Nach der Diskussion um die »Schwarzen Hefte« hat auch Silvio Vietta mit einem Buch Stellung bezogen.[352] Vietta ist ein Literaturwissenschaftler. Er hat sich mit Veröffentlichungen zur romantischen und expressionistischen Lyrik einen Namen gemacht. Schon einmal, nämlich 1989, nachdem Victor Farías seinen Angriff auf Heidegger veröffentlichte, hatte er sich zur Verteidigung von Heideggers Denken herausgefordert gefühlt.[353]
Die neue Apologetik ist bemerkenswerter. Das liegt nicht nur daran, dass er im Grunde jeglichen Antisemitismus in den »Schwarzen Heften« kurzerhand in eine seiner Ansicht nach wohlberechtigte »Juden-Kritik«[354] verwandelt. Bemerkenswerter ist das Buch durch ein in die politische Apologetik eingeschaltetes Kapitel über »Heidegger und die Frauen«.
Dass Vietta überhaupt ein solches verfasst hat, ist zu begrüßen. Auch ich bin der Ansicht, dass die Trennung von Leben und Denken bei Heidegger falsch ist, ein von Akademikern in die Welt gesetztes Gerücht. Vietta hat recht, dass der performative Aspekt von Leben im Denken und Denken im Leben bei Heidegger es verbietet, die offenkundige Wichtigkeit seiner Frauenbeziehungen zu ignorieren. Es ist aber erstaunlich, wie und wie weit er selber in eine dieser Frauenbeziehungen verwickelt war, ohne diese Verwicklung zu reflektieren.
Der Aufbau des angesprochenen Kapitels ist folgender: »Ein Märchen« (Vietta zitiert aus einem »sicher zu Recht vergessenen Roman« (47) mit Titel: »Die Heilige und ihr Narr« von Agnes Günther und möchte in ihm das »Rollenset der Eheleute Heidegger« erkennen. Tatsächlich erwähnt Heidegger den Roman in seinem ersten Brief an das »liebe Fräulein Petri« im Dezember 1915, kurz nach der Auflösung seiner Verlobung mit Marguerite Weninger. Noch im November desselben Jahres hatte ihm sein Freund Laslowski zu diesem »schweren Opfer« gratuliert …) – »Elfride« – »Jüdische Schülerinnen: Elisabeth Blochmann« (Vietta betont Heideggers »erotisch-philosophische Beziehung« zu »klugen und schönen Jüdinnen« (52f.)) – »Hannah Arendt: Eine Philosophie und Pädagogik der Liebe« – »Weitere Frauenbeziehungen«.
Unter diesen »weiteren Frauenbeziehungen« befindet sich auch Heideggers Verhältnis zu Viettas Mutter Dorothea, genannt Dory: »Dorothea Vietta, Jahrgang 1913, war verheiratet mit Egon Vietta […].«[355] So beginnt Silvio Viettas Darstellung dieser »Frauenbeziehung«. Am 6./7. Mai 1953 hätten Martin und Elfride zum ersten Mal seine Eltern in Darmstadt besucht. Silvio ist 12 Jahre alt. Martin habe Dorothea danach »an geheimen Orten« getroffen, »auch im Haus der Schwester von Dorothea Vietta, Elisabeth Baumgartner in Leonberg, die als Ärztin in Stuttgart eine Röntgen-Praxis«[356] unterhalten habe. Martin sei dann im Jahre 1957 mit Dorothea auch nach Aix-en-Provence gefahren. »Sie wohnen in einem kleinen Hotel bei dem Ehepaar Gaudin, wo auch Elfride mit Martin im Vorjahr gewohnt hatte«, bemerkt Gertrud Heidegger in ihrer Ausgabe der Briefe von Martin an Elfride.[357]
Martin betont in einem Brief an seine Frau, dass sie »überall da sei, zumal in meinem Zimmer, wo wir wohnten, u. wo ich jetzt ganz ungestört arbeite«.[358] »Fr. Vietta« habe »eine schöne Nüchternheit – die so sicher mache und zugleich erfreulich«: »Sie versteht mehr, als sie zeigt. Egon kommt heute. Frau V. ist noch hier untergekommen u. versorgt uns Männer […].« Das scheinbar Beiläufige wird Hauptsache. Silvio berichtet dann, dass Heidegger »einen Liebesbrief auf dem Schreibtisch liegen gelassen« habe. Elfride habe entdeckt, »dass es sich auch hier um ein intimes Verhältnis« gehandelt habe, und das sei »zugleich dessen Ende«[359] gewesen.
Dorothea sei kurz darauf »an einem Schädeltumor am 12. Juli 1959« gestorben. Silvio ist 18 Jahre alt. Am 14. Juli hatte Heidegger in Stuttgart seinen Vortrag »Hölderlins Erde und Himmel« gehalten. Am 16. Juli habe er mit Silvio das Grab der Mutter besucht. Vietta veröffentlicht im Anhang zu seinem Buch neun Briefe von Heidegger an Dorotheas Schwester sowie zwei Zettel. In dem Brief, in dem Heidegger seinen Besuch am Grab bezeugt, heißt es: »Eine große Ruhe ist eingekehrt – / Wir Sterbliche wissen wenig. Dorothea hat / in den vergangenen Monaten viel / und groß gedacht und war bereit – / auch wenn die große Liebende schwieg.«[360]
Vietta fragt, was »Frauen zu Männern wie Picasso, Kafka, Heidegger, Brecht so magisch hingezogen« habe, »denn oft wussten diese ja, dass sie sich auf Männer einließen, die versessen an ihrer Arbeit hingen und keine treuen Haus-Männer waren noch werden würden«.[361] Die Frage hat einen vielleicht nicht sogleich hörbaren rhetorischen Ton. Welche Frau würde sich jemals für »treue Haus-Männer« interessieren? Und so erzählt der Autor die bekannte Geschichte der Musen-Ökonomie. Gerade der von seinem Werk besessene Mann sei »magisch«. Er erhalte »auch geistige Impulse« von intelligenten Frauen, die er »in sein Werk hereingeholt« habe. Dadurch werde die Frau »aus einer Welt des Alltags und des ›Man‹ herausgehoben«.[362] Da ist aber von Silvios Vater, dem Schriftsteller und Kritiker Egon Vietta, schon lange keine Rede mehr. Er starb am 29. November 1959, vier Monate nach seiner Frau Dorothea.
Noch am distanziertesten klingt Viettas Interpretation von Heideggers »emotionaler Ambivalenz«.[363] Er brauche »seine Frau für die Ruhe und Konstanz seiner Arbeit« ebenso wie »den Eros der Liebesbeziehungen außerhalb seiner Ehe«. Wenn »ihm die Emotionen zu nahe« gekommen seien »und die Ruhe seiner Arbeit bedrohten«, habe »er sie der häuslichen Ruhe geopfert«. Ob aber diese »Ambivalenz« wirklich eine »emotionale« war und ob es überhaupt eine »Ambivalenz« war? Bei der Sicherheit, mit der Heidegger immer und überall den Vorrang seines Werks betonte, ist das eher unwahrscheinlich.
Doch mein Interesse gilt dem besonderen Apologeten Silvio Vietta. Nach dem Tod seiner Eltern blieb das Ehepaar Heidegger in der Nähe. Martin scheint eine Art von Vaterrolle übernommen zu haben. Es existiert ein Briefwechsel, der vielleicht eines Tages zeigen wird, in welchem Sinne. Der Briefwechsel von Martin und Dorothea wurde, so berichtet ihre Schwester Elisabeth, unmittelbar nach Dorotheas Begräbnis auf dem Friedhof verbrannt. Heidegger hatte noch in einem Brief, fünf Tage vor Dorotheas Tod, darum gebeten, ihr seine Briefe »mit ins Grab zu geben«.[364]
Das Erstaunliche an Viettas Apologie ist weniger, dass sie überhaupt eine ist. Apologetik ist dort, wo sie möglich und nötig ist, berechtigt. Ich bin der Ansicht, dass sie in Bezug auf Heideggers antisemitische Äußerungen in den »Schwarzen Heften« misslungen ist. Ich halte Begriffe wie »Juden-Kritik« oder Äußerungen wie die von den »klugen und schönen Jüdinnen« für – grenzwertig. Aber auch das ist nicht der Hauptaspekt meines Staunens.
Vielmehr geht es um die totale Absenz von Reflexion auf die eigene Verstricktheit in Heideggers philosophische Performanz. Vietta stützt Heideggers Auftritt als Denker auch dort noch, wo er zerstörerisch auf die Ehe seiner Eltern gewirkt haben könnte. Er scheint dem männlichen Selbstverständnis als verführend-verführter Schöpfer von Werken, der von Eros geschlagen wird, um neue Impulse für neue Werke zu empfangen, ungebrochen zu vertrauen – der Performanz des Hölderlin-Philosophen, der unter der Last eines katastrophalen Weltgeschicks schier zusammenbricht. Nirgendwo – jedenfalls im besprochenen Buch – fragt sich Vietta, ob es nur diese eine und einzige Interpretation der abgründigen Geschichte von Martin und Dory gibt. Die Frage, ob seine Treue zu Heidegger etwas mit solchen Abgründen zu tun haben könnte, konnte eigentlich nur verdrängt werden.