Als Rudolf Augstein 1966 Heidegger in Todtnauberg und Freiburg besucht, um ein Interview vom berühmten Philosophen zu bekommen, will der Journalist wissen, welche »Hilfe wir erwarten« dürfen von der Philosophie. Heidegger hatte zuvor festgestellt, dass er nicht wisse, wie sein Denken »wirke«. Es könne auch sein, dass es »schweigen« müsse, um nicht »innerhalb eines Jahres verramscht« zu werden. Oder dass es »300 Jahre« brauche, um zu »wirken«.[393]
Augstein behauptet, er verstehe »sehr gut« (in Wirklichkeit eher nicht). Doch ihm sei, weil er »hier und jetzt« lebe, das Schweigen versagt: »Wir, Politiker, Halbpolitiker, Staatsbürger, Journalisten et cetera, wir müssen unablässig irgendeine Entscheidung treffen. Mit dem System, unter dem wir leben, müssen wir uns einrichten, müssen suchen, es zu ändern, müssen das schmale Tor einer Reform, das noch schmalere einer Revolution ausspähen.«[394] Da müsse eben der Philosoph doch helfen können.
Könne er aber nicht, antwortet Heidegger. Und wirklich hatte Heidegger schon lange vorher in einem seiner »Schwarzen Hefte« vermerkt: »Gedachtes wirkt nicht; […]. Gedachtes rührt nicht an Gewirktes und das Wirkliche.«[395] Schön und gut: Doch die Absetzung macht misstrauisch. Warum wird das »Wirken« so betont?
Die Wirklichkeit ist die Welt der Gegenstände, die im Verhältnis von Ursache und Wirkung der ökonomisch-technische Apparat repräsentiert. Der geworfene Stein fällt wieder zur Erde, die Pflanze lebt von der Photosynthese, das Tier folgt seinen Instinkten, der Mensch dem Geld, ich stelle diese Abbreviatur in einem zu vermarktenden Buch dar – das Wirkliche einer Wirklichkeit, in der nicht mehr gezaubert wird.
Sollte die Philosophie zum Wirklichen beitragen wollen, müsste sie sich seinen Regeln unterwerfen. Und da ist zuzugeben: unendlich naiv, wer meint, beim Mitspielen dieses Wirklichkeits-Spiels die Spielregeln ändern zu können. Vielleicht wird er die eine oder andere Regel verbessern und darum zu einem der vielen Wirklichkeits-Könige ausgelobt werden; prächtige Subjekte, die ihre Beflissenheit in allen Medien zur Schau stellen dürfen, telegen und konstruktiv. Aber niemand wird »mit den Wolken kommen«.
Dabei hatte Heidegger 1933 ganz anders gedacht. Damals hatte er die »nationale Revolution« begrüßt, um sich nach Möglichkeit an ihre Spitze zu stellen. Der Philosoph hatte eine Vorstellung vom »Deutschen«, mit der er die Nationalsozialisten beeindrucken und überzeugen wollte. Wer, wenn nicht der Philosoph, wusste, worauf die Revolution drängte? Er wollte wirken, skeptisch zwar, doch vehement.
Die Erkenntnis der Wirkungslosigkeit der Philosophie hat zwar keine kurzen Beine, doch verbrannte Finger. Wer wirken will, braucht Macht, in welcher Form auch immer. Darauf wollte sich Heidegger, anders als z.B. Sartre, der die Macht in Moskau, Havanna und Stammheim suchte, nicht mehr einlassen. Der mächtige Philosoph – eine schreckliche wie komische Figur. Heidegger hatte seit den fünfziger Jahren erkannt, dass sein Denken zum »Feldweg« gehörte und in Washington oder Moskau nichts zu suchen hatte.
Die Philosophie aber, die heute konstruktiv-kritisch die Diskurse oder was auch immer humanisieren will, verkörpert eine Harmlosigkeit, die ihren Vertretern mindestens den Lessing-Preis besorgen wird. Manch einer ist schon ohne ihn Denk-Millionär geworden. Die Reflexion warnt: Neid! Ojemine, Wirkungstreffer! Da hat die Wirklichkeit schon wieder zugeschlagen …