Kapitel 3
DIE MACHT DER FINANZMÄRKTE

Nicht nur die Konzentration wirtschaftlicher Macht in der Realwirtschaft gibt Anlass zur Sorge. Nach wie vor sind auch die Finanzmärkte ungebändigt. Und sie stellen dadurch eine gefährliche Macht dar. Das mag zunächst überraschen. Schließlich sind Märkte eigentlich nur die Arena, in der verschiedene Marktakteure aufeinandertreffen. Doch die Deregulierung hat dazu geführt, dass das Zusammenwirken dieser Akteure eine gefährliche Dynamik entwickelt, die auch in Zukunft gefährliche Krisen produzieren kann. Die Wahrscheinlichkeit einer Finanzkrise ist leider heute nicht geringer als vor fünf Jahren, als die US-amerikanische Bank Lehman Brothers oder die deutsche Hypo Real Estate zusammenbrachen und in der Folge dann die gesamte Bankenbranche gerettet wurde. Aber die Gefahr geht über die Krisen hinaus. Die Finanzmärkte haben in ihrer heutigen Größe und Funktionsweise Wirkung auf viele andere Märkte. Und nicht zuletzt sind sie eine enorme Umverteilungsmaschine von unten nach oben, die wir dringend stoppen müssen.

INSTABILITÄT

Finanzmärkte sind inhärent instabil. Und man hätte das schon vor dieser Finanzkrise wissen können. In seinem Buch Manien – Paniken – Crashs aus dem Jahr 1978 zeigt der Ökonom Charles Kindleberger,1 dass die Geschichte der Finanzmärkte auch eine Geschichte der Wiederholungen ist, eben der Wiederholungen von Manien, Paniken und Crashs. Immer wieder haben sich einzelne Investoren seit der Tulpenmanie von 1636 in den Niederlanden, in der Tulpenzwiebeln zum Spekulationsobjekt wurden, über die Südseeblase 1720, die auf kühnen Hoffnungen ferner Reichtümer basierte, und die Verirrungen des Dotcom-Booms bis hin zum Glauben an die Subprime-Schuldner großen Versprechen hingegeben. Am Anfang steht immer eine Neuerung, die auf große Gewinne hoffen lässt, verbunden mit der euphorischen Zuversicht, dass die Risiken der Vergangenheit heute nicht mehr gelten. In ihrem inzwischen zum Klassiker gewordenen Buch Dieses Mal ist alles anders zeigen Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff,2 dass diese Blasen nicht nur immer wieder platzen, sondern auch jedes Mal verheerende Auswirkungen auf die Realwirtschaft und auf die Staatsfinanzen haben, wesentlich schlimmer als jede Rezession im normalen Auf und Ab der Realwirtschaft. Es ist eben doch meistens nicht anders als bei der Blase zuvor.

Eine Serie von Krisen

Gerade in den letzten 30 Jahren gab es ja mitnichten nur die eine globale Finanzkrise, sondern mit dem Börsencrash 1987, mit der Pesokrise 1994, der Asienkrise 1997 oder der Internetblase 2000 mehrere große Finanzkrisen. Der Zusammenbruch des Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM) 1998 und des Energieriesen Enron 2001, der wegen seiner waghalsigen Finanzkonstruktionen pleiteging, müssen dazu gezählt werden. Im Fall des LTCM konnte nur durch ein massives Eingreifen der US-Notenbank eine größere Finanzkrise verhindert werden. Dagegen waren die Phasen, in denen die Finanzmärkte sich eher langsam entwickelten, wie etwa die Zeit von 1950 bis 1970, vergleichsweise stabil: Es gab keine Bankenkrisen.

Eigentlich sollen nach der Theorie Finanzmärkte durch eine angemessene Preisbildung dafür sorgen, dass die wirtschaftliche Situation sich stabilisiert. Wo hohe Risiken drohen, sollte eigentlich ein hoher Risikoaufschlag genau das signalisieren und dadurch Investoren warnen. Doch das Gegenteil war in dieser Finanzkrise der Fall. Die Risikoaufschläge an den Finanzmärkten waren zu keinem Zeitpunkt so gering wie in dem Moment des höchsten Risikos, nämlich kurz vor Ausbruch der Finanzkrise. Dann allerdings schnellten sie in kürzester Zeit auf Rekordhöhe.3 Dadurch haben die Finanzmärkte gerade nicht zur Stabilität, sondern zur Instabilität beigetragen. Denn in der langen Phase vor Ausbruch der Finanzkrise, als Investoren vor den allmählich steigenden Risiken hätten gewarnt werden müssen, bekamen sie angesichts der geringen Risikoaufschläge einen Anreiz, zusätzliche Risiken zu übernehmen. Als aber die Krise ausbrach, half der dann jäh gestiegene Risikoaufschlag auch nichts mehr.

Ähnliches lässt sich bei der Kreditvergabe beobachten: Im Boom werden großzügig Kredite vergeben, in Phasen schwacher wirtschaftlicher Entwicklung weniger.4 Damit verschärft die Kreditvergabe der Banken den wirtschaftlichen Zyklus, statt zusätzliche Stabilität zu bewirken.

Gründe der Instabilität

Diese Instabilität ist kein Zufall. Finanzmärkte funktionieren anders als andere Märkte. Das ist inzwischen empirisch und theoretisch sehr überzeugend nachgewiesen worden.5 Im Kern geht es darum, dass die Akteure an den Finanzmärkten wie eine aufgescheuchte Kuhherde in die eine und andere Richtung laufen und dabei regelmäßig erkennbar weit über die Werte hinausgehen, die ökonomisch noch als sinnvoll bezeichnet werden können. George Akerlof und Robert Shiller erklären solche Entwicklungen in ihrem Buch Animal Spirits mit der Irrationalität menschlichen Verhaltens.6

Doch irrationales Verhalten gibt es überall. Zum Beispiel, wenn ich mich wider besseres Wissen zu noch einem Walnusstörtchen verführen lasse. In normalen Märkten macht das aber nicht so viel aus, weil es Bremsmechanismen gibt. Irgendwann bin ich satt. Ich komme nicht ständig an Bäckereien vorbei. Und insgesamt wird unsere Kauflust durch unser begrenztes Budget eingeschränkt. Entscheidend ist, dass an den Finanzmärkten aus den Irrationalitäten vieler Einzelner eben nicht stabile Märkte entstehen, indem die Irrationalitäten der einen und der anderen sich ausgleichen. Normalerweise gibt es negative Rückkopplungen: Wenn von einem Gut viel gekauft wird, steigt dessen Preis, und wir fangen an, davon weniger zu kaufen, weil es uns zu teuer wird. Anders an den Finanzmärkten. Gerade dann, wenn der Preis steigt, freuen sich viele auf weitere Preissteigerungen, kaufen weiter – und schwups, landen wir in einer Blase.

Robert Shiller vertieft das in seinem Werk Irrationaler Überschwang, das auf der Höhe der Internet-Booms erschien.7 Und in der Tat kann es ja wenig überzeugen, dass an den Finanzmärkten alle daran glaubten, dass die Preise ohne Unterbrechung einfach immer weiter steigen. Dabei gab es das noch nie. Immer war irgendwann mal ein Ende der Aufwärtsbewegung. So viel zur oft behaupteten Rationalität der Finanzmärkte.

Auch die Eigenlogik eines Bewertungssystems an Märkten spielt eine Rolle. So beschreibt John Maynard Keynes in seiner Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes8, dass man dann am meisten profitiert, wenn man sich im Hinblick auf die Gewinnaussichten fragt, welche Meinung die meisten Leute über die Markteinschätzung der meisten Leute haben. Selbst wenn man meint, der Preis sei ökonomisch zu hoch, lohnt es sich, weiter zu investieren, wenn man davon ausgeht, dass andere weiter kaufen werden. Schlimmer noch: Diejenigen, die eine vernünftige Werteinschätzung haben, geraten ökonomisch ins Hintertreffen, weil sie weniger Rendite bringen als diejenigen, die sich voll auf den Trend orientieren. Fonds, Banken oder Aktienhändlern mit konservativem Wertansatz werden dann die Mittel entzogen, während die riskanter agierenden Akteure mehr Anlagegelder anlocken können. Eine Händlerin, die etwa 2007 der Ansicht war, Griechenlands Schulden seien nicht tragfähig, und daher griechische Anleihen verkauft hat, wurde wahrscheinlich noch im gleichen Jahr entlassen, da sie kurzfristig ihrem Fonds hohe Verluste beschert hat. Irgendwann arbeiten dann nur noch die Optimisten für die Fonds, nach dem Motto: »Es hat doch bisher immer gut geklappt.« So können Blasen selbst bei rationalem Marktverhalten entstehen. Das mittlerweile legendäre Zitat von Chuck Prince, damals Vorstandsvorsitzender der Citigroup Bank, vom Juli 2007, fasst das System anschaulich zusammen: »Wenn die Musik stoppt, was die Liquidität betrifft, werden die Dinge kompliziert. Aber solange die Musik spielt, musst du aufspringen und tanzen. Wir tanzen noch!«9 Denn solange es alle tun, zahlt es sich aus, man darf eben nur nicht der Letzte sein, wenn es kracht.

GRÖSSE, VERNETZUNG UND GESCHWINDIGKEIT

Dieses Herdenverhalten auf Finanzmärkten hat es immer gegeben. Dies gibt es auch ein Stück weit auf anderen Märkten. Gefährlich wird es dann, wenn die Finanzmärkte größer und vernetzter und schneller werden, wenn also – um im Bild zu bleiben – nicht mehr ein paar Kühe über die Weide laufen, sondern eine ganze Büffelherde in rasendem Tempo über Getreidefelder jagt. Und genau diese Entwicklung hat in den letzten drei Jahrzehnten stattgefunden. Die Herde wurde größer und schneller. Und die Auswirkungen, die Fehlentwicklungen in einem Markt auf andere Märkte haben, haben deutlich zugenommen.

Immer größer

Der Finanzsektor hat in den letzten Jahrzehnten enorm an Bedeutung gewonnen. Dies hat nichts mit einem allgemeinen Wachstum des Dienstleistungssektors zu tun, auch innerhalb dieses Sektors sind Finanzdienstleistungen überproportional gewachsen. Dieses Wachstum startete zwar bereits in den 1950er Jahren, hat sich aber in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit der dann einsetzenden Deregulierungswelle noch einmal deutlich beschleunigt.

Ein Indikator für dieses Wachstum ist der Wert der ausstehenden Finanzaktiva wie Aktien, Wertpapiere oder Derivate. 1980 belief sich diese Summe auf das Fünffache der jährlichen Wirtschaftsleistung der USA, 2005 bereits auf das Zehnfache. Der Wert von festverzinslichen Wertpapieren hat sich mehr als verdreifacht, von 57 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung im Jahr 1980 auf 182 Prozent im Jahr 2007, und der Wert von Aktien stieg von 50 Prozent auf 141 Prozent.10 Ich habe diese Entwicklung zu Eingang des Buches bereits anhand der gestiegenen Schulden und Geldvermögen ausführlich geschildert. Und das Erschreckende ist: Daran hat sich seit Ausbruch der Finanzkrise wenig geändert. Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds, konstatiert 2013 beispielsweise in Bezug auf einen Teilmarkt: »Derivatemärkte sind so groß und undurchsichtig wie zuvor.«11

Immer schneller

Während früher Investoren noch anhand von intensivster Fundamentalanalyse Anteile an Unternehmen erworben hatten, um diese dann für Jahre oder gar Generationen zu halten, werden heute Unternehmensanteile als börsennotierte Aktien nur noch selten von Einzelinvestoren mit dem Ziel eines langfristigen Haltens erworben, sondern von Investmentfonds. Der Anteil der von Investmentfonds im Gegensatz zu Privatpersonen oder institutionellen Anlegern gehaltenen Aktien ist geradezu explodiert. 1980 lag der Wert aller von US-Wertpapier-Investmentsfonds (mutual funds) gehaltenen Aktien bei lediglich 26 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2010 war dieser um das 135-Fache gewachsen auf 3,5 Billionen US-Dollar.12 Gleichzeitig hat sich die durchschnittliche Haltedauer von Aktien an der Börse dramatisch reduziert und beträgt heute im Durchschnitt nur noch wenige Monate.13

Quartalszahlen werden für Unternehmen daher immer wichtiger. Jedes Quartal müssen die Erträge kontinuierlich nach oben gehen, sonst werden die Anleger nervös. Und wenn diese mehr das spekulative Kurzfristengagement im Sinne haben und sich bei ihren Investitionsentscheidungen mehr an der Nervosität der anderen Anleger orientieren als an den Fundamentaldaten eines Unternehmens, werden langfristige Investitionsentscheidungen, die per Definition zuerst Geld kosten, um in Zukunft Erträge zu erwirtschaften, erschwert. Um mit Keynes zu sprechen: »Spekulanten mögen als Luftblasen auf einem steten Strom des Unternehmertums keinen Schaden anrichten. Aber die Lage wird ernst, wenn das Unternehmertum die Luftblase auf einem Strudel der Spekulation wird. Wenn die Kapitalentwicklung eines Landes das Nebenerzeugnis der Tätigkeiten eines Spielkasinos wird, wird die Arbeit voraussichtlich schlecht getan werden.«14

Keynes veröffentlichte diese Einsichten, nachdem die Wirtschaft aufgrund einer verrückten Finanzblase während der 1920er Jahre, ganz analog zu der heutigen Finanzkrise, in eine unglaublich tiefe Krise gestürzt war. Er legte mit seinem Werk auch die Grundlage für die drastische Zähmung der Finanzmärkte in den 1930er und 1940er Jahren.

Nach der erneuten Deregulierung in den 1980er Jahren haben sich die Finanzmärkte allerdings wieder deutlich beschleunigt. Die Kraft der Beschleunigung hat in den letzten Jahrzehnten dank der technologischen Revolution in der Datenverarbeitung noch einmal dramatisch zugenommen. Von 1929 bis heute dauerte es im Schnitt 7,5 Jahre, bis sich die Geschwindigkeit an den Finanzmärkten verdoppelt hatte. In den letzten zehn Jahren allerdings verdoppelte sich die Geschwindigkeit alle 2,9 Jahre.15 Und mit zunehmender Technik und Geschwindigkeit verändern sich auch die Folgen, wenn etwas schiefgeht. Natürlich war es ärgerlich, wenn das Rad einer Postkutsche auf der Wegstrecke von Hannover nach Hamburg brach, wenn aber das Rad eines ICEs auf derselben Strecke bricht, hat dies nun einmal andere Konsequenzen. Damit muss man nicht den Zugverkehr verteufeln, aber vielleicht war es ganz sinnvoll, einige staatlich sanktionierte Sicherheitsregeln einzuführen. Das gilt auch für Neuerungen auf den Finanzmärkten.

Schädlicher Hochfrequenzhandel

Eine dieser Neuerungen ist ein seit 2011 im Bau befindliches Transatlantikkabel, das alle Geschwindigkeitsrekorde brechen soll. Noch nie konnten Informationen zwischen London und New York so schnell hin und her schießen – nur 60 Millisekunden braucht das auf den Namen »Project Express« getaufte Kabel dafür.16 Zum Vergleich: Ein menschlicher Wimpernschlag dauert etwa 100 Millisekunden. Doch geht es hier nicht um eine Verbesserung der Datenübertragung für Millionen von Internetnutzern in Zeiten wachsender Datenmengen. Nein, das Kabel dient einzig und allein dem superschnellen computergestützten Handel an den Börsen und wird gegen hohe Gebühren nur wenigen Händlern bereitgestellt. Diese können damit Preisunterschiede zwischen den beiden Kontinenten um ganze fünf Millisekunden schneller aufspüren als ihre Kollegen, die herkömmliche Kabel benutzen. Durch diesen winzigen Informationsvorsprung verdienen sie Geld. Und zwar viel Geld. Das ist das Geschäftsmodell! Welche Verschwendung an Energie und Geld! So ist es kein Wunder, dass heute in Europa bis zu 40 Prozent und in den USA bis zu 70 Prozent des Aktienhandels auf Hochfrequenzhändler entfallen.17 Doch sind diese Profite gerechtfertigt? Steht den großen Gewinnen eine Dienstleistung an die Infrastruktur der Märkte gegenüber? Nein. Denn klar ist: Die langsameren Händler müssen schlechtere Preise akzeptieren, nachdem die schnellen Händler schon ihre Gewinne eingefahren haben.

Dazu kommen zahlreiche kurzfristige sogenannte Flash Crashs an den Finanzmärkten. Sie zeigen die Anfälligkeit dieses superschnellen Systems aufgrund von fehlerhaften Algorithmen oder Tippfehlern, im Englischen als fat finger (Wurstfinger) bezeichnet. Der bekannteste Vorfall ereignete sich am 6. Mai 2010, als ab 14:42 Uhr plötzlich der Leitindex um 6 Prozent einbrach. 20 Minuten später war der Spuk vorbei, es war der größte Verlust innerhalb eines Tages der Dow-Jones-Geschichte. In dieser Zeit wurden 1,3 Milliarden Aktien gehandelt, sechsmal so viel wie im Durchschnitt.18 Die Kurse einiger Weltunternehmen spielten komplett verrückt. Die Aktien des Outsourcing-Dienstleisters Accenture kosteten an diesem Tag zum Beispiel nur einen Cent das Stück, die von Apple hingegen notierten bei 100 000 US-Dollar.19 Ganz geklärt wurde das Mysterium nie. Klar ist nur, dass ein fehlerhafter Handel Auslöser war, der dann von den vielen Hochfrequenzhändlern verstärkt wurde.

Ironischerweise war der Börsengang des wahrscheinlich berühmtesten Unternehmens des digitalen Zeitalters, Facebook, im Jahr 2012 ebenfalls begleitet von solch wildgewordenen Computeralgorithmen, so dass der Börsengang ein großes Desaster wurde, eine große Menge der Kauforders überhaupt nicht berücksichtigt wurde und ein Schaden von anscheinend über 100 Millionen US-Dollar entstand. Noch größer war der Schaden bei dem großen Börsenhändler Knight Capital Group, dem seine eigenen Amok laufenden Computer zum Verhängnis wurden. Eine halbe Stunde reichte, um 440 Millionen US-Dollar Verlust zu produzieren und das Unternehmen kurze Zeit später aus dem Markt zu befördern.20

Wenn solche unerklärlichen Börsenpannen derart unglaubliche Kursgewinne oder -verluste auslösen können, ist es an der Zeit, eine viel grundsätzlichere Frage aufzuwerfen: Welchen Mehrwert bringt der Hochfrequenzhandel überhaupt? Natürlich möchte ich nicht wie z. B. die Gegner der Eisenbahn im frühen 19. Jahrhundert technologischen Fortschritt und erhöhte Geschwindigkeit verurteilen, nur weil mir diese Computeralgorithmen so unverständlich sind. Ich bin nur noch nicht auf überzeugende Argumente für den Hochfrequenzhandel gestoßen. Einige Autoren argumentieren, dass dadurch der faire Preis einer Aktie klarer würde und dass die zusätzliche Liquidität im Markt wichtig sei. Viele Studien sowohl unabhängiger Ökonomen als auch verschiedener Nationalbanken zeigen jedoch sehr überzeugend, dass der Hochfrequenzhandel keine zusätzliche Marktliquidität bietet und dass die Preisfindung keinesfalls verbessert wird.21 Vor allem aber wird es immer schwieriger, bei Fehlern einzugreifen und das System im Ernstfall zu stabilisieren. Auf Finanzmärkten, auf denen vor allem Maschinen miteinander kommunizieren – und das in extrem hoher Geschwindigkeit –, können nur noch Maschinen die Maschinen stoppen. Wenn im Zeitraum eines Augenaufschlags Milliarden hin und her geschoben werden, bleibt für Krisenmanagement keine Zeit mehr.

Immer vernetzter

Die meisten Ökonomen gehen davon aus, dass ein zusätzliches Finanzprodukt in der Regel eine gute Sache ist, weil sich die Möglichkeiten der Marktteilnehmer vergrößern, eine Lösung für ihre ganz spezifischen Bedürfnisse nach Absicherung von Risiken oder nach Altersvorsorge zu finden. Das leuchtet zunächst einmal ein. Ich finde es ja auch gut, wenn es nicht nur die Standardbrötchen von der Bäckereikette gibt, sondern köstliche Hörnchen und Törtchen eigener Herstellung verschiedener Konditoren, so dass ich beim Herumreisen in Deutschland viele unterschiedliche Backwaren essen kann.

Doch bei den Finanzmärkten steckt noch eine andere Vorstellung dahinter: Jeder weiß, dass die Möglichkeiten, leckeren Kuchen zu erfinden, unbegrenzt sind. Niemand würde davon ausgehen, dass ein Markt unvollständig wäre, wenn es gerade ein bestimmtes Mandelhörnchen nicht gäbe. In Bezug auf die Risikoabsicherung an Finanzmärkten gibt es jedoch die Vorstellung, dass der Markt umso perfekter ist, je mehr Möglichkeiten der Absicherung es für jedes Zukunftsszenario und jede Kombination von Zukunftsszenarien gibt. Ja, die Effizienz des Marktergebnisses ist theoretisch nur für einen Zustand nachweisbar, in dem vollständige Finanzmärkte jede erdenkbare Zukunftssituation mit entsprechenden Produkten abdecken. Jedes zusätzliche Finanzprodukt, und sei es noch so komplex und unverständlich, macht die gesamte Wirtschaft effizienter – so die Vorstellung. Daraus folgert dann auch: je größere Finanzmärkte, desto besser.

Doch das stimmt nicht. Der Wissenschaftler Thomas Philippon weist nach, dass die Finanzmärkte in ihrem großen Wachstumsprozess in den letzten 30 Jahren nicht effizienter geworden sind.22 Auch der Ökonom Jagdish Bhagwati, ein starker Verfechter des Freihandels, bezweifelt, dass der freie Kapitalverkehr den Wohlstand tatsächlich mehrt. Das werde zwar immer wieder behauptet, aber selten belegt.23 Trotzdem wurden die meisten Deregulierungsschritte genau damit begründet, die Finanzmärkte in dem oben beschriebenen Sinne vollständiger, perfekter, effizienter und sicherer zu machen.

Financial Times-Journalist John Authers beschreibt in The Fearful Rise of Markets24 diese Entwicklung und ihre Konsequenz: ein immer größerer Gleichlauf von Märkten. Ich habe dieses Buch verschlungen und halte es auch heute noch für eines der wichtigsten Bücher zum Verständnis der Finanzkrise.

Kapitel für Kapitel zeigt Authers auf, wie aus den Aktienmärkten der 1950er Jahre, an denen Investoren noch zum Großteil mit ihrem eigenen Geld handelten, ein global synchronisierter Super-Markt wurde. Immer mehr Güter wurden mit Finanzprodukten indirekt handelbar, die Verknüpfungen zwischen vorher völlig unverbundenen Märkten nahmen zu: Die Freigabe der Wechselkurse und Kapitalverkehrskontrollen erlaubte nach Ende des Bretton-Woods-Systems die grenzüberschreitende Verknüpfung von Märkten. Indexfonds schafften ab 1975 einen Maßstab für die Entwicklung von Aktienkursen. Indem sich Fondsmanager an ihnen orientierten, kam es zu einem stärkeren Gleichlauf der Investments. Gab es früher nur Banken, die Einlagen annahmen, entstanden Geldmarktfonds mit einlageähnlichen Anlagemöglichkeiten, die höhere Rendite versprachen. Sie stellen eine – wie sich nach der Lehman-Pleite herausstellen sollte – gefährliche Verbindung zu Finanzmärkten her. Die Gründung von Emerging-Markets-Fonds ab 1982 schaffte zusätzliche Anlagemöglichkeiten jenseits der eigenen Grenze und verknüpfte die Kursentwicklung in Schwellenländern mit der in den Industrieländern. Die seit 1984 bestehende Möglichkeit für Investmentbanken, mit Hypotheken besicherte Anleihen zu handeln, verband Finanz- und Immobilienmärkte stärker und legte die Grundlage für die spätere Immobilienblase. Carry Trades, also das Verschulden in einer Währung mit günstigem Zinssatz wie dem japanischen Yen und die Anlage in einer höher verzinslichen Währung, sowie Spekulationen gegen das britische Pfund Anfang der 1990er Jahre weiteten das Fremdwährungsgeschäft aus, so dass daraus eine eigene Anlageklasse entstand. Gab es früher einzelne unabhängige Finanzprodukte, wurden nach und nach derivative Finanzprodukte geschaffen, die mehrere Finanzprodukte zusammenführten. Derivate wiederum erlaubten die Verknüpfung von Märkten heute und Märkten in einem Jahr. In den 2000er Jahren konnte dann durch Kreditderivate das Ausfallrisiko separat gehandelt werden. Das verknüpfte den Kreditmarkt mit anderen Finanzmärkten.

Sachlich, räumlich und temporal wurden so die einzelnen Märkte immer mehr miteinander verknüpft. Mathematisch gesprochen nahm die Korrelation zwischen den Marktpreisen zu. Immer mehr wurde aus vielen unverbundenen Finanzmärkten ein einziger großer Finanzmarkt, der sich zunehmend synchron verhielt, so dass im Herbst 2008 praktisch alle Preise gleichzeitig in den Keller gingen.

Schuldenhebel als Verstärker

Eine besondere Rolle bei der Wechselwirkung zwischen den Finanzmärkten spielt der Verschuldungshebel, im Englischen leverage genannt. Wenn alle Akteure nur mit eigenem Geld wirtschaften, müssen sie Verluste selbst ausbaden. Vor allem aber besteht für sie kein Druck, andere Finanzprodukte zu verkaufen, um ihrerseits ihre Kreditgeber auszahlen zu können. Sie können einiges abpuffern und erst mal abwarten, ob die Preise nicht wieder ansteigen. Anders ist das bei einem hohen Verschuldungsgrad. Wenn ein Hedgefonds zu 80 Prozent schuldenfinanziert ist und nur 20 Prozent Anlagegelder von Kundinnen und Kunden hat, dann muss er etwa bei einem deutlichen Preiseinbruch von Aktien schnell verkaufen, um seine Schulden noch bedienen zu können. Das verstärkt den Druck auf die Aktienpreise. Je höher der Verschuldungsgrad der einzelnen Akteure, desto mehr verstärken sie ursprüngliche Preisrückgänge durch ihr eigenes Handeln. Der extrem starke Anstieg der Verschuldungsquoten in den letzten Jahrzehnten hat damit die Wechselwirkung zwischen den Akteuren und folglich die Instabilität an den Märkten massiv verstärkt. Änderungen in der Regulierung haben diese Tendenz nicht nur nicht verhindert, sondern sie sogar ermöglicht.

Besonders deutlich ist das bei kurzfristigen Interbankenkrediten, die sehr wesentlich zum Wachstum der Bankbilanzen beigetragen haben. In den gut 30 Jahren von 1980 bis heute explodierten die Bankbilanzen geradezu. Die Bilanz der Deutschen Bank z. B. hat sich in diesen drei Jahrzehnten mehr als vervierzigfacht (mal 40!), von etwa 53 Milliarden Euro im Jahr 1980 auf über zwei Billionen heute.25 Den Banken war allerdings nicht nur das Einwerben von wirklich stabilem Eigenkapital zu mühsam. Nein, sie verlegten sich auch auf die billigste Form der Refinanzierung: auf kurzfristige, meist täglich fällige Verbindlichkeiten.26

Diese Kurzfristkredite haben die Ansteckungskanäle zwischen den Banken deutlich verstärkt. Denn wenn eine Bank ihre Kredite nicht mehr bedienen kann, führt das unmittelbar zu Verlusten bei den Geldinstituten, die ihr diesen Kredit gewährt haben. Vor allem aber, wie das im Herbst 2008 der Fall war, geht die kurzfristige Kreditvergabe sehr stark zurück, sobald die Stabilität mancher Banken angezweifelt wird. Wenn eine Bank sich zu großen Teilen über solche täglich fälligen Verbindlichkeiten finanziert und dann viele Gläubiger realisieren, dass deren undurchsichtige Geschäfte nicht vertrauenswürdig sind, steht sie plötzlich ohne Geld da.

Ein stärkerer Hebel entsteht allerdings nicht nur bei einer höheren Fremdkapitalfinanzierung. Wirklich rund geht es erst, wenn ich ohne eigenen Einsatz spielen darf. Wo ist das möglich?

Als Negativbild der Finanzmärkte wird gerne die Metapher des Kasinos bemüht. Es gibt jedoch weit weniger Kasino- als Finanzkrisen. Komisch, oder? Der Grund ist einfach. Im Kasino müssen Spieler zu Beginn eines jeden Spiels den Einsatz vorweisen. So ist gewissermaßen a priori sichergestellt, dass der Spieler für seine Spiele haftet, also dass er auch zahlen kann, wenn er verliert. Da die Zahlungsfähigkeit jedes einzelnen Spielers so sichergestellt ist, sind die Spiele der einzelnen Spieler in dem Sinne voneinander unabhängig, dass ein Verlust eines Spielers in einem Spiel keine Kettenreaktionen von Zahlungsunfähigkeiten auslöst, die wiederum anderen Spielern Verluste bescheren.

Hier besteht ein großer Unterschied zur gegenwärtigen Ordnung der Finanzmärkte. Beispielsweise durch den Handel mit Derivaten können Gewinne und Verluste entstehen, die das, was der »Spieler« als Einsatz »auf den Tisch gelegt hat«, weit übersteigen. Ganz ähnlich funktioniert die Wette auf fallende Kurse anhand sogenannter Leerverkäufe. Man leiht sich einen Finanztitel und verkauft ihn in der Hoffnung, ihn zu einem späteren Zeitpunkt billiger zurückzukaufen und dem Verleiher zurückzugeben. Steigen die Kurse aber unerwartet, ist nicht gesichert, dass der »Spieler« die Kosten seiner verlorenen Wette tragen kann. Der Verleiher bekommt seine Aktien im schlechtesten Fall gar nicht zurück und gerät dann selbst in die Bredouille. Der Unternehmer Adolf Merckle spekulierte beispielsweise 2008 mithilfe von Derivaten in solcher Weise, dass er versprach, VW-Aktien in der Zukunft zu liefern. Diese Aktien hatte er allerdings nicht. Als der Preis der Aktien unerwartet in die Höhe schnellte, beliefen sich die Forderungen gegen Merckle auf ein so großes Volumen, dass seine Gegenparteien darum bangen mussten, ob er diese würde begleichen können.

Im Gegensatz zum Kasino ist der Einsatz bei Derivategeschäften oder Leerverkäufen nicht vor-, sondern nachzuschießen. Hier zeigt sich eine Asymmetrie von Gewinnchancen und Haftung. Mithilfe derartiger Finanzgeschäfte können Wetten eingegangen werden, ohne dass klar ist, dass daraus entstehende Forderungen auch beglichen werden können. Dadurch wird das Haftungsprinzip unterlaufen. Bei gutem Verlauf werden die Gewinne realisiert, bei schlechtem meldet der Spieler Insolvenz an. Wird eine kritische Masse erreicht, bedingt die Zahlungsunfähigkeit eines Akteurs in einer Kettenreaktion die Zahlungsunfähigkeit weiterer Akteure.

Das Größenwachstum am Derivatemarkt geht deshalb einher mit einer immer stärkeren Ansteckungsgefahr. Denn die Verluste aus Derivategeschäften können sehr hoch werden. Das wurde bei spektakulären Fällen wie dem des Londoner Investmentbankers Kweku Adoboli deutlich, der bei der Schweizer UBS mit Fehlspekulationen einen Verlust von zwei Milliarden Franken verursachte.27

STARKER EINFLUSS AUF DIE GESELLSCHAFT

In den letzten Jahrzehnten wurde das instabile System der Finanzmärkte also immer größer, vernetzter, schneller. Und diese Instabilität überträgt sich außerdem stärker als vor 30 Jahren auf den Rest der Volkswirtschaft, weil die Finanzmärkte stärker mit realwirtschaftlichen Märkten verbunden sind. Diesen Prozess des Übergreifens der Finanzmarktlogik auf andere Märkte bezeichnet man als Finanzialisierung.

Die Instabilität ist damit für unsere Gesellschaft viel gefährlicher geworden. Deshalb muss bei allen politischen oder wirtschaftlichen Entscheidungen als exogene Größe die Irrationalität großer Finanzströme mitgedacht und immer als Machtfaktor berücksichtigt werden, der eigentlich in einer Marktwirtschaft nicht vorgesehen ist.

Nahrungsmittelspekulation

Nirgendwo wird das so deutlich wie bei der Nahrungsmittelspekulation. Die Preise für Lebensmittel brechen auf den Grundstoffmärkten Rekorde, um kurz danach wieder beträchtlich zu fallen. Dies geht weit über die zyklischen konjunkturellen Schwankungen hinaus, da eine ganze Reihe von neuen Akteuren diese Märkte aufmischt. Von Privatanlegern über Banken bis zu Hedgefonds und Versicherungen: viele Investorengruppen haben agrarische Grundstoffe in Zeiten krisenbedingter Verunsicherung, gestiegener Inflationserwartung und niedriger Zinsen als neue Anlageform für sich entdeckt. Viel spricht dafür, dass der Zufluss dieser neuen Milliarden nicht nur die Preise nach oben treibt, sondern vor allem auch ihre Schwankungen verstärkt – und zwar losgelöst von den eigentlichen fundamentalen Angebots- und Nachfragedaten.

Der Weizenmarkt ist dafür ein prägnantes Beispiel. Obwohl im Jahr 2008 die Weizenvorräte deutlich über denen der 1990er Jahre lagen und auch der Verbrauch geringer war als die Produktion, erreichte der Weizenpreis ein Rekordhoch. Im globalen Süden kam es in diesem Jahr zu äußerst gewalttätigen Hungerprotesten.28

Denn die Menschen in armen Ländern geben, anders als wir in den Industrieländern, nicht etwa 10 bis 20 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus, sondern meist über 80 Prozent. Da treiben selbst kleine Schwankungen die Menschen schnell in den Hunger. »Allein 2010 wurden durch höhere Nahrungsmittelpreise 40 Millionen Menschen zusätzlich zu Hunger und absoluter Armut verdammt. Die Spekulationen mit Lebensmitteln wie Mais, Soja und Weizen an Rohstoffbörsen stehen im dringenden Verdacht, diese Armut und den Hunger mitverursacht zu haben«, berichtet Harald Schumann, der für die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch die Studie Hungermacher vorgelegt hat.29 Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt die Nichtregierungsorganisation Oxfam in ihrer so treffend betitelten Studie Mit Essen spielt man nicht.30

Natürlich brauchen landwirtschaftliche Produzenten genauso wie ihre Kundinnen und Kunden Planungssicherheit. Deswegen sind Finanzprodukte, die gegen Unsicherheit schützen, nicht verwerflich. Auch wäre es falsch, hier pauschal gegen »Spekulanten« zu wettern. Menschen oder Firmen, die an den Rohstoffmärkten gezielt Risiken übernommen haben, hat es immer gegeben. Sie sind das Gegenstück zur Absicherung des Landwirts. Problematisch ist vielmehr der gestiegene Anteil derjenigen an den Märkten, die nur für den Spekulationsgewinn mitspielen. Damit hängt die Preisentwicklung auf den einzelnen Rohstoffmärkten immer weniger mit den Knappheitsverhältnissen auf diesen Märkten zusammen und immer mehr mit Entwicklungen, die sich auf den Finanzmärkten insgesamt abspielen.

Immobilienmärkte

Ein Markt, der bei Finanzkrisen häufig im Zentrum steht, ist der Immobilienmarkt. Ob in Spanien, in Irland oder in den USA – die Immobilienblase war in diesen Ländern der Kern der Finanzkrise und hat sie ökonomisch an den Abgrund geführt. Das ist ja im ersten Kapitel schon deutlich geworden. Aber auch in anderen Ländern gab es Schwierigkeiten bei der Immobilienfinanzierung. In Ungarn haben Immobilienkäufer ihre Häuser über Fremdwährungskredite finanziert, insbesondere in Schweizer Franken, und sind dann in Schwierigkeiten geraten, als der Schweizer Franken in der Krise massiv aufwertete und ihre Kredite plötzlich extrem schwer zu bedienen waren.

Umso mehr muss man aufmerken, wenn jetzt viel Kapital nach Deutschland strömt. Viele Investoren versuchen, ihr Geld angesichts der Unsicherheit an den Finanzmärkten nun in »Betongold« sicher anzulegen. Das treibt die Preise, aber nicht deshalb, weil die Immobilien plötzlich viel mehr wert wären. Nein, es hat mit dem Zustrom von Kapital zu tun. Wenn etwa in München die Preise für Neubauwohnungen im Jahr 2012 um ganze 25 Prozent gestiegen sind31, fällt es mir schwer, dies nicht als Blase zu bezeichnen. Die Bundesbank spricht in Ballungsgebieten gar davon, dass insbesondere Wohnungen mittlerweile um bis zu 20 Prozent überbewertet sind und damit Preise verlangt werden, die »sich fundamental nur noch schwer rechtfertigen lassen«.32

Das hat negative Rückwirkungen auf die Menschen, die jetzt langfristig Wohnraum für ihre Familie erwerben wollen oder zur Miete wohnen. Eine Familie mit normalem Einkommen kann mit den Preisen, die Finanzinvestoren zahlen, nicht mithalten. Und für die Mieter steigen die Preise. Menschen mit geringeren Einkommen müssen in ärmere Stadtviertel umziehen. So beklagen jetzt viele die »Gentrifizierung« ihrer Stadtteile. Diese ist aber nicht so sehr ein lokales Phänomen allein. Sie hat wesentlich mit dem Zustrom von Kapital zu tun, mit der Tatsache, dass der deutsche Immobilienmarkt Anlageobjekt ist. An vielen Stellen sind deshalb nicht mehr Angebot und Nachfrage nach Wohnraum entscheidend für die Preisbildung, sondern Veränderungen an den Finanzmärkten.

Dieses Phänomen trifft nicht nur Häuser und Wohnungen, sondern auch Agrarland. »Motor für diese Entwicklung ist die Finanzkrise«, berichtet Harald Schumann, der für eine Recherche im brandenburgischen Hinterland unterwegs war.33 »Weil der Kapitalmarkt kaum noch sichere Anlagen bietet, gilt Ackerland als begehrtes Investment. Darum findet der weltweite Einstieg des großen Kapitals in die Agrarproduktion, den Afrikas Bauern als Landraub (›Landgrabbing‹) anprangern, auch in Europa statt und ganz besonders in der ostdeutschen Provinz. […] Gleichzeitig bieten Fondsgesellschaften Kapitalanlegern die Möglichkeit, auf den Wertzuwachs von Agrarland zu spekulieren, ohne selbst Betriebe führen zu müssen. […] So fließt über alle möglichen Kanäle immer mehr Kapital in den Kauf ostdeutscher Agrarbetriebe.«

Dementsprechend gibt es eine große Nachfrage nach Agrarland, die Preise steigen. Die bäuerliche Landwirtschaft kann da nicht mithalten, wenn es darum geht, Flächen dazuzukaufen oder -pachten. Auch hier sind es nicht im Wesentlichen Veränderungen in der Landwirtschaft, die die Preisänderungen erklären, sondern Entwicklungen an den Finanzmärkten. Die eigentliche Aufgabe des Landpreises, Angebot und Nachfrage nach landwirtschaftlichen Flächen zusammenzubringen, wird durch den Zustrom von Anlagegeld gestört.

Außerdem führt diese Entwicklung zu einer enormen Konzentration von Fläche und damit von Vermögen und Marktmacht in den Händen weniger großer Betriebe. Eine einschlägige Studie kommt zu dem Ergebnis: »Eindeutige Wirkungen hat das Engagement von nichtlandwirtschaftlichen Investoren […] hinsichtlich der Eigentumskonzentration.«34

Finanzmärkte setzen Staaten unter Druck

Die Büffelherde donnert über die Getreidefelder. Das ist sicher ein krasses Bild. Aber letztlich haben wir genau das in den letzten Jahren erlebt, oder? Getrieben von der Angst, dass »die Finanzmärkte« in Panik geraten könnten, wurden viele politische Entscheidungen nicht mehr an den langfristigen Interessen eines Landes ausgerichtet, sondern an der Notwendigkeit, kurzfristig die Investoren zu überzeugen.

So erhöhte sich die Kindersterblichkeit in Griechenland nach drastischen Einsparungen im Gesundheitsetat um 40 Prozent. Die HIV-Infektionen stiegen rapide an, weil keine sauberen Nadeln mehr an Drogensüchtige ausgeteilt werden konnten.35 Ist eine solche Politik langfristig kostensparend? Natürlich nicht. Aber kurzfristig. Und die Sicht der Finanzmärkte mit ihrer Parole: »Jetzt muss Griechenland schnell zeigen, dass es zu harten Einsparungen bereit ist«, erzwang genau diese kurzfristige Perspektive. Ähnliches gilt für die Massenarbeitslosigkeit in den Krisenländern, die dramatische Folgen hat und haben wird. Nicht nur steigt die Selbstmordrate angesichts einer um sich greifenden Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit an. Nein, Menschen, die über längere Zeit arbeitslos waren, verlieren auch den Anschluss – ökonomisch gesprochen: Ihr Humankapital verfällt. Doch die Finanzmärkte erzwingen eine kurzfristige Sanierung, ganz unabhängig davon, wie sie sich langfristig auswirkt. Das ist eigentlich paradox: Denn Finanzmärkte sollen eigentlich gerade dazu dienen, Vorsorge für die Zukunft zu betreiben oder Zukunftsinvestitionen zu finanzieren. Sind sie sinnvoll reguliert, erlauben sie gerade, kurzfristige Finanzengpässe oder -überschüsse auszugleichen. Ihre aktuelle Wirkung auf die Staaten ist jedoch das Gegenteil davon.

Damit kommt es genau zur »marktkonformen Demokratie«, ein Begriff, der die politische Haltung von Angela Merkel richtig wiedergibt, auch wenn sie selbst das wohl nie so gesagt hat.36 Die Staaten sind, um es in den Worten von Frank Schirrmacher zu sagen, »ökonomisch in ihrem Handlungsspielraum so eingesperrt, wie es die Welt des Kalten Kriegs militärisch war«.37 Ist das nur eine Folge ihrer Verschuldung? Nicht nur. Denn in früheren Zeiten hätte es die Möglichkeit gegeben, mit Schuldnern über längerfristige Perspektiven zu reden. Heute sind die Finanzmärkte größer, schneller und vernetzter geworden und dadurch auch anonymer. Regierungen können zwar in Krisensituationen mit einzelnen Akteuren reden, insgesamt aber die kurzfristig orientierte Eigenlogik des Systems nicht mehr wirklich durchbrechen.

Wie oft haben wir als Begründung für die Zeitpläne der Krisenretter gehört, dass am frühen Morgen in Asien die Börse öffnet und davor der Rettungsplan fertig sein muss, auch wenn dadurch Handlungsalternativen, die für die Steuerzahlerin besser wären, unter den Tisch fallen? Bei der Griechenland-Rettung gab es die Angst vor dem Zusammenbruch der Märkte für Kreditversicherungen (Credit Default Swap, CDS). Diese war zwar in diesem Fall übertrieben, aber wer weiß schon, wie die Marktreaktion im Ernstfall ausgesehen hätte. Mit genau dieser Angst vor Marktreaktionen – »Ansteckungseffekten« – trieben in den letzten Jahren die Finanzmärkte die Politik vor sich her.

DIE UMVERTEILUNGSMASCHINE

Das Versprechen, das mit der Deregulierung der Finanzmärkte verbunden war, beinhaltete nicht nur, dass die Wirtschaft wächst, sondern auch, dass von diesem Wachstum alle profitieren würden. Man müsse nur die Fesseln der Finanzakrobaten lösen, dann wären eine effizientere Wirtschaft, neue Arbeitsplätze und steigender Wohlstand für alle die Folge. Doch der gewachsene Reichtum kam nur wenigen zugute. Schulden und Vermögen sind zwar zwei Seiten ein und derselben Medaille, aber eben nicht bei jedem Einzelnen. Die einen haben die Vermögen und die anderen die Schulden! Eine Schuldenkrise ist daher nicht nur eine Vermögenskrise, sondern immer zugleich auch eine Verteilungskrise. Erstaunlicherweise ist diese Erkenntnis erst relativ spät mit der Finanzkrise in Verbindung gebracht worden, obwohl es ziemlich logisch ist, dass, wenn Schulden und Geldvermögen wachsen, auch die Ungleichheit zunimmt.

Zieht man bei Privathaushalten von deren Geld- und Sachvermögen die Schulden ab, erhält man das Reinvermögen. Die obersten 10 Prozent der Deutschen besitzen davon heute 66,6 Prozent (1970 waren es »nur« 44 Prozent38), das vermögendste Prozent allein nennt 35,5 Prozent sein Eigen. Dagegen kommt die ärmere Hälfte der Bevölkerung auf gerade einmal 1,4 Prozent. Und die Tendenz ist weiterhin düster, denn im Zeitraum von 2002 bis 2007 ist der Anteil der obersten 10 Prozent gestiegen, während der Anteil der unteren 90 Prozent am Vermögen gesunken ist.39

In den USA ergibt sich ein ganz ähnliches Bild. Dort besaß 2010 allein das reichste Bevölkerungsprozent 34,6 Prozent des Reinvermögens, die obersten 10 Prozent bringen es gemeinsam auf 73,1 Prozent.40 Das reichste Prozent hält 48,8 Prozent aller Aktien und Anteile an Investmentfonds, die obersten 10 Prozent kommen auf unglaubliche 91,4 Prozent. Und bei Unternehmensanteilen stehen die Amerikaner den Deutschen ebenfalls in nichts nach: 61,4 Prozent des Eigenkapitals der Unternehmen ist im Besitz des reichsten Prozents!41 Gleichzeitig können viele US-Amerikaner ihre Schulden nicht mehr bedienen.

Und auch auf globaler Ebene verfestigt sich diese eklatante Schieflage: Laut Schätzungen der Credit Suisse besitzt die Hälfte der Weltbevölkerung gerade einmal 1 Prozent des Weltvermögens, während die reichsten 10 Prozent sagenhafte 86 Prozent und die globale Ein-Prozent-Elite unvorstellbare 46 Prozent auf sich vereinigen.42

Ungleichheit als Ursache und Folge der Expansion der Finanzmärkte

Und was hat das alles jetzt mit den Finanzmärkten zu tun? Nun, die Einkommen waren 2007 so ungleich verteilt wie zuletzt im Jahr 1929, vor der damaligen Weltwirtschaftskrise, während in den Jahren starker Regulierung der Finanzmärkte die Einkommenskonzentration vergleichsweise gering ausfiel.43 Stagnierende Realeinkommen breiter Teile der Bevölkerung und eine Sozialpolitik, die diesen Namen nicht verdient, trieben in den letzten Jahren viele US-Bürgerinnen und -Bürger in die Überschuldung – zwischen 1990 und 2008 stieg das Verhältnis von Schulden zu verfügbaren Haushaltseinkommen von 77 auf 127 Prozent.44 Dieses Verhältnis von Schulden zu den Einkommen, aus denen sie bedient werden, sollte eigentlich immer relativ stabil bleiben. Denn wenn ich nicht mehr verdiene, dann helfen auch die ganzen Schulden nicht, reicher zu werden. Der starke Anstieg der Schulden im Verhältnis zu den Haushaltseinkommen ist also ein wichtiges Indiz dafür, dass etwas aus dem Ruder läuft.

»Lass sie doch Kredite fressen« – so fasst Raghuram Rajan, der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, die politische Strategie zusammen, mit der mittellose Amerikaner dazu verleitet wurden, die wachsende Kluft zwischen Einkommen und Ansprüchen durch Verschuldung zu schließen.45 Er wirft der Politik in den USA vor, der skandalösen Ungleichheit nicht durch bessere Bildung, höhere Sozialausgaben oder Umverteilung begegnet zu sein, sondern sich zynischerweise ganz der Palliativmedizin, also dem Kampf gegen Symptome, gewidmet zu haben. Die von Abstiegsängsten geplagte Mittelklasse wurde durch Kredite eine Weile lang ruhiggestellt, während eine immer kleinere Gruppe Vermögender reicher und reicher wurde.

Diese Vermögenden aber konnten gar nicht all ihr Einkommen konsumieren und waren auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten. Je höher das überschüssige Kapital, desto intensiver die Suche nach rentablen Papieren – und desto höher natürlich die Bereitschaft, volles Risiko einzugehen. So investierten besonders sogenannte High Net Worth Individuals, also Menschen mit einem Anlagevermögen von über einer Million US-Dollar, und die von ihnen finanzierten Fonds in die riskanten Papiere, die die Subprime-Krise begründeten.46

Hier schließt sich der Kreis, beide Phänomene passen zusammen: Die Vermögenden kauften die Schuldpapiere, hinter denen die Hypotheken der verarmten amerikanischen Mittelschicht standen. Die Finanzmärkte wurde größer und größer, während Schulden und Vermögen wuchsen. Hätten beispielsweise höhere Löhne dazu geführt, dass von den in den Unternehmen erwirtschafteten Erträgen mehr bei den Arbeitnehmern und weniger bei den Aktionären angekommen wäre, dann hätten sich die Arbeitnehmer nicht so hoch verschulden müssen, um ihren Lebensstandard zu halten, und die Vermögenden hätten nicht so viele Schuldtitel kaufen können. Die Finanzblase wäre kleiner gewesen oder gar nicht erst in dieser Form entstanden. Selbst der Internationale Währungsfonds, wahrlich kein Hort linker Umverteilungsfantasien, kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass eine hohe Vermögenskonzentration zu einem höheren Anteil risikoreicher Investitionen führt.47

Das alles gilt nicht nur für die USA, sondern generell. Deregulierte Finanzmärkte sind eine Umverteilungsmaschine von unten nach oben. Denn die Profis an den Finanzmärkten sind im Vorteil. Dieser Effekt ist schon im 18. Jahrhundert von dem Bankier Richard Cantillon beschrieben worden:48 Wer Scheinvermögen in Umlauf bringt, kann damit viel Reales kaufen, bevor deren Entwertungsprozess einsetzt und bei allen ankommt. Von diesem Effekt profitierten genau diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten die leeren Versprechungen der neuen Schuldner, etwa der arbeitslosen Hausbesitzer, an ahnungslose Anleger verkauften, bevor der ganze Schein aufflog. Sie haben die neu geschaffenen Scheinvermögen zur richtigen Zeit abgegeben und das so verdiente Geld in reale Werte investiert. Und auch die Bankerboni und Provisionen sind gerne genommen und in Häuser, Autos oder andere Sachwerte investiert worden.

Die tausend kleinen Finanzkrisen

Diesen Effekt kann man leider an vielen Einzelschicksalen nachzeichnen. So vertrauten viele Menschen in Deutschland den Empfehlungen eines Finanzdienstleisters mit dem neutralen Namen Allgemeiner Wirtschaftsdienst, bekannter als AWD. Dessen Geschäftsmodell bestand darin, möglichst vielen Kundinnen und Kunden möglichst viele Finanzprodukte zu verkaufen, um dafür größtmögliche Provisionen zu kassieren. Der Gründer des Unternehmens, Carsten Maschmeyer, verdiente damit in wenigen Jahren Millionen. Für seine Kundinnen und Kunden jedoch wurde die Geschäftsbeziehung häufig zum Desaster.49 Organisiert war der AWD wie andere große Finanzvertriebe als Strukturvertrieb. Das System solcher Unternehmen beruht auf niedrigen Qualifikationsstandards.50

Die Karriere der Außendienstmitarbeiter in solchen Strukturen beginnt teilweise nach nur einem Wochenendseminar. Ausgestattet mit diesem gefährlichen Halbwissen in Finanzfragen, starten sie dann mit dem Verkauf von Geldanlage- und Versicherungsprodukten. Natürlich reicht ein Schulungswochenende nicht aus, um Kundinnen und Kunden eine ganzheitliche Finanzberatung zu gewährleisten. Aber darauf kommt es einem Finanzvertrieb auch nicht an. Was zählt, sind Provisionen und das Erreichen von Vertriebszielen. Schaffen die Außendienstmitarbeiter das, dann steigen sie innerhalb der Pyramide eine Stufe auf und können dann eigene Vermittler akquirieren, von deren Vertragsabschlüssen und dem dadurch generierten Provisionsaufkommen sie dann wiederum profitieren. Da die Provisionen einen erheblichen Anteil des Monatsgehalts ausmachen, besteht ein stetiger Druck, neue Kundinnen und Kunden zu werben und Produkte zu verkaufen.

Insbesondere die geschlossenen Immobilien-, Schiffs- und Medienfonds51 waren für jede Finanzvermittlerin eine lukrative Provisionsquelle. Tausenden Anlegern brachten diese Fonds allerdings dramatische Verluste und ruinierten ihre sicher geglaubte Geldanlage fürs Alter. Den Menschen wurden die Fondsanteile mit Steuervorteilen schmackhaft gemacht und als sichere Investments angepriesen. Verschwiegen wurde, dass der Anleger, der einen solchen Fonds zeichnet, in der Regel Unternehmer wird mit allen Verpflichtungen und Risiken, die mit einer solchen Beteiligung einhergehen. Und so staunten viele Kleinsparer, denen eine sichere Geldanlage fürs Alter versprochen wurde, nicht schlecht, als sie bei Schieflage des Fonds nicht nur das investierte Geld verloren, sondern auf einmal Ausschüttungen zurückgefordert wurden und sie sich mit Nachschusspflichten konfrontiert sahen.

Beispiel Immobilienfonds: So ging die Falk-Gruppe, einer der größten deutschen Anbieter geschlossener Immobilienfonds, im Jahr 2005 in die Insolvenz. Fast 30 000 Anleger hatten 3,2 Mrd. Euro in die 80 aufgelegten Falk-Fonds investiert.52 Sie mussten dem Insolvenzverwalter insgesamt 18 Millionen Euro Ausschüttungen zurückzahlen und verloren jeweils Tausende von Euro.53 Was die bereits eingetretenen oder noch drohenden Verluste angeht, trifft es die Anleger, die in die Fonds der Fundus GmbH investiert hatten, nicht viel besser. Der Anlegerschutzanwalt Peter Mattil berichtete mir, dass bei diesen Fonds, hinter denen der verschiedentlich wegen Untreue angeklagte Immobilienunternehmer Anno August Jagdfeld steht (einer der Fonds finanzierte beispielsweise das Hotel Heiligendamm), ein System voller Interessenverquickungen sichtbar wurde. Das System in den Jagdfeld-Fonds: Alle Funktionen werden von Unternehmen ausgeübt, die von ihm beherrscht werden – so etwa die Bau-/Sanierungsgesellschaft, die Innenarchitektin (Jagdfelds Frau), Treuhänder, Mietgarant usw. Dadurch habe Jagdfeld so viel Geld aus den Fonds gezogen, dass für die Anleger kaum etwas übrig blieb.

Ein weiterer Fall, von dem mir Peter Mattil berichtete, blieb mir besonders im Gedächtnis. So sollen die Fondsgesellschaften MPC Global Equity Gmbh & Co. KG und Zweite MPC Global Equity GmbH & Co. KG zwischen November 1999 und September 2000 je ca. 100 Millionen Euro an Anlegergeldern für Investitionen in außerbörsliches Eigenkapital (Private Equity) eingeworben haben. Angepriesen wurde der Prospekt damit, dass erst die Anleger ihr komplettes Geld nebst Rendite zurückerhalten sollten, bevor die beteiligten Manager ihr Geld bekämen. Klingt gut, oder? Sowohl die Vermittler als auch die Anleger verstanden dies als faire Regelung und Ausdruck dessen, dass die Fondsinitiatoren das Risiko mittragen. Nach einigen Jahren überprüften die Anleger diese Aussage und mussten Trauriges feststellen. So soll sich das Management (eine Firma der MPC-Gruppe) etwa 20 Millionen Euro an Gebühren herausgezogen haben, obwohl die Fonds keinerlei Gewinne erwirtschafteten. Entscheidend dafür war, wie mir Mattil erklärte, eine versteckte Klausel auf Seite 80 des Prospektes.

Oder nehmen wir die Lebensversicherungsfonds, die ab 2004 auf den deutschen Markt kamen. Eine Reihe dieser Fonds wurde von der Berlin Atlantic Capital (BAC) aufgelegt. Die Initiatoren betrieben ein Schneeballsystem, bei dem die Einzahlungen neuer Kundinnen und Kunden im Wesentlichen nicht für den vorgesehenen Kauf von Lebensversicherungspolicen genutzt wurden, sondern für Auszahlungen an die bestehenden Investoren. Horrende Verluste für Anleger, während die Initiatoren sich an üppigen Vertriebskosten und Provisionen in Millionenhöhe bereicherten.

Es ist durchaus üblich, wenn 15 oder 20 Prozent des von den Anlegern eingezahlten Kapitals an die vermittelnde Bank oder den Finanzvertrieb geht.54 Peter Mattil wies im Fall eines Schiffsfonds (Emittent Owner Ship) sogar nach, dass die die Fondsanteile verkaufende Comdirect eine Provision von 23,5 Prozent kassierte. Bei solchen Zahlen ist es kein Wunder, dass bei Eintritt der kleinsten Krise der Fonds in Schieflage gerät.

Ganz allgemein ist auch mit Blick auf die vielen aufgelegten Schiffsfonds bemerkenswert, dass in Deutschland bisher praktisch nicht wahrgenommen wurde, welche enorme Schiffsfinanzierungsblase dadurch verursacht wurde. Ein Drittel aller Containerschiffe weltweit wird über Deutschland finanziert.55 Weil unheimlich viel Anlegergeld, durch steuerliche Vorteile auch noch angestiftet, in Schiffsfonds floss, entstand durch Neubauten eine starke Überkapazität. Mit dem Rückgang des Handels in der Finanzkrise gingen dann sehr viele Schiffsfonds pleite. Tragisch für die Anleger.

Die Liste aus Mattils Praxis ließe sich beliebig fortführen. So sollen von den 400 Millionen Euro, die die Fondsgesellschaft eines VIP-Medienfonds bei Anlegern einsammelte, nur 80 Millionen in die Filmproduktion geflossen sein. Der Global View Fonds, an dem sich 10 000 Kleinanleger beteiligten, um Riesenräder in Peking, Orlando und Berlin zu bauen, hat zwar 200 Millionen Euro eingesammelt, aber die Riesenräder entstanden nie. Lug und Betrug ohne Ende, während die Initiatoren, Vertriebe und andere Funktionsträger sich ein luxuriöses Leben gönnen.56

Schrottimmobilien

Besonders widerlich sind die Fälle der Schrottimmobilien. Hier haben die Menschen nicht nur das Geld verloren, das sie hatten. Manche sind durch wenige Unterschriften nicht nur um ihr gesamtes Vermögen gebracht worden, sondern sogar in die Überschuldung geschlittert. Denn indem man sie zum Kauf einer Immobilie zu einem völlig überhöhten Wert veranlasste und dafür einen Kredit vergab, brachte selbst deren späterer Verkauf dem geprellten Kunden keine finanzielle Erleichterung. Die den Wert der Bruchbude überschießende Kreditsumme mussten sie immer noch abtragen. In der 1990er Jahren gab es etwa 300 000 solcher Fälle. Und in jüngster Zeit taucht das Phänomen wieder auf. Groß mit dabei ist die Deutsche Kreditbank, eine Tochter der BayernLB.57 Natürlich wenden hier manche ein, ob nicht die Menschen, die die Verträge zum Erwerb einer kreditfinanzierten Immobilie unterzeichnen, selbst schuld seien. Ein bisschen schon. Andererseits waren viele Menschen dem cleveren Zusammenwirken des Trios aus Finanzvermittler, Bank und Notarin hilflos ausgeliefert. Diese konnten absahnen.

Nur wenige Fälle von Anlagebetrug werden, weil sie besonders krass sind und besonders viele Anleger betreffen, öffentlich bekannt. Bernard L. Madoff in den USA ist mit 64,8 Milliarden US-Dollar58 wohl der größte und bekannteste Fall. In Deutschland haben die Fälle Engler, Teldafax, Kiener, Phoenix sowie S&K besondere Aufmerksamkeit erregt. Jeweils geht es um einige Millionen Euro und um Zehntausende Anleger. Wenn man das einmal zusammenrechnet, muss man davon ausgehen, dass Millionen Deutsche in den letzten Jahren nach Strich und Faden abgezockt wurden. In der deutschen Öffentlichkeit hat natürlich die große Lehman-Pleite mehr Furore gemacht. Ich finde aber diese vielen Tausende kleiner Finanzkrisen mindestens genauso wichtig.

So hat die schlechte Regulierung der Finanzmärkte eine Umverteilung zugunsten weniger erlaubt. Denn natürlich wussten viele Finanzexperten lange vor den einfachen Kundinnen und Kunden, dass nicht alles mit rechten Dingen zuging, dass die schönen Zahlen nur auf dem Papier auch schöne Vermögen waren. Ihre eigenen Einkommen investierten die Experten deshalb meist sehr sicherheitsorientiert, während den Kundinnen und Kunden wackelige Produkte empfohlen wurden. Das ist genauso wie auf dem Geflügelhof, wo der Bauer die von ihm erzeugten Hühnchen selbst nicht isst. So beschrieb der Deutschbanker Hilmar Kopper einmal seine Anlagestrategie sehr klar: »Mein eigenes Geld habe ich selbstverständlich solide angelegt. Etwas Aktien, ein paar Fonds, festverzinsliche Wertpapiere – und kein einziges Zertifikat.«59 Wie vielen Bankkunden in Deutschland wäre Kummer erspart geblieben, wenn ihre Anlageberaterin ihnen genau das empfohlen hätte?

Die Einkommen der Banker

Dieses Phänomen der Umverteilung zugunsten der Teilnehmer an den Finanzmärkten lässt sich auch bei den Einkommen nachweisen. In den USA beispielsweise lagen 1982 die Profite der Finanzindustrie gemessen an allen Gewinnen noch bei 7 Prozent. Damals erfüllten die Banken noch das klassische Dienstleistungsgeschäft für die Realwirtschaft: Sparmöglichkeit und Kreditvergabe, hauptsächlich langweilige Kreditinstitute eben. Doch dann kam die große Expansion der Finanzmärkte, ausgelöst durch mehrere Deregulierungsschritte. Gegen Ende desselben Jahrzehnts hatte der Sektor seinen Anteil an den Gesamtgewinnen der US-Volkwirtschaft mit knapp 20 Prozent bereits fast verdreifacht, um 2002, kurz nach dem Jahrtausendwechsel, auf unglaubliche 40 Prozent anzuwachsen.60 Der Finanzsektor hatte es Anfang des Jahrtausends geschafft, der realen Wirtschaft, also den Unternehmen und Haushalten, 40 Prozent aller Gewinne vorzuenthalten. Diese Proportionen sind umso erstaunlicher, als die Finanzindustrie nur 20 Prozent zur Bruttowertschöpfung des Landes beiträgt.61 Man kann also vereinfachend sagen: Die Profite sind doppelt so hoch, wie sie sein sollten! Noch augenscheinlicher wird dieses Phänomen, wenn man bedenkt, dass dieser Sektor nur 5 Prozent der Arbeitnehmer beschäftigt.62

Während viele dieser Angestellten überschaubare Gehälter haben, ist bei manchen die Vergütung ihrer Tätigkeiten durch die Decke geschossen. Da will ich gar nicht auf spektakuläre Einzelfälle eingehen, auch wenn 2,2 Milliarden Dollar in einem Jahr für den Hedgefonds-Manager David Tepper natürlich exzessiv sind.63 Interessanter ist die Struktur: Berechnungen der US-Ökonomen Thomas Philippon und Ariell Reshef64 zeigen, wie Anfang der 1980er Jahre, also vor Beginn der Deregulierungsphase, Bankangestellte nicht wesentlich mehr verdienten als ihre vergleichbaren Kollegen in anderen Wirtschaftssektoren. Ganz anders das Bild 2005: Um die 70 Prozent mehr verdiente man jetzt in der Finanzindustrie – im Schnitt, wohlgemerkt. Die Antwort auf die Frage, ob diese Einkommen wohlverdient seien, liefern die Autoren gleich mit. Mindestens 30 bis 50 Prozent des Einkommensvorsprungs seien weder auf eine höhere Produktivität noch auf eine bessere Ausbildung zurückzuführen, sondern einzig und allein auf die Vormachtstellung der Finanzindustrie durch die Deregulierung. So sieht die Umverteilungsmaschine der Finanzmärkte von der Gewinnerseite aus!

Nicht alles davon ist legal. Zahlreiche Anklagen gegen Hedgefonds-Manager wegen Insiderhandel beleuchten den Ursprung mancher Gewinne. So bezeichnet der Staatsanwalt die auf der Karibikinsel Anguilla registrierte Firma SAC Capital (verwaltetes Vermögen 14 Milliarden Dollar) als »Magnet für Betrüger«.65 Zu Recht spricht Handelsblatt-Kommentator Frank Wiebe von einer Wall Street, »in der märchenhafte Gewinne zum Teil durch primitive Mauscheleien entstehen«.66

Doch das ist alles nicht neu, diese Gehaltsexzesse haben nämlich ein historisches Vorbild: In der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre kamen Banker schon einmal in den Genuss von Einkommen, die damals bis zu 65 Prozent über denen anderer Sektoren lagen. Die durchgreifende Regulierung drückte diesen Vorsprung dann in den stabilen Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg auf einstellige Prozentzahlen zurück. Was wir intuitiv vermuten, können die Forscher Philippon und Reshef statistisch nachweisen: Je weniger Regulierung, desto extremer die Exzesse.