeit selbst nein.
Das galt auch für die »Rasse«. Heidegger wollte sie nicht ignorieren, zugleich aber nicht als absolute Instanz des »Daseins« gelten lassen. Die Frage, wo sie in der »Daseinsanalytik« von »Sein und Zeit«, in der der Körper ohnehin zurückhaltend berücksichtigt wurde, am ehesten hinpasste, lieferte die Antwort: zur »Geworfenheit«.
Doch Vorsicht: Die »Geworfenheit« wird zwar von Heidegger selbst mit der Geburt in Verbindung gebracht. Da ließe sich sagen, dass ich meinen Körper empfange, ohne mir mein Geschlecht, meine Größe, meine Gesundheit – und eben meine »Rasse« (meine Haut und ihre Farbe) aussuchen zu können. Es ist ein Unterschied, ob ich ins Baden-Württembergische oder ins Kenianische »hineingeworfen« werde.
Aber Heidegger versteht »Geworfenheit« nicht derartig faktisch. Für ihn ist sie etwas Geschichtliches, etwas Seinsgeschichtliches. Das »Dasein« wird in die »Wahrheit« geworfen – oder eben in ihren Verlust, in die »Unwahrheit«, die zur »Wahrheit« gehört. So gibt es überhaupt eine »Frage: Rasse und Wahrheit«.[335]
Und da stellt Heidegger fest, dass »nicht weil ein Volk rassisch ›sei‹«, sei es »so mit dem Wesen der Wahrheit bestellt«. Es sei vielmehr »umgekehrt – weil die Wahrheit als Dasein west, deshalb kann und muß und wird die Rasse sich geltend machen«. Die »Wahrheit« selber sei nicht »rassisch«, sondern »Rasse« könne »nur wahrhaft wesen, wenn sie in dieses Wesen der Wahrheit« einrücke. »Da-sein« sei die Voraussetzung für »Rasse«.
Man muss zugeben, dass das einem Antisemiten oder einer Antisemitin um 1935 längst nicht genug gewesen wäre. Wenn er/sie es nicht für obskurantistischen Unsinn gehalten hätte, hätte er/sie das nachgerade für gefährlich gehalten. Die Doktrin behauptete, dass die »Rasse« alles sei – und das Leben ein »Rassenkampf«, den »entweder der Arier oder der Jude« gewinnen müsse. »Da-sein« hat – gelinde gesagt – darin keinen Platz.
Und Heidegger fügt noch hinzu:
»Anders könnte ja sonst jeder Lümmel, nur weil er ohne sein geringstes Zutun von ›nordischen‹ Eltern abstammt, sein Geschwätz als rassische Wahrheit beanspruchen.«
»Rassische Wahrheit« ist nicht für »jeden Lümmel« da. Sie ist im Grunde für niemanden da, wenn da-sein heißen soll, verfügbar zu sein. Das In-die-Wahrheit-Kommen der »Rasse« muss nach Heidegger von selbst geschehen, muss sich ereignen in dem Sinne, dass auch die »Rasse« ihr Eigenes findet; »Rasse« nicht im biologischen, sondern im seinsgeschichtlichen Sinne verstanden … Es gab dann jede Menge von diesen »Lümmeln«, die ihr »Geschwätz« und noch anderes als »rassische Wahrheit« statuierten.