Eigentlich sind die Antworten auf die Marktmacht großer Unternehmen oder ungeregelte Finanzmärkte schon vorhanden. Wenn Märkte nicht mehr funktionieren und nicht mehr im Dienst der Kundinnen und Kunden sind, müssen die Regeln auf den Märkten geändert werden. »Mehr Staat« in Form harter Regeln gegen Marktmacht und Finanzkapitalismus wäre das Gebot der Stunde.
Die ordoliberale Tradition der Freiburger Schule um Walter Eucken und Franz Böhm hat sich in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts genau mit den Fragen befasst, die ich gerade skizziert habe. Im großen Streit zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und sozialistischer Planwirtschaft formulierte Walter Eucken eine Konzeption, die auch noch heute überzeugt: Der Staat soll die Regeln setzen, innerhalb deren sich Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen frei bewegen können. Weil aber der Wettbewerb immer der Gefahr unterliegt, durch Kartelle und Monopole außer Kraft gesetzt zu werden, bedarf es einer aktiven staatlichen Wettbewerbspolitik, die genau diese Machtzusammenballung an den Märkten verhindert. Was liegt also näher, wenn es um Machtkonzentration auf globalen Märkten und um entfesselte Finanzmärkte geht, als sich auf diese Tradition zu besinnen?
Ja. Eigentlich stünde genau das jetzt an. Und es haben von der FDP bis zu Sahra Wagenknecht viele ihre Liebe zum Ordoliberalismus aus genau diesen Gründen (wieder)entdeckt. Aber irgendwie zündet die Forderung nach dem Primat der Politik nicht so richtig, obwohl sie von vielen formuliert wird. Das politische Pendel schwingt nicht so eindeutig von der Deregulierung zur Reregulierung. Der »starke Staat«, den der Ordoliberalismus empfiehlt, löst irgendwie keine Glücksgefühle aus. Und das hat seine Gründe. Milliardenschwere Gründe.
Ich finde es zum Beispiel sehr verständlich, wenn die Sachsen bei der Vorstellung, dass der Staat nun das Ruder an den Finanzmärkten etwas tatkräftiger übernimmt, keine große Begeisterung entwickeln. Schließlich hat genau dieses Bundesland mit dem Argument, dass es ein Gegengewicht zu den privaten Banken braucht, eine Landesbank unterhalten. Der Öffentlichkeit hat man vorgemacht, dass es sich bei der Landesbank des Freistaates Sachsen, kurz SachsenLB, um ein Institut handele, das die Kreditversorgung für den sächsischen Mittelstand sicherstellt. Und dafür gibt es ja auch Argumente, gerade im strukturschwachen Raum, den Großbanken gerne mal links liegen lassen. Diese Sparte der Mittelstandsfinanzierung machte tatsächlich aber nur 2,5 Prozent der Bilanzsumme aus.1 Bei ihrem Zusammenbruch 2008 war die SachsenLB zu 97,5 Prozent zu einer staatlich organisierten Investmentbank geworden, obwohl sie doch eigentlich, dem Gesetz nach, wie alle Landesbanken dem Gemeinwohl verpflichtet war. Tatsächlich aber haben sich vor allem einige wenige Investmentbanker in Irland dumm und dämlich verdient, um am Ende dem Steuerzahler auch noch die Rechnung für das grandiose Scheitern der Bank zu präsentieren. Auf 2,75 Milliarden Euro beläuft sich die Garantie des Freistaats Sachsen, die wahrscheinlich vollständig gebraucht wird. Bis September 2013 sind bereits über eine Milliarde Euro dieser Bürgschaft abgerufen worden und damit für immer im Orbit der internationalen Finanzmärkte verschwunden.2
Über eine eigens gegründete Tochtergesellschaft in Irland kaufte das öffentlich-rechtliche Institut begeistert die toxischen Papiere des irischen und US-amerikanischen Immobilienmarktes. Michael Lewis, einer der angesehensten Beobachter der Szene, schreibt in seinem Buch Boomerang dazu: »Clevere Händler an der Wall Street erfinden unfaire und teuflisch komplizierte Papiere und schicken dann ihre Händler in alle Welt los, um nach einem Deppen zu suchen, der sie kauft. In den letzten Jahren saß ein unverhältnismäßig großer Teil dieser Deppen in Deutschland. Wie Aaron Kirchfeld, Frankfurt-Korrespondent von Bloomberg, erzählte: Die New Yorker Investmentbanker haben sich einen Witz daraus gemacht, zu sagen: ›Diesen Scheiß kauft doch niemand. Moment mal! Doch, die Landesbanken.‹«3 Denn selbst in der Finanzkrise erwachten die staatlichen Banker zunächst nicht aus ihrem Größenwahn. Zu einem Zeitpunkt, als die Gefahren längst klar waren, stockten sie ihr Engagement in Irland noch einmal auf. Doch sie verspekulierten sich grandios – oder besser gesagt: das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Nun kann man sagen, dass es überall mal Fehlentwicklungen gibt. Aber wie sollen Menschen in Sachsen Vertrauen in die Kontrollkraft des Staates haben, wenn in einer staatlichen Bank, mit Billigung, ja sogar mit der aktiven Unterstützung der Regierungsvertreter im Verwaltungsrat, 2007 das Engagement in toxische Papiere noch dann um mehrere Milliarden Euro aufgestockt wurde, als der Immobilienmarkt in den USA bereits kippte?
Und die SachsenLB ist kein Einzelfall. Das Gleiche gilt ja für Nordrhein-Westfalen. Minus 18 Milliarden Euro – das ist dort das Vermächtnis der staatlichen Banker.4 Bereits 1996 konnte die Bank der Versuchung nicht widerstehen, ihr Image als dröger Kassenwart für Strukturpolitik abzulegen und in die aufregende Welt des internationalen Investmentbankings einzusteigen. Sie übernahm ein Londoner Institut und spekulierte fortan unter dem wohlklingenden Namen Principal Finance. Doch dieser Ausflug brachte die Bank schon viele Jahre vor der Finanzkrise in große Turbulenzen. Fehlinvestitionen unter der Leitung der schillernden Spekulantin Robin Saunders führten 2003 zu Milliardenverlusten.5 Man möchte meinen, das institutionelle Gedächtnis hätte das Institut vor weiteren Abenteuern bewahrt. Dem war aber nicht so. Zunächst entstanden 2007 durch misslungene Aktienspekulationen – reine Wetten auf Kursdifferenzen – Verluste von 604 Millionen Euro.6 Später im selben Jahr mussten im Zuge der Finanzkrise 23 Milliarden fauler Papiere in eine Zweckgesellschaft ausgelagert werden7 – das Jahr endete mit einem Verlust von 1,6 Milliarden Euro.8 In die Erste Abwicklungsanstalt (EAA), die Bad Bank der WestLB, wurden 2009 insgesamt 77 Milliarden ausgelagert.9 Nach gescheiterten Versuchen, das Institut als Ganzes oder in Teilen zu verkaufen, verschwand der Name WestLB endgültig am 30. Juni 2012 vom Markt. Sie wurde zerschlagen und teilweise abgewickelt – aber nicht, ohne dem Steuerzahler die Zeche zu hinterlassen.
Ähnliche Geschichten über den Größenwahn staatlicher Banker kann man von der BayernLB erzählen. Die kaufte sich in großem Stil in Osteuropa ein und verbrannte sich ihre Finger dann bei der Übernahme der österreichischen Bank Hypo Group Alpe Adria (HGAA). Die Eigentümerschaft – und mit ihr 3,7 Milliarden investierte Euro – wurde 2009 für den symbolischen Preis von 1 Euro an den österreichischen Staat weiterverscherbelt.10 Daneben musste die BayernLB auch herbe Verluste im Zuge der Finanzkrise einstecken. Im Gestrüpp von Landespolitikern, die an Selbstüberschätzung litten, hatte sie sich international überaus risikofreudig gezeigt. Das Debakel endete mit einer Kapitalspritze des bayrischen Steuerzahlers in Höhe von zehn Milliarden Euro, von der nur ein Teil jetzt durch die Bank zurückgezahlt werden soll.
Wenn wir noch die problematischen Geschäfte der HSH Nordbank, der badisch-württembergischen Landesbank LBBW oder die Geschichte der Bankgesellschaft Berlin hinzunehmen, dann hat doch die Mehrheit der Menschen in diesem Land in den letzten Jahren erlebt, dass gerade dort, wo der Staat behauptet hat, ein Gegengewicht zu den privaten Märkten zu bilden, er kläglich gescheitert ist. Er hat genau wie private Akteure versucht, Geld mit Geld zu machen, und ist dabei große Risiken eingegangen, die nachher den Bürgerinnen und Bürgern auf die Füße gefallen sind. Und diesem Staat soll man dann mehr Einfluss geben?
Fragen wir doch mal die Bürgerinnen und Bürger in Pforzheim, Hagen, Würzburg, Sangerhausen, Bad Oeynhausen, Solingen und Salzwedel, ob sie gerne Steuern an ihre Kommune zahlen. Und sie werden uns etwas davon erzählen, wie ihre Steuergelder verspielt wurden. Denn ihre Kämmerer ließen sich auf hochspekulative Wetten ein, bei denen der Gewinn überschaubar und der potenzielle Verlust unbegrenzt war. Der Einsatz: Steuergeld. Der Name des Spiels: Zins-Swaps.
Das hört sich erst mal schwierig an, und in der Tat handelt es sich auch um hoch komplizierte Finanzprodukte. In ihrer einfachen Variante einigen sich die Vertragspartner auf einen Tausch ihrer Zinszahlungen. Wenn ich beispielsweise einen Kredit mit variablem Zins habe, aber Planungssicherheit brauche, kann ich mit jemandem tauschen, der einen Festzinssatz hat, aber auf fallende Zinsen spekuliert. Ich sichere meine Risiken ab, während meine Vertragspartnerin je nach Marktentwicklung Geld verdient oder verliert.
Die Kommunen litten unter hohen Zinsen auf ihre Schulden und waren gewillt, jede Möglichkeit zur Zinssenkung dankend zu ergreifen. In Deutschland am bekanntesten wurde der hundertfach vertriebene CMS-Spread-Ladder-Swap der Deutschen Bank (wobei »CMS«, auch wenn dadurch die Sache nicht klarer wird, für »Constant Maturity Swap« steht). Die Bank überwies einen festen Zinssatz, während die Kommunen ihre Zahlungen an eine äußerst komplizierte Formel banden. Das Produkt versprach zunächst einmal niedrigere Zinsen, und es war so strukturiert, dass sich dieser ködernde Effekt in den ersten Jahren bewahrheitete. Durch die Marktturbulenzen der Finanzkrise allerdings wurden die Geschäfte zu einem Desaster für die Kommunen.
Es ist prinzipiell legitim, dass eine Kommune den Zinssatz für ihr Schuldenportfolio langfristig planbar gestalten oder ein Unternehmen von deutlich niedrigeren kurzfristigen Zinsen am Markt profitieren möchte – ebenso, dass die Bank daran Geld verdient. Doch um solch einfache Zins-Swaps ging es in den besagten Fällen nicht. Das kann der Rechtsanwalt Jochen Weck, der wichtige Pionierarbeit bei der Aufarbeitung dieser Skandale geleistet hat, klar belegen: »Angeboten unter dem Deckmantel der Zinsoptimierung, handelte es sich im Endeffekt um ein Spekulationsgeschäft. Spread Ladder Swap ist kein Swap, er wird als Swap falsch etikettiert.«11
Auch das Oberlandesgericht Stuttgart stellte fest: »Im Kern ist der angebotene Ladder-Swap eine Art Glücksspiel. Er ist dadurch geprägt, dass beide Seiten ein Risiko übernehmen und […] die Zahlungen der Parteien vom Zufall oder der subjektiven Ungewissheit der Parteien über bestimmte Ereignisse abhängen.«12 Deshalb fallen solche Geschäfte eigentlich unter das Spekulationsverbot für Kommunen, was den Banken auch bekannt war. Das Wertpapierhandelsgesetz schreibt als oberste Verhaltenspflicht vor, dass die Erbringung einer Wertpapierdienstleistung, wozu die Anlageberatung durch eine Bank gehört, im Kundeninteresse zu erfolgen hat. Aber das ist hier offensichtlich nicht der Fall gewesen.
Man kann nachweisen, dass die Kommunen sich in vielen Fällen nicht gegen Risiken abgesichert haben, sondern im Gegenteil zu Versicherungen der Großbanken wurden! Denn die Banken zahlten ja plötzlich den festen Satz und waren daher gegen das Zinsrisiko gefeit. Eine absurde Umdrehung der Wirkungskette. Außerdem erhöhten die Banken ihre Wettchancen, indem sie sich ein einseitiges vorzeitiges Kündigungsrecht vorbehielten. Ging die Wette mal nicht zu ihren Gunsten aus, wurde sie aufgelöst – die Kommunen aber mussten auch bei hohen Verlusten zahlen. Bei solchen Verträgen kann man sich nicht rausreden, dass es auch hätte gut gehen können. Sie sind per se gefährlich. Wenn eine Minikommune Millionenverluste erleiden kann, darf man sie nicht zum Wetten verleiten. Inzwischen gibt es sogar Hinweise, dass die Investmentbank UBS ganz bewusst Schrottpapiere an Kommunen verscherbelt hat, um sie zu entsorgen und die eigene Bilanz zu bereinigen.13
Man könnte es also auf die bösen Banker schieben. Doch dann fragen wir mal die Menschen in Riesa, einer sächsischen Kleinstadt, die bei insgesamt 40 Millionen Euro Schulden allein durch ein Finanzgeschäft über 30 Millionen Euro zu verlieren droht. Sie streitet sich nicht mit der Deutschen Bank, sondern mit der Landesbank Baden-Württemberg, die als Rechtsnachfolgerin der SachsenLB hier im Geschäft ist.
Auch die WestLB war sehr aktiv bei den dubiosen Zinswetten. Zunächst verkaufte sie diese überaus erfolgreich an heimische Kämmerer. Bekannt geworden sind etwa die Fälle in Hagen, Bad Oeynhausen und Solingen. Als den Düsseldorfer Renditejägern dann irgendwann die gutgläubigen Kommunen in Nordrhein-Westfalen ausgingen, fanden sie in der uns bereits bekannten SachsenLB einen willigen Kooperationspartner. Diese vermittelte fortan die Wetten auf Provisionsbasis an sächsische Kommunen.
Das muss man sich einmal vorstellen: Eine staatliche Bank bringt gegen fürstliche Provisionen eine staatliche Institution dazu, bei einer anderen staatlichen Institution ein Wettspiel einzugehen. Da zieht der Staat den Staat mithilfe des Staats an den Finanzmärkten über den Tisch. Und dann sagen wir: Der Staat soll’s jetzt richten an den Finanzmärkten. Und wir wundern uns, wenn nicht ganz Deutschland »Hurra« ruft?
Gut zum Ausdruck brachte das Gert Hager, Bürgermeister von Pforzheim, am Schluss einer Anhörung, die ich 2011 im Finanzausschuss des Bundestages erwirkt hatte, um die Aufklärung voranzutreiben. Hager ist einer der wenigen, die auf schonungslose Aufklärung setzten, als er – neu im Amt – von den Derivate-Abenteuern seiner Kämmerin erfuhr. Zunächst war die 120 000-Einwohner-Stadt auf die Papiere der Deutschen Bank reingefallen, dann machte ein Restrukturierungsangebot der US-Bank JP Morgan den Schlamassel nur noch größer. Mit 57 Millionen Euro kaufte sich die Stadt schließlich aus dem Alptraum heraus. Hager sprach über die verlorenen Millionen, bevor er sagte: »Genauso schwer, wenn nicht mehr, wiegt der Vertrauensverlust in eine ordnungsgemäße Verwaltung, gerade auf kommunaler Ebene, in der ja wie in keiner anderen Ebene Politik, Verwaltung auf der einen Seite und Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite sehr nah miteinander leben und arbeiten müssen.«14
Und dieser Vertrauensverlust geht tief. Denn die Kontrollmechanismen haben versagt. Nur wenige Gemeinderäte, zum Beispiel die grüne Pforzheimerin Sibylle Schüssler, haben es geschafft, an der richtigen Stelle die richtigen Fragen zu stellen und die Skandale aufzudecken. Noch krasser aber ist das Versagen der zuständigen Aufsichtsbehörden. Ich blieb sprachlos, als ich erfuhr, dass die staatliche Aufsichtsbehörde in Rheinland-Pfalz selbst zum Werbeträger für die Spread Ladder Swaps wurde. Auf ihre Einladung hin schwärmten Vertreter der Deutschen Bank etwa 50 Bürgermeistern und Kämmerern aus diesem Bundesland in edler Kulisse im Kurfürstlichen Palais in Trier 2005 vom modernen Zinsmanagement vor.15 Und so kaufte mehr als ein Kämmerer in der Folge einer von seiner eigenen Aufsichtsbehörde organisierten Werbeveranstaltung die Produkte, vor denen genau diese Aufsichtsbehörde ihn hätte warnen müssen. Mir ist übrigens nicht bekannt, dass diese Vorgänge, die mir auf meine Frage in der Anhörung im Bundestag hin bestätigt wurden, irgendwelche Konsequenzen gehabt hätten.
Nun wären wir ja froh, wenn wir sagen könnten, dass dieser Vertrauensverlust sich allein auf die Fehlentwicklungen an den Finanzmärkten beschränken würde. Wissen wir doch aus der Geschichte der Finanzkrisen zur Genüge, dass der Staat von allen Fehlentwicklungen, insbesondere vom Hype, miterfasst wird. Wenn sich dieser Vertrauensverlust also nur auf den Finanzbereich beschränken würde, dann könnten wir dieses Misstrauen vielleicht überwinden, indem wir den Staat in diesem Bereich neu aufstellen und die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Doch der Vertrauensverlust erstreckt sich auch auf andere Bereiche.
Wenn ich in Berlin bin, wohne ich in Tegel, in der Nähe, aber doch ungestört vom bisherigen Berliner Flughafen Tegel im Nordwesten Berlins. Schon seit Längerem bedauerte ich daher insgeheim die Verlegung des Flugverkehrs auf den am anderen Ende der Stadt gelegenen Flughafen Schönefeld, wo ein großer, moderner Hauptstadtflughafen entstehen soll. Denn angesichts des engen Zeittakts muss ich auch als Grüner leider immer wieder fliegen. Umso besser, wenn der Flughafen nicht weit weg ist. Im Juni 2012 sollte diese komfortable Nähe ein Ende finden – dachte ich noch im Mai desselben Jahres. Dass die Inkompetenz staatlicher Planer mir allerdings so gütlich entgegenkommen würde, hätte auch ich nicht für möglich gehalten. Der Eröffnungstermin wurde kurzfristig zunächst auf 2013, dann auf 2014 verschoben – wahrscheinlich ist mittlerweile 2015. Wenn man mit einem Berliner über das Projekt sprechen möchte, erntet man mittlerweile nur noch Kopfschütteln. Die Menschen können in einer Stadt, in der an vielen Ecken und Enden öffentliches Geld fehlt, einfach nicht mehr ertragen, wie ihr Senat in unverantwortlicher Weise ein Großprojekt steuert, in dem schon jetzt viele Milliarden Euro verbuddelt wurden. Über 65 000 Mängel wies der Flughafen im August 2013 auf.16 Die Berliner haben das Gefühl, der Staat packt es mal wieder nicht. Doch ebenso schwerwiegend sind die ständigen Ausreden und Vertuschungen über Planungsfehler, technische Probleme und – ganz zentral – über die ständig nach oben korrigierten Kosten, die man entweder mit Wut oder Zynismus quittieren kann.
In Stuttgart haben die Bürgerinnen und Bürger mit Wut reagiert. Denn im Kern ging es bei den Protesten gegen den Großbahnhof Stuttgart 21 neben dem Schutz von Bäumen im Schlossgarten, dem Abriss des Seitenflügels des Hauptbahnhofsgebäudes und Fachdebatten über die Sicherheit der zu bohrenden Tunnel doch um viel mehr als nur einen Bahnhof: Die Öffentlichkeit fühlte sich übergangen, durch arrogantes Gebaren der Verantwortlichen. Die Protestierenden äußerten ihr Unbehagen gegenüber einer Interessenverflechtung von Bau- und Immobilienwirtschaft mit der Politik gegen die Mehrheit, die aber gleichwohl mit ihren Steuerleistungen für das Projekt aufkommen soll. Wasser auf die Mühlen des Protests war dabei, dass die Zahlen der früheren Landesregierung und der Deutschen Bahn über die Jahre hinweg nie gestimmt haben. Regelmäßig hat der Bundesrechnungshof höhere Zahlen vorgelegt, die sich im Nachhinein stets bewahrheitet haben. So mussten die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl bekommen, dass die Informationen eines staatlichen Unternehmens, die die Grundlage aller Entscheidungen in Parlamenten und Regierungen sind, systematisch nicht stimmen, dass hier vielmehr getrickst wird, um bestimmte Begehrlichkeiten zu befriedigen. Die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 hätte niemals so eine Dynamik bekommen, wenn es nur eine verkehrspolitische Auseinandersetzung gewesen wäre. Sie ist im Kern auch eine Auseinandersetzung darüber, ob der Staat und seine politischen Akteure die Bürgerinnen und Bürger hinters Licht führen.
Dass die Finanzaufsicht in der Finanzkrise kläglich versagt hat, ist inzwischen allgemein bekannt. Aber das Irritierende für viele Menschen ist doch, dass das niemanden überraschen konnte, der sich ein bisschen mit der Finanzaufsicht in Deutschland beschäftigt hat. Dass einer Behörde mal etwas Kleines durchrutscht, das kann jeder verstehen. Dass auch ein guter Arzt mal eine Fehldiagnose macht – geschenkt. Aber wie konnte es eigentlich geschehen, dass sich über Jahre hinweg eine riesengroße Krise aufgebaut hat und dass Hunderte von Experten, die die Aufgabe hatten, so eine Krise schon vor ihrem Ausbruch zu entdecken, sie nicht haben kommen sehen? Und was heißt das für das zukünftige Vertrauen in staatliche Aufsichtsbehörden?
Ja, hinterher ist man immer schlauer. Stimmt. Aber wenn man sich danach richtet, dann braucht man keine Aufsicht, die präventiv arbeiten soll. Und vor allem konnte man manches vorher schon sehen. Als ich 2005 in den Bundestag gewählt wurde, wurde mir bei der fraktionsinternen Aufteilung der Zuständigkeiten auch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, kurz BaFin, zugeschrieben. Die etwa 1800 Frauen und Männer, die in der BaFin arbeiten, sollen das wilde Treiben an den Finanzmärkten beobachten und, wenn nötig, eingreifen. Na, dachte ich mir, wenn ich da zuständig bin, dann schaue ich mir das doch mal an. Und so fuhr ich mit Susanne Weis, der damaligen Finanzreferentin unserer Fraktion, im ersten Halbjahr 2006 in den ruhigen Stadtteil Castell im Bonner Norden, wo die BaFin residiert. Das war also zu einer Zeit, in der, wie wir heute wissen, die Fehlentwicklung an den Finanzmärkten auf ihre Spitze zutrieb und die Immobilienmärkte in den USA zu kippen begannen. In Deutschland war von Finanzkrise allerdings noch keine Rede. Auch ich hatte zwar eine Reihe von Fehlentwicklungen im Blick, diese kommende Krise aber noch nicht auf dem Schirm.
Bei der BaFin in Bonn, weitab von dem geschäftigen Treiben der Frankfurter City, ging es eher ruhig zu. So saßen mir dort an einem großen Tisch Vertreter der verschiedensten Abteilungen gegenüber, um meine vielen Fragen zu beantworten. Irgendwie schien das alle ein wenig überrascht zu haben, dass ein Abgeordneter sich mal die Finanzaufsicht anschauen will. Doch eine meiner Fragen verhallte dann im Leeren. »Wo ist eigentlich Ihre Forschungsabteilung?«, erkundigte ich mich, »wie versuchen Sie, sich über neue Entwicklungen an den Märkten zu informieren und sie zu analysieren?« Es stellte sich heraus, dass es dafür keinen systematischen Ansatz gab, sondern sich die einzelnen Fachkräfte vor allem über die Zeitungen und über Veröffentlichungen informierten. Ich fuhr von diesem Besuch verstört nach Hause. So hatte ich mir eine knackige Finanzaufsicht nicht vorgestellt. Im Gesetz steht, dass die BaFin »Missständen im Kredit- und Finanzdienstleistungswesen entgegenzuwirken [hat], welche die Sicherheit der den Instituten anvertrauten Vermögenswerte gefährden, die ordnungsmäßige Durchführung der Bankgeschäfte oder Finanzdienstleistungen beeinträchtigen oder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft herbeiführen können«.17 Ein klarer Auftrag, der ebenso klar nicht erfüllt wurde. Wie will man denn ohne Recherche über die Entwicklungen an den Finanzmärkten verstehen, was genau dort vor sich geht und ob sich da Missstände abzeichnen, denen man entgegenwirken sollte?
Im März 2007 ließ sich BaFin-Chef Jochen Sanio in einem Interview vernehmen: »Einige Risiken bereiten Marktakteuren und Aufsehern großes Kopfzerbrechen, denn sie lassen sich nur schwer orten.«18 Dabei lag ein relevanter Teil dieser Risiken vor seinen eigenen Augen bei den Landesbanken! 2008, als die ersten Schockwellen der Krise auch Deutschland erfassten, räumte Sanio dann ein, dass man eigentlich die Wirklichkeit an den Finanzmärkten nicht verstanden hatte: »In der Subprime-Krise bewahrheitete sich dann eine alte Erkenntnis: In der Realität war die Wirklichkeit ganz anders.«19
Nun haben wir aber extra ein System, in dem einzelne Behörden nicht einfach vor sich hinwurschteln, sondern einer Aufsicht durch ein Ministerium unterliegen. Im Fall der BaFin ist das Bundesfinanzministerium zuständig, dafür zu sorgen, dass diese effizient arbeitet und ihren Aufgaben nachkommt. Doch genau das geschah nicht. Schlimmer noch: Selbst als die Finanzkrise seit dem Wackeln der ersten Hedgefonds im Juni 2007 schon in vollem Gang war, wurden im Finanzministerium keine Vorbereitungen getroffen. Da kippten die Deutsche Industriebank (IKB), die SachsenLB und die Düsseldorfer Hypothekenbank. Die BayernLB war in massiven Schwierigkeiten. Und dennoch wurden keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Dabei wäre es doch genau die Aufgabe der Behörden, sich auf solche Fälle vorzubereiten. Das Bundesfinanzministerium wusste, wie wenig Geld nach der Rettung der Düsseldorfer Hypothekenbank durch den Einlagensicherungsfonds der Privatbanken noch in diesem Topf vorhanden war. Im Frühjahr 2008 berichtete Bundesfinanzminister Peer Steinbrück darüber in einer Sitzung des Finanzausschusses. Klar war, dass eine weitere Pleite die Einlagensicherung überfordern musste. Doch eine relevante Schlussfolgerung daraus wurde nicht gezogen.
Im Juni 2008 sagte ein führender Vertreter des Finanzministeriums allen Ernstes zu mir: »Das Schlimmste ist jetzt vorbei.« So kam es, dass Deutschland völlig unvorbereitet war, als im Herbst 2008 nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers die Finanzmärkte dem Abgrund entgegenschlitterten und die Bankensysteme insgesamt in Schieflage gerieten. Dabei gab es Grund und Aufforderung genug. Spätestens aber im Oktober 2007 forderte die Europäische Union die Einrichtung eines Ständigen Ausschusses für Finanzmarktstabilität, zu dessen Aufgaben der »Austausch von Informationen, die Entwicklung von Instrumentarien und die Durchführung von Krisensimulationsübungen« gehören sollten.20 Doch dieser wichtige Vorschlag wurde von den Verantwortlichen nicht aufgegriffen. Auch stellte das bereits 1999 von den Finanzministern und Notenbankchefs der G7 ins Leben gerufene Financial Stability Forum21 in einem geheimen Papier im März 2008 Politikoptionen vor, die die Regierungen in einzelnen Notfallsituationen durchdenken sollten. Ignoriert wurde auch das, und so konnte die Finanzaufsicht keine systematische Antwort auf die systemische Krise formulieren.
Wir haben die einzelnen Schritte des Versagens für den Fall der Hypo Real Estate Holding (HRE) im Sommer 2009 im Untersuchungsausschuss aufgearbeitet.22 BaFin-Chef Jochen Sanio bezeichnete die HRE mit Blick auf ihre Situation 2007 als einen »Elefanten, der in der Falle saß«, der »nicht mehr weit von der Todeszone« vor sich hin »krebste«, und ihr Geschäftsmodell als einen »Schneeball, [der] wuchs und wuchs und wuchs«. Ein »Saustall« sei die Bank gewesen, auch zu dieser Aussage ließ er sich verleiten. Umso erstaunlicher, dass diese klaren Worte anscheinend nicht von Bonn-Castell nach Berlin-Mitte durchdrangen. Gravierende Kommunikationslücken – so haben wir diesen Zustand in unserem Untersuchungsbericht genannt. Denn zu keiner Zeit wurde im Finanzministerium ein Gesamtbild zusammengeführt, mit ihren (späten) Warnungen kämpfte die BaFin gegen eine informatorische Einbahnstraße. Anders als etwa im Fall der Schweizer Großbank UBS gab es keine spezifischen Vorbereitungen auf eine mögliche Schieflage der Bank.
Mangelnde Vorbereitung und eine ebenso mangelnde Kenntnis der Bank durch die staatlichen Instanzen führte dazu, dass die Rettung teurer wurde als nötig und der Staat von den Vorschlägen der privaten Banken abhängig war. Diese Vorschläge führten dazu, dass die privaten Banken Millionen an der Rettung der HRE verdienten (allein die Deutsche Bank 100 Millionen Euro), während Finanzminister Steinbrück und Kanzlerin Merkel noch stolz in der Öffentlichkeit verkündeten, wie sie die privaten Banken zu einer Beteiligung an den Rettungsmaßnahmen gezwungen hatten.
Dieses Versagen des Staates ist schlimm genug für jeden Einzelfall, der die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler mal 11 Milliarden Euro (IKB), mal 20 Milliarden Euro (HRE) kosten wird. Was könnte man alles Sinnvolles für dieses Geld tun! Mindestens so beunruhigend ist aber die Frage, was eine solche Fehlleistung für das Vertrauen in staatliche Sicherungssysteme bedeutet. Wurde uns nicht vor der Finanzkrise suggeriert, der Staat beaufsichtige die Banken, um nachher festzustellen, dass die Aufsichtsbehörde die entscheidenden Probleme nicht sah, viele Entwicklungen völlig verschlief und relevante Daten im Krisenfall nicht zur Verfügung hatte? Hatten wir nicht die Vorstellung, es gebe klare Zuständigkeiten für das Krisenmanagement, und mussten dann erleben, dass der Ständige Ausschuss für Finanzmarktstabilität nur pro forma vorhanden war? Signalisiert nicht eigentlich die Existenz einer Einlagensicherung, dass dieses System in der Lage ist, die Einlagen zu sichern, und dann mussten wir feststellen, dass schon die Rettung der relativ kleinen deutschen Lehman Brothers Bankhaus AG (also der deutschen Tochter der US-Bank) die Einlagensicherung der privaten Banken überforderte? Warum lässt der Staat solche Pseudosicherungssysteme zu?
Mich erinnert der Umgang mit Finanzrisiken in erschreckender Weise an den Umgang mit den Risiken der Atomkraft. Eines der krassesten Beispiele in Deutschland ist die Lagerung von 126 000 Fässern Atommüll in der Schachtanlage Asse. Dort wurde unter den Augen des Staates, teilweise durch staatliche Institutionen selber, völlig dilettantisch mit dem Atommüll umgegangen. Jetzt müssen die Fässer geborgen werden. Kosten für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler von bis zu sechs Milliarden Euro sind zu erwarten.23
Ich habe am Anfang des Buches über meinen ganz besonderen Freund, den »Markt« der Zertifikate, gesprochen. Eine Frage, die mich dabei immer wieder beschäftigt hat, ist: Warum verbietet der Gesetzgeber eigentlich nicht solche intransparenten Produkte, die niemand verstehen kann?
Im Finanzausschuss des Bundestags habe ich einmal einen Test bei den Prospekten für Finanzprodukte vorgeschlagen: Wenn die Mehrheit der Ausschussmitglieder nach der Lektüre des Prospekts das Finanzprodukt nicht richtig verstehen würde, sollten wir das Produkt verbieten. Leider habe ich dafür nicht viel Unterstützung gefunden. Denn das Ergebnis des Tests wäre nicht nur für uns Ausschussmitglieder peinlich geworden. Wahrscheinlich hätte allein schon die Ankündigung dieses Tests zu einem dramatischen Kurssturz vieler Finanzinstitute geführt, weil ihr Geschäftsmodell stark bedroht gewesen wäre.
Besonders interessant wird die Frage allerdings da, wo sich der Staat selbst austricksen lässt, indem er Produkte zulässt, die eine direkte Umgehung staatlicher Verbote sind. Es gibt zum Beispiel Zertifikate, die bilden Single-Hedgefonds ab. Das heißt, die Verzinsung des Anlagegeldes hängt davon ab, wie sich die Anlagen eines Hedgefonds entwickeln. Es ist also quasi so, als sei man in den Hedgefonds investiert – mit dem kleinen Unterschied, dass noch eine Bank dazwischengeschaltet ist, bei deren Pleite man selbst dann kein Geld bekommt, wenn der Hedgefonds hohe Gewinne macht.
Die Anlage in solche Zertifikate entspricht also in großen Teilen einer Anlage in einen Hedgefonds, ist jedoch noch ein Stück riskanter. Nun muss man wissen, dass der Gesetzgeber bei Single-Hedgefonds aus Anlegerschutzgründen Einschränkungen festgelegt hat. Zunächst war nur deren öffentlicher Vertrieb in Deutschland verboten, inzwischen dürfen Anteile oder Aktien an Single-Hedgefonds an Privatanleger überhaupt nicht mehr verkauft werden.24 Wie doof ist dann eigentlich ein Staat, der es Banken verbietet, ihren Kundinnen und Kunden Hedgefonds-Anteile zu verkaufen, der ihnen aber gleichzeitig erlaubt, dieses Verbot zu umgehen, indem sie den Menschen Zertifikate verkaufen dürfen, die genau das Risiko eines Hedgefonds abbilden und sogar noch ein wenig riskanter sind?
Leider ist das nicht das einzige Beispiel. Bei Investmentfonds legen Interessenten ihr Geld in einen Topf, mit dem dann Aktien gekauft werden. Die Anleger sparen sich also die Aufgabe, die besten Aktien auszusuchen, sondern übertragen das an das Management des Fonds. Dafür bekommen die Manager Geld. Der Staat reguliert die Investmentfonds, denn es besteht die Gefahr, dass das Management in die eigene Tasche wirtschaftet oder das Geld in etwas ganz anderes anlegt als in Aktien. Es gibt die Verpflichtung, im Interesse der Kundinnen und Kunden zu agieren, es gibt Transparenzvorschriften. Die Verwahrstelle, also das Kreditinstitut, wo die Vermögensgegenstände des Investmentfonds hinterlegt sind, und das Fondsmanagement, die Verwaltungsgesellschaft, müssen getrennt sein.
So weit, so gut. Der Staat hat erkannt, dass man hier genau aufpassen muss, weil die Kundinnen und Kunden das nicht selbst kontrollieren können. Und dann lässt man zu, dass mit aktiv gemanagten Zertifikaten genau dasselbe passiert – ohne Regulierung. Wenn nämlich die Verzinsung eines Zertifikats davon abhängt, welche Aktien ein Manager kauft und verkauft und wie sich diese Aktien entwickeln, dann ist das letztlich nichts anderes als ein Investmentfonds, nur ohne die lästigen staatlichen Regeln.
Und wieder meine Frage: Warum lässt der Staat jahrelang die Umgehung seiner eigenen Regeln zu?
Staatliche Institutionen, die ihre Aufgaben nicht erfüllen, die sich offenkundig austricksen lassen, Pseudosicherungssysteme, die im Ernstfall einknicken – diese Beobachtung ist keineswegs auf die Finanzmärkte begrenzt. Ich könnte noch aus vielen anderen Lebensbereichen ähnlich ernüchternde Erfahrungen schildern: von Bürokratien, die nicht im Dienst der Bürgerinnen und Bürger, sondern diesen vielmehr im Weg stehen, von staatlichen Kontrollen, die ins Leere laufen, von Geldverschwendung, Vetternwirtschaft und Missmanagement.
Als Bürger bin auch ich angesichts der vielen Beispiele staatlichen Versagens oft sprachlos. Und ich weiß, dass viele von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dieses Kapitel durch viele einzelne Beispiele aus ganz unterschiedlichen Bereichen ergänzen könnten, die Sie selbst erlebt haben. Und dass es nervt. Schließlich brauchen wir handlungsfähige Institutionen, die im Sinne des Gemeinwohls die Regeln an den Märkten setzen und durchsetzen können. Ja, der Markt versagt. Aber der Staat versagt auch. Denn wo Märkte versagen, handelt es sich immer auch um ein Versagen der staatlichen Ordnungsmacht. Der staatliche Regelrahmen hat nicht dafür gesorgt, dass der Preismechanismus funktioniert und die Risiken richtig bepreist wurden. Marktversagen und Staatsversagen lassen sich nicht trennen. Deswegen ist die Antwort, dass wir jetzt den Primat der Politik durchsetzen und die Märkte stärker regulieren müssen, zu einfach. Sie ist angesichts der Erfahrung, die viele Menschen mit staatlichen Institutionen und politischen Entscheidungsträgern machen mussten, ein leeres Versprechen. »Der Staat kann es (auch) nicht« – das ist die Lebenserfahrung vieler Menschen, die mir in zahlreichen Gesprächen entgegenschlägt. Ich nehme diese Rückmeldung ernst. Denn »die Politik« wird dafür verantwortlich gemacht.
Und das ist kein deutsches Phänomen. Wenn in Griechenland die Menschen merken, wie »die Politiker« mit gefälschten Daten hantierten und unverantwortlich Schulden anhäuften, wenn sich die Isländer und die Iren fassungslos fragen, warum die Verantwortlichen in Politik und Finanzaufsicht eine solche verrückte Finanzblase zulassen konnten, dann stellen wir fest, dass »die Politik« in vielen Ländern am Pranger steht. Ganz besonders deutlich wird das in Spanien. Die dortige Bankenkrise ist fast ausschließlich eine Krise der öffentlich-rechtlichen cajas. Denn vor allem diese Kreditinstitute haben die Immobilienblase mit unverantwortlicher Kreditvergabe gefördert – und die Notenbank sah selbst dann noch zu und räumte nicht auf, als in den USA die Blase schon platzte. Während wir in Deutschland wenigstens nur die Überschuldung einzelner Banken und Kommunen, das Scheitern einzelner Großprojekte und Institutionen gewärtigen müssen, wurde der Staat in Island, in Irland, in Griechenland und Spanien insgesamt gegen die Wand gefahren. Die Menschen klagen zu Recht über Korruption und Ämterpatronage, über ein Versagen der Politikerinnen und Politiker.
Deshalb schwingt das Pendel in der öffentlichen Meinung nach den Exzessen der Märkte nicht einfach zurück zum Staat. Eine Staatswirtschaft wirkt trotz der Fehlentwicklungen in der Privatwirtschaft nicht attraktiv, Regulierung erzeugt keine Hoffnung trotz der Milliardenschäden durch die deregulierten Finanzmärkte. Dies ist ein Dilemma für die politische Linke, die nach »mehr Staat« ruft und sich dabei zu Recht auf den deutschen Ordoliberalismus beruft. Ich bezweifle, dass man damit Erfolg haben kann. Wie soll es gelingen, den Staat zum Hoffnungsträger zu stilisieren, während er als wirtschaftlicher Akteur, als Planer, als Ordnungsgeber so kläglich versagt hat?