Wer in Athen zum Parthenon auf der Akropolis hinaufsteigt und dann nach Nordwesten blickt, sieht den Tempel des Hephaistos. Er sei, wie Heidegger anlässlich eines Besuchs (1967) zu Recht feststellt, der »am besten erhaltene Tempel«, überdies noch »älter als der Parthenon«.[31] Er fragt: »Woher kam jedoch, der ungewöhnlich guten Erhaltung zum Trotz, das Kalte, das Düstere, das Leere dieses Tempelwerkes, was auch das ringsum Blühende nicht aufzuheitern vermochte?« Der Tempel ist leer, Hephaistos, dem er gewidmet war, ist nicht da.
Doch Heidegger beantwortet die Frage vorsichtig – mit einer anderen, rhetorischen Frage: »Bedürfen wir Spätgeborenen des Fragments, um, es weiterbildend, dem Fehlenden zu folgen und, so auf den Weg zum Ganzen gebracht, dessen Anwesen aus seiner Abwesenheit, von ihr stärker betroffen, zu erfahren?«[32] Der gut erhaltene Tempel als Fragment, Anstoß zur Erfahrung des Abwesenden.
Das Wort Fragment kommt vom lateinischen frangere, brechen. Wenn im Neuen Testament Jesus das Brot bricht, steht in der Vulgata dieses Verb (z.B. Lukas 24, 30). Das Fragment ist demnach ein von einem Ganzen abgebrochenes Stück. Heidegger hat also recht, das Tempelfragment mit einem Ganzen zu verbinden.
Aber was ist dieses beim Fragment stets abwesende Ganze? Es ist zerbrochen, zerstört. Das hat Heidegger ein paar Jahrzehnte früher in Hinsicht auf Hölderlins Gedichte einmal passender als beim Hephaistos-Tempel bemerkt. Es gehe um das »Bruchstückhafte seines wesentlichsten Werkes«. Das »Werk« sei als »Bruchstück zu erfahren«. Offenbar denkt er an die vielen unvollendeten Entwürfe in Hölderlins Dichtung wie das »Empedokles«-Projekt.
Und wirklich gehört das Fragment eher zur Musik und Dichtung als in die Philosophie. Dort ist es aus der Zerstörung des klassischen Werkbegriffs entstanden. Für diesen war organische Ganzheit das Ideal. Trümmer seiner Sprengung waren die extrem verdichteten fragmentarisch-atonalen Stücke Schönbergs, Bergs und Weberns. Es wäre das Höchste, wenn Denk-Fragmente so zu klingen vermöchten …
Das Fragment ist nicht einfach Stück, sondern Trumm, Bruchstück. Das Zerbrechen des Ganzen zeugt von Druck, einer exerzierten Gewalt. Die Form des jeweiligen Bruchstückes sind ihre Spuren. Auch ein Splitter oder eine Scherbe ist Gewalt-Fragment. (Gewalt kann fruchtbar sein.) Ist aber der Tempel ein Bruchstück?
Was zerbrach, ist die Welt, aus der er stammt. Zerbrach? Der Tempel zeigt keine Spuren von Gewalt. Er ist eine gut erhaltene Ruine, wie herausgefallen, herabgesunken, aus einer Welt, die, scheinbar ohne Widerstand, verging. Athen war mehrfach von kriegerischen Zerstörungen betroffen, wurde aber niemals zerstört. Doch eine Welt vergeht auch dann, wenn Gebäude erhalten bleiben. Dieses Vergehen der Welt hat eine eigene Art von Gewalt; eine stille Gewalt, der nichts zu widerstehen vermag. Unter der Gewalt der Zeit gilt: Welt ist nicht planbar. Es gibt keine Architekten der Welt.
Problematisch bei alldem ist der Gedanke, das Fragment verweise auf ein zerbrochenes Ganzes. Schon wahr, es ist Bruchstück, Zeugnis einer Entstehung aus Gewalt, aus Zerstörung. Doch sie ist auch Befreiung: Spuren der Gewalt am Fragment sind solche seiner Freiheit. Die »Kategorie des Fragmentarischen« (eine seltsame »Kategorie« allerdings), schreibt Adorno, sei »nicht die der kontingenten Einzelheit: das Bruchstück ist der Teil der Totalität des Werkes, welcher ihr widersteht«.[33] Doch in diesem Widerstehen ist das Fragment nicht nur frei.
Es widerlegt das Ganze, macht deutlich, dass die Idee des Ganzen ein Leben vergewaltigt, das mit jeder Fiber sein will, was es nicht sein kann. Kein Leben ist ganz, es ist Fragment von Anfang an, nur so lebbar; und darum immer schon zu spät oder zu früh geboren, Zeuge einer Bruchstück-Freiheit, Inschrift einer Trauer-Scherbe des Verlusts von etwas, das niemals meines war; gebrochen, ohne jemals in Gottes Händen ganz gewesen zu sein.