Ebenso wie Märkte unterliegen auch staatliche Strukturen einer Dynamik, die nicht automatisch dazu führt, dass der Staat im Interesse des Gemeinwohls agiert. Das Bild, das die Ordoliberalen vor Augen hatten – nämlich einen Staat, der auch gegen die Wirtschaft die richtigen Interessen durchsetzt – entspricht leider nicht der Wirklichkeit. Die Antwort auf die Frage, für wen denn eigentlich der Staat tätig ist, in wessen Interesse er handelt, ja, wem er letztlich gehört, ist deshalb ganz entscheidend. Auch staatliche Macht kann problematisch sein. Und gerade zurzeit wird der Staat von vielen als der »Staat der anderen« wahrgenommen.
Machtwirtschaft ist dem staatlichen Bereich nicht fremd. Denn die Strategie, mittels staatlicher Institutionen individuelle Interessen zu verfolgen, ist häufig lohnend. Warum sich mühen, zusätzliche Kundinnen und Kunden zu finden, wenn man auch über eine Gesetzesänderung mehr Gewinne machen kann? Warum das Risiko von Innovationen und Investitionen eingehen, wenn der Staat die alten Technologien schützen kann?
In der Wissenschaft werden solche Strategien als rent seeking (zu deutsch etwa: Privilegiensuche oder politische Rendite) bezeichnet. Im Gegensatz dazu beschreibt profit seeking (Gewinnsuche oder Marktrendite) den Versuch, über bessere Produkte und Prozesse am Markt zu reüssieren, was unmittelbar den Kundinnen und Kunden zugutekommt, indem sie bessere oder günstigere Produkte erhalten. Auch wenn sich Anbieter überlegen, wo sie ihr Geschäft eröffnen, um möglichst viele Abnehmer für ihre Produkte zu erreichen, kommt das wiederum denjenigen entgegen, die nicht lange nach dem Geschäft in günstiger Lage suchen müssen. Beim rent seeking hingegen entsteht für Dritte kein Nutzen, sondern häufig ein Schaden. Denn es geht um umverteilende Aktivitäten innerhalb der Gesellschaft, um die Erzielung von Erträgen ohne Gegenleistung. Hier entstehen die Profite ja nicht aus zusätzlichem Mehrwert, sondern aus einer Umverteilung von Ressourcen. Das ist keine Verschwörungslehre, sondern das Ergebnis durchaus ernstzunehmender ökonomischer Analyse unternehmerischer Taktiken gegenüber staatlicher Ordnungsmacht.
Geprägt wurde dieser Begriff des rent seeking 1967 von der US-amerikanischen Ökonomin Anne Krueger, die damit die vielfältigen Anreize der Unternehmen beschrieb, nicht mehr nach den besten Geschäftsideen, sondern den wohlwollendsten Regulierungen zu suchen. Darunter fallen Strategien formeller und informeller Einflussnahme privater Interessen auf die Entscheidungen der Regierung und ihrer Umsetzungsorgane, also auf die Aufsichts- oder Justizbehörden.
Einer der für mich wichtigsten Ökonomen bei der Analyse machtwirtschaftlicher Strukturen ist der (mittlerweile verstorbene) Mancur Olson. Der Kern seiner Arbeit betraf Machtstrukturen in Markt und Staat – und wie diese jegliche positive Entwicklung hemmen können. In seinem Werk Die Logik des kollektiven Handelns1 beschreibt er, wie kleine Interessengruppen den Staat überaus effizient für ihre Belange einspannen. Für die Mitglieder einer solchen Interessengruppe zeichnet sich der mögliche Profit oder der drohende Verlust, den eine geplante Gesetzesänderung zur Folge hätte, meist frühzeitig und so deutlich ab, dass eine Mobilisierung leichtfällt. Vor allem sind sie bereit, einen Preis dafür zu bezahlen, dass im Interesse der Gruppe auf den Staat Einfluss genommen wird. Dies sind »die Lauten« oder »die Effizienten« – also diejenigen im Alltag der Politiker und Regierungsvertreter, die es verstehen, ihre Anliegen klar und deutlich oder geräuschlos und wirkungsvoll in staatliches Handeln zu integrieren.
Dagegen können sich die Vielen, die durch Privilegien für Wenige einen Nachteil haben, etwa die Konsumenten oder durch Umweltverschmutzung betroffene Bürgerinnen und Bürger in verschiedenen Regionen, einfach nicht gut organisieren – und es fällt dem Einzelnen oft auch nicht auf, ob er durch bestimmte staatliche Handlungen gewinnen oder verlieren könnte. Ein erhöhter Preis für Duschgel oder Kekse bedeutet etwa große Gewinne für Produzenten oder einen anderen Machtwirtschaftler in der Vertriebskette, beispielsweise die großen Discounter, aber nur geringe Kosten für den einzelnen Haushalt. Deswegen sehen wir auch öfter Bauern- als Konsumentenproteste, und deswegen hat ein Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels weniger Mühe, Mitgliedsbeiträge einzuwerben, als eine auf Spenden angewiesene Verbraucherschutzorganisation wie Foodwatch.
Diese Argumentation verfeinert Olson in Aufstieg und Niedergang von Nationen2 im Jahr 1985. Rent seeking habe das Potenzial, ganze Nationen an den Abgrund zu treiben. Wenn die Organisation gesellschaftlicher Interessen darauf gerichtet wird, durch rent seeking Vorteile zu erhaschen, dann schwächt das Innovation und Produktivität. In modernen Gesellschaften mit hoher sozialer Ausdifferenzierung steigt dann auch die Macht einzelner kleiner Gruppen, da es eine Fülle an Partikularinteressen gibt.
Ein Beispiel aus der Automobilindustrie: Als die Bundesregierung 2010 plante, den Spritverbrauch von Autos eindeutiger zu kennzeichnen, damit wir als Verbraucher schneller erkennen, was wir uns beim Kauf eines Neuwagens einhandeln, hätten die Hersteller effizientere Autos bauen und damit der Gesellschaft wie auch der Natur einen Gefallen tun können. Doch das ist langwierig, kompliziert und teuer. Also lenkten sie ihre Energie auf die Lobbyarbeit und versuchten, die Kennzeichnung im eigenen Interesse zu ändern. Und mit Erfolg: Statt ein Spektrum von A (gut) bis G (schlecht) abzubilden, begann die Skala einfach bei A+. Ein B-Auto wurde so mit gleichem Motor zu einem A-Auto, zweiter Platz eben. Doch für den Käufer hört sich Letzteres natürlich wesentlich besser an, finden Sie nicht? Und noch schlimmer: Der schließlich in geänderter Form verabschiedete Entwurf stammte wohl komplett aus der Feder der Industrie, die auch noch den Service übernahm, die Bundesregierung zu koordinieren. »Wir sind uns mittlerweile mit dem BMWi [Bundesministerium für Wirtschaft] über einen konkreten Vorschlag einig«, schrieb der Verband der Automobilindustrie (VDA) am 19. Februar 2010 an den Staatssekretär des Verkehrsministeriums. Nun gehe es darum, »auch das BMU [Bundesumweltministerium] für diesen Vorschlag zu gewinnen«. Oder auch in entwaffnender Dreistigkeit: »Das muss dem BMU noch mitgeteilt werden, sonst rechnet es falsch«, warnt VDA-Abteilungsleiter Martin Koers in einer Mail ans Wirtschaftsministerium. »BMU könnte sich vorstellen, so etwas zu prüfen.«3 Danken müssen wir der Deutschen Umwelthilfe, die die Veröffentlichung dieser und anderer Dokumente des Wirtschaftsministeriums vor Gericht erstritten hat.
Wenn sich einflussreiche Gruppen in Verteilungskoalitionen zusammenschließen, machen sie ein Land quasi unregierbar und bremsen gleichzeitig Innovationen. Diese »institutionelle Sklerose«, so Olson, kann einen schleichenden Verfall vormals erfolgreicher Gesellschaften zur Folge haben.
Dass Menschen für ihre Interessen werben, dass auch Unternehmen und Verbände das tun, ist in einer Demokratie normal. Aber problematisch ist es, wenn die Balance zwischen den Interessen in einer Gesellschaft nicht stimmt, wenn die Einflussnahme Einzelner auf politische Entscheidungen zu stark wird und wenn sich die Macht in unserer Demokratie langsam, aber stetig vom Souverän entfernt. So warnt sogar die Industrieländer-Organisation OECD in einer Studie davor, dass die wachsende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen zu wachsendem Einfluss der Reicheren auf die politischen Entscheidungen führt, insbesondere was das Steuersystem betrifft.4
Das Bild vom Lobbyismus als dem Vehikel prekärer Einflussnahme auf den Staat und seine Akteure greift allerdings zu kurz. Ich würde sogar sagen: Schön wär’s, wenn es nur darum ginge, wenn es wirklich so wäre, dass die Lobbyisten von außen auf einen Staat einwirken müssten. Nein, die Grenzen verschwimmen. In der Wissenschaft nennt man dieses Phänomen regulatory capture – die beste Übersetzung liegt wohl irgendwo zwischen »gekaperter Staat«, »Unterwanderung der Regulierungsbehörden« und »Seitenwechsel der Aufsicht«. Die theoretische Grundlage legte 1971 der Nobelpreisträger für Ökonomie, George Stigler.5 Er beschreibt, wie Unternehmen staatliche Regeln im Interesse ihres Profits gestalten. Im Extremfall ist der Staat gar nicht mehr in der Lage, adäquat zu regulieren, weil diejenigen, die er beaufsichtigen und denen er Regeln setzen soll, seine Organe schlicht vereinnahmen. »Bei vielen Entscheidungen waren wir auf den Rat der Banken angewiesen«, beschreibt ein Spitzenbeamter aus dem Bundesfinanzministerium genau dieses Phänomen mit Bezug auf Reformen an den Finanzmärkten.6
Mit Douglass North bezieht sich fast 20 Jahre später ein anderer Nobelpreisträger auf diesen Zusammenhang, wenn er schreibt: »Institutionen werden nicht unbedingt, nicht einmal üblicherweise, geschaffen, um sozial effizient zu sein; vielmehr werden sie […] geschaffen, um den Interessen derjenigen zu dienen, die die Verhandlungsmacht haben, neue Regeln aufzustellen.«7 Machtwirtschaft eben.
Besonders effizient ist eine regulatory capture, wenn sich Regulierer und Regulierte so nahe kommen, dass die Grenzen zwischen diesen zwei Sphären, die doch eigentlich strikt getrennt bleiben müssten, verschwimmen. Das passiert immer dann, wenn die Vertreter auf beiden Seiten ähnlich sozialisiert wurden, täglich ähnliche Arbeitsabläufe absolvieren und sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. Man war auf der gleichen Uni, man geht mittags zusammen in die Kantine, und man spricht miteinander angeregt über neue Forschungsergebnisse. Allein: Der eine soll Atomkraftwerke beaufsichtigen, der andere soll sie möglichst effizient auf Profit trimmen. Der eine soll Banken waghalsige Geschäfte untersagen, der andere soll mit genau diesen Geschäften viel Geld verdienen. Das kann nicht lange gut gehen.
Aus genau diesem Grund sollen Diplomaten alle vier Jahre den Standort wechseln: damit sie sich nicht zu sehr mit dem Gastland identifizieren, sondern weiterhin deutsche Interessen vertreten. Der Blickwinkel verändert sich, wenn diese Nähe nicht gekontert wird durch eine klare Kontrolle, ob jeder seinen Aufgaben wirklich gerecht wird.
Ein konkretes Beispiel sind die Regeln zur Eigenkapitalausstattung von Banken. Ein angesehenes Professorenteam untersuchte 2009 die Arbeitsweise der Bankenaufsicht vor dem Hintergrund der Finanzmarktkrise.8 Darin kommen sie zu einem klaren Schluss: »Die […] Neuausrichtung der Finanzaufsicht ab Mitte der neunziger Jahre geht maßgeblich auf den Einfluss der großen, international tätigen Bankinstitutionen und ihrer Interessenverbände zurück. […] Der Vorgang der Beeinflussung der Aufsichtsregeln durch die zu Beaufsichtigenden ist am besten als ›regulatory capture by sophistication‹ – Vereinnahmung durch Sachkompetenz – zu beschreiben.« Selbst als es dann im Zuge der Finanzkrise zu einer Neuverhandlung des Regelwerks für Eigenkapitalquoten kam – die sogenannten Basel-III-Verhandlungen –, beharrten die Regulierer von der Bundesbank auf den Positionen der Großbanken und widersetzten sich in deren Interesse einer Schuldenbremse für Banken.
Ich habe den ehemaligen Präsidenten der Bundesbank, Axel Weber, einmal genau auf dieses Phänomen in Bezug auf die Bundesbank angesprochen, denn mir schien häufig der Unterschied in der Argumentation zwischen Bundesbank und Deutscher Bank erschreckend gering zu sein: »Wie gehen Sie in der Bundesbank mit dem Phänomen des regulatory capture um?« Die Antwort ließ mich allerdings eher beunruhigt zurück. Der Mann, der besonders sensibel dafür sein müsste, ob ihm seine Berater – gewollt oder ungewollt – Bankenpositionen als Politikempfehlung unterjubeln, ließ nicht gerade ein ausgeprägtes Problembewusstsein auf diesem Gebiet erkennen. Dabei kannte er als Ökonomieprofessor sicher auch Stiglers Forschungsarbeiten.
So müssen wir eigentlich weniger von einseitiger Einflussnahme sprechen, sondern von Tauschprozessen. In dem Sammelband Die fünfte Gewalt ist dieser Prozess anhand der Zuarbeit von Lobbyisten zu konkreten Gesetzgebungsvorhaben klar beschrieben: »Das Lobbying hat hier einen Tauschcharakter, denn die Referenten sind an verwertbaren Informationen aus der Praxis und an Informationen über mögliche Widerstände interessiert, während Lobbyisten in den Entwürfen möglichst ihre Handschrift hinterlassen oder sie ganz zu Fall bringen wollen.« Und später heißt es: »Dabei ist es durchaus üblich, dass für Referentenentwürfe eigene Formulierungen oder ganze Ausarbeitungen durch Lobbybüros erstellt werden. Solche Formulierungshilfen sind in der Regel willkommen und gängige Praxis.«9 Manchmal schreiben Wirtschaftskanzleien ganze Gesetze.
Der »Drehtüreffekt« bezeichnet den fliegenden Wechsel zwischen Positionen in der Wirtschaft und dem Staat. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um einen direkten Seitenwechsel von Aufseher zu Beaufsichtigtem oder andersherum. Auch dieser Effekt ist ja nur oberflächlich eine einseitige Beeinflussung. Zunächst spielt die Sozialisierung eine wichtige Rolle. So wird jemand, der viele Jahre in großen Unternehmen gearbeitet hat, ein intuitiveres Verständnis für die Belange der Branche und insbesondere des entsprechenden Unternehmens mitbringen, wenn er auf die Seite der Regulierer wechselt. Das kann von großem Vorteil sein, keine Frage, es kann aber eben auch den unparteiischen Blick trüben. Daneben gibt es stets die lukrative Rückkehroption. Die Tätigkeit bei der BaFin als Beschäftigter im öffentlichen Dienst ist, rein finanziell, jedenfalls nicht besonders attraktiv für jemanden, der die Alternative hat, für eine erfolgreiche Investmentbank Risikomodelle zu berechnen. So schafft die Aussicht auf eine zukünftige Beschäftigung in der regulierten Branche einen Anreiz für die Regulierer, sich möglichst wirtschaftsnah zu geben.
In einer im Rückblick völlig unverständlichen Verirrung rot-grüner Regierungspolitik führte der damalige SPD-Minister Otto Schily ein Personalaustauschprogramm zwischen Bundesregierung und Wirtschaft ein, das ironischerweise auch noch den Titel »Seitenwechsel – Schreibtisch tauschen« trug. Damit wurde dieser heikle Drehtüreffekt auch noch staatlich gefördert! Eine unverhohlene Einladung an die Lobbyisten. Bezahlt von den Unternehmen, saßen deren Vertreter fortan direkt in den Ministerien und schrieben in einigen Fällen auch direkt an Gesetzesvorlagen mit. Wir müssen den Journalisten Kim Otto und Sascha Adamek von der ARD-Sendung Monitor danken, dass sie diese Reinform der Einflussnahme aufgedeckt und somit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst haben. Diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die da den Schreibtisch getauscht hatten, sind dem Profit der Konzerne, nicht dem Gemeinwohl verpflichtet gewesen. Der Staat hat in diesem Fall nicht mal mehr seine eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bezahlt, sondern hat die Wirtschaftsmacht gleich selbst Hand anlegen lassen. Unfassbar!
Heißt das, dass Behörden und Ministerien nie Leute mit Markterfahrung rekrutieren sollten? Heißt das: einmal öffentlicher Dienst – immer öffentlicher Dienst? Nein, das wäre Quatsch. Ich bin keinesfalls dagegen, dass Wirtschaftsvertreter Politik machen und dass Politikerinnen und Politiker nach ihrer aktiven Zeit wieder zurück in die Wirtschaft gehen. Dies kann eindeutige Vorteile haben, da im Privatsektor erworbene Fachexpertise in der Tat im politischen Bereich oft Mangelware ist und da es auch den Unternehmen guttut, wenn sie den politischen Prozess etwas realistischer einschätzen können. Aber es bedeutet, dass wir kluge Regeln brauchen, um zu verhindern, dass von staatlicher Seite aus die Interessen großer Unternehmen bedient werden.
Das Gegenteil solcher klugen Regeln ist, wenn man gleich eine gemeinsame Lobbygruppe gründet. Geschehen 2003, als die Finanzindustrie – man lasse es sich auf der Zunge zergehen! – gemeinsam mit dem Bundesfinanzministerium und der Bundesbank die sogenannte Initiative Finanzstandort Deutschland aus der Taufe hob. Hier zogen also Regulierer und Regulierte lobbytechnisch am selben Strang. Und für was? Für weniger Regulierung! Man muss sich das so vorstellen, dass das Bundesfinanzministerium und die Bundesbank sich selbst aufforderten, bankenfreundlichere Politik zu machen. Auch nach Ausbruch der Krise stritt man Seit’ an Seit’ gegen eine härtere Bankenregulierung, insbesondere gegen eine Schuldenbremse für Banken. Das habe ich dann mal öffentlich gemacht.10 Aufgrund der medialen Kritik und interner Streitigkeiten wurde die Initiative schließlich aufgelöst.
Wechselseitige Vorteile für Politiker und Großunternehmen liefert auch die sogenannte Public-Private Partnership, kurz PPP (oder seltener auch ÖPP für Öffentlich-Private Partnerschaft). Die Idee ist schnell erklärt: Anstatt Großprojekte selber in Angriff zu nehmen und sich dafür zu verschulden, delegieren die staatlichen Auftraggeber – Bund, Länder oder Kommunen – deren Bau und Vertrieb komplett an private Unternehmen. Im Gegenzug zahlen sie, etwa über 30 Jahre, eine Art Nutzungsgebühr, die aus den anfallenden Einnahmen bestritten wird. Das Kalkül: Das Risiko für höhere Kosten und niedrige Einnahmen tragen die privaten Unternehmer. Deswegen haben sie auch einen Anreiz, höchste Qualität zu liefern. Und überhaupt, wer will schon in Zweifel stellen, dass ein Unternehmen wesentlich effizienter arbeitet als die Verwaltung. Klingt gut? Ist aber nur die halbe Wahrheit.
Denn damit wird eine Form der Finanzierung gefördert, die systematisch die eigentlich langfristig günstigere Variante verhindert. Wieder einmal kommen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die Gewinne der Privaten auf – und zwar wegen der unterschiedlichen Zinsniveaus. Denn der Staat kann sich immer wesentlich günstiger bei Banken oder Vermögenden verschulden als private Unternehmen. Dieser Zinsunterschied, zurzeit liegt er bei etwa 2,6 Prozent, kann bei Großprojekten durch keine Effizienz der Welt aufgeholt werden. Der Journalist Harald Schumann rechnet vor, dieser Zinsnachteil ergebe »allein für das rund 300 Millionen Euro teure Teilstück der A6 in Baden-Württemberg Mehrkosten von 110 Millionen Euro, also gut ein Drittel des ganzen Bauvolumens«.11
Offizielle Zahlen aus dem Verkehrsministerium hingegen sprechen von Einsparungen von 33,4 Millionen Euro durch das PPP. Doch, so zeigt Schumann, beruht das dazu erstellte Gutachten »auf zahlreichen willkürlichen Annahmen«. Es wurde getrickst, so dass die Rechnung stimmt und der Steuerzahler den Eindruck bekommt, dies sei eine gute Sache für alle Beteiligten. Erst im Nachhinein sieht man dann, dass es falsch war. Die Profiteure sind Unternehmen, die die Aufträge bekommen, die Banken, die gut verzinste Kredite vergeben, sowie die Berater und Rechtsanwälte, die bei der Auftragsgestaltung helfen.
Profiteure sind aber auch Politiker. Durch PPP werden Investitionen ermöglicht, ohne dass dazu explizit neue Schulden aufgenommen werden müssten, PPP wirkt damit wie ein Schattenhaushalt. Die Schuldenbremse in der Verfassung kann umgangen, den Bürgerinnen und Bürgern eine niedrige Neuverschuldung vorgegaukelt werden. Denn formal ist es ja nicht der Staat, der hier Kredite aufnimmt. Doch es ist Irrsinn, zu glauben, dadurch würde eine Finanzierung günstiger. Das kann gar nicht so sein, da der Staat ja auch so 30 Jahre lang die Baukonsortien bezahlen muss – am Ende eben sogar mit mehr Geld, als er für die Tilgung seiner eigenen Schulden hätte aufbringen müssen. »Anstatt für 2 Prozent Zins bei den Banken und Vermögenden« verschulde sich die Regierung nun »für 5 Prozent Zins bei der Bauindustrie«, stellt der Grüne Fraktionsvorsitzende Toni Hofreiter dazu passend fest.12
Für Politikerinnen und Politiker ist es natürlich gut, wenn sie während ihrer Amtszeit schöne Projekte anstoßen können, deren langfristige Lasten dann von anderen verantwortet werden müssen. Doch immer wieder wehren sich Bürgerinnen und Bürger, Parlamentarierinnen und Parlamentarier sowie Aufsichtsbehörden gegen die schiefen Rechnungen. Das ärgert natürlich die Bauwirtschaft, Beratungsunternehmen und Finanzierer, weil ihnen ihre Geschäftsmöglichkeiten zu Lasten des Steuerzahlers verloren gehen. Damit das nicht zu häufig vorkommt, ist man auf die Idee verfallen, bundesweit im staatlichen Auftrag für PPP werben zu lassen, um die Diskussionen vor Ort in die richtige Richtung zu lenken. Unter der Großen Koalition wurde die ÖPP Deutschland AG (Partnerschaften Deutschland) gegründet, die PPP fördern soll. Staat und interessierte Unternehmen finanzieren über diese Gesellschaft Seit’ an Seit’ die einseitige Beratung, damit noch mehr PPP-Projekte realisiert werden können. Der Name ist Programm: Es geht um eine Partnerschaft. Von der Vorstellung der Ordoliberalen, dass der Staat Schiedsrichter ist am Markt, ist da nicht mehr viel übrig.
Dass es nicht um eine unerwünschte Beeinflussung, sondern um eine Partnerschaft geht, kann man bei vielen Anhörungen im Finanzausschuss sehen. Solche öffentlichen Anhörungen werden bei allen wichtigen Gesetzen durchgeführt. Jeder Fraktion steht es frei, nach einem Proporzsystem eigene Sachverständige für die Anhörungen zu benennen. Und da wird manchmal das ganze Drama sichtbar.
Beispiel öffentliche Anhörung zum Hochfrequenzhandel am 16. Januar 2013. Von den Regierungsfraktionen werden vor allem Branchenvertreter der Unternehmen eingeladen, die durch eine Regulierung verlieren würden. Dazu gehören der Verband der Europäischen Eigenhändler, der Bundesverband der Wertpapierfirmen, das Deutsche Aktieninstitut sowie die zwei großen Börsen aus Frankfurt und Stuttgart, die an der Präsenz der Hochfrequenzhändler gut verdienen. Dazu neben BaFin und Bundesbank wie immer auch die Deutsche Kreditwirtschaft, also der Zusammenschluss der Bankenverbände. Geht’s noch? Wie soll denn ein einigermaßen ausgewogenes Bild entstehen, wenn die übergroße Mehrzahl der vom Ausschuss eingeladenen »Sachverständigen« bezahlte Lobbyisten sind? Wir Grünen hatten als Gegengewicht Benoît Lallemand von FinanceWatch gebeten, darzulegen, ob man Hochfrequenzhandel braucht oder nicht. Und seine Antwort war klar und eindeutig: Nein.
Am krassesten war es bei einem kleinen Fachgespräch zu Eigenkapitalvorschriften für Banken mit nur wenigen Sachverständigen. Hier sah es zunächst so aus, als würden ausschließlich (!) Interessenverbände eingeladen. Nur auf Druck von uns Grünen kam es dazu, dass auch unabhängige Wissenschaftler vor dem Gremium referieren durften.
Viele Beobachter ziehen den vereinfachenden Schluss, dass bei diesen Auseinandersetzungen auf der einen Seite »die Wirtschaft« und auf der anderen Seite »der Staat« steht. So einfach ist es aber nicht. Denn wenn Lobbyisten oder die ihnen auf den Leim gegangenen Volksvertreter und Ministerialbeamten von den Interessen »der Wirtschaft« sprechen, sind so gut wie immer die Interessen von großen Unternehmen gemeint. Denn diese sind es, die die Macht haben, auch in den Verbänden. Gegen Lobbyismus zu sein bedeutet also keineswegs, gegen »die Wirtschaft« zu sein – im Gegenteil! Wer wird denn ernsthaft in Frage stellen wollen, dass Deutsche Bank und Commerzbank den größten Einfluss auf den Bankenverband haben, genauso wie BASF und Bayer im Verband der Chemischen Industrie oder E.ON und RWE im Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft? Allerdings wird öffentlich gerne der Schutz des Mittelstands vorgeschoben, wenn es eigentlich um ganz andere Interessen geht. Hier lassen sich auch die Mittelständler, erst recht die kleinen Selbstständigen, von den Großunternehmen oft über den Tisch ziehen. Eine Politik gegen die Lobbyisten ist daher im Kern eine Politik für die große Mehrheit in der Wirtschaft. Für die Markt-, nicht für die Machtwirtschaft!
Spannende Karriere- und Verdienstmöglichkeiten für ehemalige Politiker oder Beamte kann ja schlecht die kleine Konditorei in der Mannheimer Neckarstadt bieten oder die Volksbank Sandhofen. Solche kleinen Unternehmen können für Seitenwechsler keine lukrativen Rückkehroptionen mit hohen Einkommen vorhalten. Das kann nur eine Großbank oder ein anderes Großunternehmen. So ist es kein Zufall, dass wir bei diesen Verflechtungen genau diejenigen Unternehmen wiederfinden, die uns schon bei der Betrachtung von Marktmacht und Konzentrationstendenzen auffielen. Bei wem verdienen denn ehemalige Spitzenpolitiker wie Eckart von Klaeden (CDU), Gerhard Schröder (SPD) oder Joschka Fischer (Grüne) heute ihr Geld? Doch nicht bei Mittelständlern, sondern bei großen Unternehmen wie Daimler oder als deren Berater.
Und so muss man die verschiedenen genannten Beispiele in ihrer Summe verstehen: Das Problem ist nicht vollständig beschrieben, wenn man davon spricht, dass einzelne Lobbyisten an staatliche Entscheidungsträger herantreten und sie zu beeinflussen suchen. Nein, es handelt sich häufig eher um eine Symbiose zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern, bei denen beide Seiten profitieren. Sich verändernde Konstellationen mit übereinstimmenden Interessen bilden sich immer wieder neu aus einem engen Netzwerk an der Schnittstelle zwischen Parteien und großen Unternehmen. Unternehmenslenker und Verbandsvertreter sind oft genug selber Parteimitglieder und haben als solche privilegierten Zugang zu Entscheidungsträgern in Parlament und Staatsapparat, die umgekehrt ihre Nähe und Unterstützung suchen. Der Deutsche Derivateverband muss die FDP nicht von außen beeinflussen, der Geschäftsführer ist FDP-Mitglied und langjähriger Freund von Guido Westerwelle. Und im Sparkassenlager platzieren CDU und CSU seit Jahren ihre Mitglieder an den entscheidenden Stellen: Auf Horst Köhler (CDU) und Dietrich Hoppenstedt (CDU) folgten Heinrich Haasis (CDU) und Georg Fahrenschon (CSU) an der Spitze des Sparkassenverbands – ein merkwürdiger Zufall, dass die besten Finanzfachleute für die Sparkassengruppe jeweils das richtige Parteibuch hatten. Auch an der Spitze der Commerzbank steht mit Klaus-Peter Müller seit Jahren ein prominentes CDU-Mitglied. Er hat lange den hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch beraten – zufälligerweise hat sich in dieser Zeit gerade Hessen immer besonders darin hervorgetan, Bankeninteressen im Bundesrat voranzubringen.
Wie sehr diese Symbiose den meisten Menschen in unserem Land schadet, ist selten im Detail nachweisbar, auch wenn wir viele Fälle dieser Symbiose kennen. Das von dem Verein Lobbycontrol betriebene Online-Lexikon Lobbypedia etwa nennt die Lobbyisten, die in Ministerien arbeiten, Greenpeace listet im Schwarzbuch Kohlepolitik 45 Politiker auf, die eine fragwürdige Nähe zur Kohleindustrie haben.13 In einem Fall allerdings ist der Schaden klar quantifizierbar, nämlich beim Kauf von 18 Prozent der EnBW-Aktien durch das Land Baden-Württemberg für 4,7 Milliarden Euro. Weil interne Mails öffentlich wurden, können wir heute die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Investmentbanker Dirk Notheis (CDU) von Morgan Stanley und Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) nachvollziehen, die sich aus gemeinsamer Zeit bei der Jungen Union kannten. Sie ging bis hinein in die Absprache zur parteiinternen Taktik. »Du fragst Mutti, ob sie Dir das arrangieren kann«, riet Notheis seinem Kumpel Mappus.14 Gemeint war ein Treffen mit dem französischen Präsidenten Sarkozy, das Bundeskanzlerin Merkel organisieren sollte. Am Ende zahlten Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg 780 Millionen Euro zu viel für die Aktien.15 Eine teure Freundschaft.
In der allgemeinen Debatte um »mehr Markt« oder »mehr Staat« wird häufig so getan, als seien diese beiden Positionen klar zugeordnet. Es gibt – so die von Medien, Wissenschaftlern und auch von Politikern selbst verbreitete Mär – die Freunde des Marktes auf der rechten Seite des politischen Spektrums und die Freunde des Staates auf der linken Seite. Zu Ersteren gehören, so die gängige Story, insbesondere FDP und CDU/CSU, und sie setzen sich für eine Gesellschaftsordnung ein, in der das freie Spiel der Märkte zu effizienten und damit wünschenswerten Ergebnissen führt. Zu Letzteren zählt man die SPD, die Linkspartei und wohl mehrheitlich auch uns Grüne, die wir uns für einen Fürsorgestaat einsetzen, der die Gesellschaft zwar etwas unfreier, dafür aber sicherer macht. Doch stimmt das überhaupt?
Ich bin überzeugt, dass die Gegenüberstellung von »links gleich staatsorientiert« und »rechts gleich marktorientiert« nicht nur obsolet ist, sondern in dieser Form nie galt. Ja, sie übertüncht das, was eigentlich geschieht, und bringt die politische Linke in eine Defensivposition. Wir sollten uns diese falsche Sicht nicht aufdrücken lassen! Die Mappus-Notheis-Liaison hat ja mit Marktwirtschaft wenig zu tun, oder?
Schon in meiner Zeit am Walter-Eucken-Institut und bei der Stiftung Marktwirtschaft hat mich diese Frage beschäftigt. Warum wurden denn von vielen »Ordnungsökonomen« immer dieselben Sonderregelungen für Angestellte gegeißelt, aber gleichzeitig die vielen Gestaltungsmöglichkeiten für große Unternehmen und bei Finanzprodukten verschwiegen? Müssten nicht gerade Ordoliberale eigentlich Privilegien für wirtschaftlich starke Akteure besonders stark thematisieren? So zumindest las ich die Warnungen der älteren ordoliberalen Autoren und die Analyse von Mancur Olson, dass genau da die größeren Gefahren liegen. Das ist übrigens auch die Antwort auf die Frage, die mir oft gestellt wird: Wie bin ich als Grüner in solche konservativen Institute gekommen? Bin ich ein grüner Maulwurf bei den Konservativen oder ein konservativer Maulwurf bei den Grünen? Weder – noch. Ich fand und finde in den wissenschaftlichen Arbeiten des Ordoliberalismus die besten Antworten auf die Frage nach den Ursachen der in diesem Buch beschriebenen Fehlentwicklungen.
Die Augen geöffnet für die politische Tragweite dieses Phänomens hat mir allerdings erst 2006 der US-Ökonom Dean Baker mit seinem Buch Conservative Nanny State, zu deutsch etwa: »Der konservative Fürsorgestaat«.16 Er wendet sich gegen eine Positionierung der politischen Linken in der traditionellen und ideologisierten Markt-versus-Staat-Debatte und liefert zahlreiche Beispiele, wo die politische Linke die marktfreundliche Position einnimmt, die politische Rechte aber einen staatlichen Schutz privater Interessen verteidigt und damit milliardenschwere Privilegien und Subventionen mit einer marktfreundlichen Rhetorik verschleiert. Das ist genau das konservative Verständnis von Staat, das wir auch in Deutschland beobachten können: Mutti Staat kümmert sich – nur leider nicht um die Vielen, sondern um die Wenigen. Die Nanny für die großen Unternehmen gibt es nicht nur in den USA, sondern leider auch hierzulande.
In der Summe wird deutlich: Die Konservativen sind gar nicht für mehr Markt und weniger Staat! Sie sind für einen anderen Staat als die Linken, nämlich für einen Staat, der sich um die Oberschicht sorgt und in deren Interesse sehr wohl und sehr effizient die Dienste der zentralen Ordnungsmacht einspannt. Das Perfide: Dadurch, dass so getan wird, als würde eine solche Politik lediglich die freien Kräfte der Märkte zum Zuge kommen lassen, zwingen sie der Politik eine Scheindebatte auf.
Die Linke, so Bakers Argumentation, ist dieser Debatte größtenteils auf dem Leim gegangen, weil sie sich selbst das Abzeichen der Staatsgläubigkeit angeheftet und der Gegenseite ihre Marktgläubigkeit abgenommen hat. Anstatt klar und deutlich herauszuarbeiten, wie sich die Konservativen im Interesse der Wenigen trotz Marktrhetorik sehr wohl beim Staat bedienen, schaltet sie noch heute instinktiv auf argumentativen Abwehrkampf. Sie reagiert häufig mit dem reflexhaften Ruf nach mehr Staat, um ungerechte Marktergebnisse auszubügeln. Das ist der völlig falsche Ansatz. Linke müssen viel früher ansetzen und die Regeln für den Markt so gestalten, dass er gerechtere Ergebnisse produziert. In den Worten Dean Bakers: »Es ist sehr viel einfacher, den Fluss in eine richtige Richtung umzuleiten, als zu versuchen, seinen Weg zu blockieren und ihn rückwärts fließen zu lassen.«17
Das ist in Deutschland nicht viel anders. Im Kern sind beide Lager für Staat und für Markt, die Linien gehen häufig quer durch die Parteien. Allerdings ist im rechten Teil des politische Spektrums die Unterstützung für die wenigen, wirtschaftlich starken Interessen insgesamt stärker verankert als im linken Teil. Im krassen Widerspruch zu der angeblich marktfreundlichen Politik der schwarz-gelben Koalition unter Angela Merkel dominierten in den letzten Jahren die Interessen von großen Unternehmen. Trotzdem lässt sich die politische Linke das Etikett »staatsgläubig« aufkleben, die politische Rechte freut sich, dass wir dann für alle Fehler und Unzulänglichkeiten des Staates herhalten sollen. Wenn wir uns in diese Falle begeben, werden wir die wichtige Auseinandersetzung, welchen Staat wir eigentlich wollen, verlieren. Gerade Linke haben ein Interesse an einer Korrektur ungerechter Politik. Denn die Beispiele für die Interessenpolitik von Mutti Staat sind auch bei uns in Deutschland Legion.
Subventionen für Großbanken, die Umverteilungsmaschine der Finanzmärkte, mangelnde Suchtprävention bei Spielhöllen, Aktiendeals mit einem befreundeten Investmentbanker oder PPP-Projekte für die Bauwirtschaft zu Lasten der Steuerzahlerin, die Steuerermäßigung für Hotels – was ich in diesem Buch beschreibe, sind keine Ausnahmen und keine Zufälle. Ebenso wenig die Laufzeitenverlängerung für die Atomkonzerne, die deren Gewinne um Milliarden Euro erhöhen sollte, oder die Agrarsubventionen, die zu großen Teilen bei Großbetrieben landen. Das sind Ergebnisse einer Politik, die interessengeleitet und nicht gemeinwohlorientiert ist. Die Liste lässt sich leider sehr gut verlängern.
Gleichzeitig wurden die Ausgleichsmechanismen im Steuersystem reduziert, die eigentlich natürliche Gegengewichte einer aus dem Ruder laufenden Ungleichverteilung bildeten. Auch hier sieht man, für wen sich Mutti Staat in den letzten Jahren eingesetzt hat.
Gerade im Bereich der Vermögen und der damit verdienten Erträge wurden die Steuern gesenkt. Das Argument war immer das gleiche: Weniger Umverteilungswirkung im Steuersystem ist gut, weil das Arbeitsplätze schafft und Wachstum und damit alle reicher macht. Die Liste der Steuersenkungen und -streichungen ist lang und reicht von der Abschaffung der Börsenumsatzsteuer, der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer über die Senkung der Spitzensteuersätze hin zur Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne.
Vor allem mit der Abgeltungssteuer wurde ein zentrales Prinzip gebrochen: dass Kapitaleinkommen genauso besteuert werden sollten wie Arbeitseinkommen. Seit 2009 gelten fürs Kapital niedrigere Sätze. Und da die Gutbetuchten einen Großteil ihrer Einkommen durch das Verwalten ihrer Vermögen verdienen, wachsen ihre Kontostände jetzt noch schneller.
Das Steuersystem hat damit seinen Teil dazu beigetragen, dass sich die vom Finanzsystem geschaffenen Scheinvermögen munter weiter vermehren konnten, dass die Zentrifugaltendenzen der ungerechten Verteilung bei schwindenden Gegengewichten an zusätzlicher Kraft gewannen. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler vergleicht in seinem Buch Die neue Umverteilung die Abgabenbelastung von Vermögen, Erbschaften und Arbeitseinkommen und zieht das Fazit: »Deutschland schont […] den Besitz, belastet aber das Erarbeiten von Wohlstand.«18
Genau wie bei der Deregulierung der Finanzmärkte wurde uns allen vorgegaukelt, dass niedrige Steuern für Unternehmen und Wohlhabende am Ende alle reicher machen würde. Doch das stimmt nicht. Nur eine relativ kleine Spitze hat es geschafft, immer reicher zu werden. »Die wirtschaftliche Leistung unseres Landes wird zunehmend eine Beute des Reichtums«, fasst Gustav Horn, der Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), diese Entwicklung treffend zusammen.19
Doch den Vogel der Interessenpolitik im Sinne der oberen 10 Prozent hat Mutti Staat im Zuge der Bankenrettung abgeschossen. Mit dem Ausbruch der weltweiten Finanzkrise kamen ab 2008 auch europäische Institute schnell ins Straucheln. Spätestens ab Herbst 2009 gerieten aufgrund schon hoher Schulden (wie im Fall Griechenland oder Portugal) oder aufgrund der Bankenrettung (Irland, Spanien, Zypern) auch einige Staaten in den Fokus. Und die politische Elite einigte sich im kurzfristigen Streben nach Stabilität stillschweigend auf eine verhängnisvolle Vorgehensweise: Die Verluste werden sozialisiert. Dieses desaströse Umverteilungsprojekt wird in einem aktuellen Buch zur Finanzkrise Der größte Raubzug der Geschichte genannt.20 Nicht zu Unrecht.
Mir ist wichtig, dass möglichst viele verstehen, wie es dazu kam. Denn dieser Raubzug konnte und kann nur deshalb stattfinden, weil die meisten Menschen bei finanzpolitischen Themen schnell abschalten: »Das ist mir viel zu kompliziert!« Ich verspreche – es ist wesentlich einfacher zu verstehen, als man glaubt. Und wenn man es einmal verstanden hat, geht einem der Hut hoch.
Wenn die Vermögenswerte einer Bank aus irgendwelchen Gründen plötzlich an Wert verlieren, kann es passieren, dass ihre Schulden höher sind als diese Vermögenswerte. Die Bank könnte also im Fall der Fälle nicht alle ihre Gläubiger auszahlen, ihr Eigenkapital ist weg – sie ist pleite. Genau das passierte im Zuge der Finanzkrise. Die Werte der teilweise abenteuerlichen Investitionen stürzten jäh ab, und waghalsige Kredite an Unternehmen, Privatpersonen und andere Banken wurden faul. Normalerweise hätten die Aktionäre, also die Eigentümer der Bank, die Verluste zu tragen. Wenn das nicht reichen würde, müssten diejenigen, die der Bank Geld geliehen hatten (Gläubiger), Verluste hinnehmen, indem sie ihr Geld ganz oder teilweise verlören oder zumindest auf Zinszahlungen verzichteten.
Normalerweise. Doch bei der in Europa durchgeführten bedingungslosen Bankenrettung garantiert der Staat die Schulden der Bank oder bezahlt diese Schulden, indem er der Bank dafür Geld gibt. Das kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass der Staat die Bank verstaatlicht und damit alle Zahlungsverpflichtungen der Bank erfüllt. Wem hilft das? Natürlich nicht eigentlich der Bank, das ist ja nur ein Unternehmen, eine juristische Person, eine Hülle sozusagen. Wirklich profitieren tun diejenigen, denen die Bank Geld schuldet, die dieser Bank also Geld geliehen haben. Das sind zum Beispiel Fonds, Versicherungen oder auch Unternehmen. Diese Gläubiger beziehungsweise die hinter ihnen stehenden Privatpersonen profitieren davon, wenn die Bank gerettet wird. Manchmal sind die Geldgeber der Bank wiederum Banken. Dann ist die Rettung einer Bank gleichzeitig auch die Rettung der nächsten. Das geschah zum Beispiel in Deutschland: Dadurch, dass die HRE gerettet wurde, wurde der Deutschen Bank geholfen.
Das ist eines der Argumente, warum die Staaten in der Krise die Bankschulden garantierten oder direkt übernahmen. Denn aufgrund der engen Verflechtungen zwischen den einzelnen Banken griff auf dem Höhepunkt der Krise – wohl nicht ganz zu Unrecht – die Angst vor einer sich schnell verbreitenden Epidemie um sich. Zur Stabilisierung garantierten Staaten daher zunächst alle Bankschulden. Für die Einlagen von Kleinsparern und Unternehmen ist das nur allzu verständlich, ja es ist gar eine Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren der Realwirtschaft. Dafür gibt es ja die Einlagensicherung. Sie soll verhindern, dass bei Kleinsparern Panik ausbricht. Denn wenn die Kundinnen und Kunden das nicht vorhandene Geld gleichzeitig von ihrer Bank abheben, kommt es zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung, zu einem sogenannten bank run.
Doch bei der Bankenrettung in Europa sind nicht nur die Einlagen der Kleinanleger gesichert worden. Nein, auch alle anderen Gläubiger, die man durchaus hätte beteiligen können, wurden gerettet. Und das wäre nicht nötig gewesen. Denn selten geht es ja darum, dass dann alles Geld der Gläubiger weg wäre. Meistens hätten die Geldgeber 10 oder 20 Prozent ihres Geldes verloren. Das hätte sie noch nicht selbst ins Wackeln gebracht. So hätte die Lehman-Krise ohne Steuerzahlergelder bewältigt werden können, wenn die Gläubiger von Lehman Brothers auf 15 Prozent ihrer Ansprüche verzichtet hätten.21 Außerdem gibt es die Möglichkeit, den Anlegern anstelle der Kredite einen Tausch anzubieten: Sie bekommen zwar nicht ihr Geld zurück, sie erhalten aber Aktien der Bank. Das ist besser für die Gläubiger, als wenn ihr Geld ganz weg wäre. Und es ist besser für die Bank, weil sie dann neues Eigenkapital hat, um das Eigenkapital zu ersetzen, das ihr verloren gegangen ist.
Der Staat muss nur dann ins Risiko, wenn die volkswirtschaftlichen Auswirkungen einer Gläubigerbeteiligung die Kosten der Rettung überwiegen. Das hat mir in den vielen Jahren, die ich mich mit Bankenrettungen beschäftige, noch keiner beweisen können. Man hat die Apokalypse an die Wand gemalt und vor diesem Drohszenario behauptet, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler alle Bankschulden garantieren sollen. Mutti Staat hat also diejenigen geschont, die Banken Geld geliehen haben. Diese Gläubiger sind in der großen Mehrzahl Menschen, die zu den obersten 10 Prozent gehören. Denn, wir erinnern uns, über 66,6 Prozent des Geldvermögens liegen bei den obersten 10 Prozent.22 Die Stabilisierung dieser Vermögen durch Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ist also eine gigantische Umverteilung von unten nach oben.
Schauen wir uns die Bankenrettungen mal etwas genauer an. Fragt man die Bürger hierzulande, wer in Europa gerade wen rettet, heißt die intuitive Antwort: Allen voran Deutschland unterstützt Irland, Spanien, Portugal und Griechenland. Fragt man aber die Menschen in Krisenstaaten, sehen sie das genau andersherum.
Verkehrte Welt? Die Geretteten retten die Retter? Oder sind die Retter am Ende die Geretteten? Bevor wir uns hier verhaspeln, verfolgen wir doch einfach mal den Fluss der Milliarden.
Irlands Banken investierten in eine überdimensionierte Immobilienblase. Als die platzte, waren die Banken überschuldet, es drohten Ausfälle für die Gläubiger. Doch wer waren diese Gläubiger? Irische Kleinanleger? Waghalsige Hedgefonds? Nicht nur. Allein deutsche Banken hatten zwischen 2005 und 2008 mehr als 100 Milliarden Euro nach Irland gelenkt, das entspricht zwei Drittel der Wirtschaftsleistung des kleinen Landes. Der Blogger Guido Fawkes veröffentlichte im Oktober 2010 eine Gläubigerliste der Pleitebank Anglo Irish – darunter die Namen großer deutscher Banken und Vermögensverwaltungen.23 Indem nun diese Gläubiger geschont und die Bankschulden vom Staat übernommen wurden, kamen an den Finanzmärkten zu Recht Zweifel an der Stabilität der irischen Staatsfinanzen auf. Denn der Staat hatte Schulden des Finanzsektors in der Höhe von sage und schreibe 41,6 Prozent24 der Wirtschaftsleistung übernommen, in Deutschland entspräche das 1,1 Billionen Euro! Mit diesem Schuldenstand aber war es für Irland nur noch zu sehr hohen Zinsen möglich, sich an den Kapitalmärkten neues Geld zu leihen. Deswegen schlüpften sie unter den europäischen Rettungsschirm und bekamen fortan das berühmte Rettungsgeld, das auch von der Bundesrepublik garantiert wird – allerdings nicht umsonst, sondern zu ansehnlichen Zinsen von 5,5 und 6,5 Prozent.25 Dieses Rettungsgeld landet zunächst beim irischen Staat, wird dann an die Banken weitergeleitet, die damit direkt wieder die ausländischen Gläubiger ausbezahlen, die eben auch größtenteils in Deutschland sitzen. Die Hilfskredite landen damit zu relevanten Teilen direkt wieder in Deutschland. Irland ist eine große Wechselstube geworden, in der die Milliarden nur kurze Zeit aufleuchten, um gleich darauf wieder ins Ausland zu verschwinden. Mit einem gewaltigen Unterschied: Die Schulden abtragen müssen nun die Menschen in Irland – durch höhere Steuerzahlungen oder durch massive Kürzungen im irischen Staatshaushalt.26
Irische Ökonomen und Politiker sind sich einig: Diese erzwungene Bankenrettung war ein schwerer Fehler. Man möchte also meinen, er würde so schnell nicht wiederholt. Doch in Spanien wurde bis Sommer 2012 unter den Augen der bankenrettungsgeplagten Öffentlichkeit einmal mehr eine dreiste Sozialisierung von Verlusten organisiert, während gleichzeitig massive Kürzungen bei Bildung, Gesundheit und im Sozialbereich durchgesetzt wurden. Als hätte Europa einen Sprung in der Platte: Die Regierung garantierte zunächst die Bankschulden, sah sich dann gezwungen, einzelne Institute zu retten, und konnte sich schließlich selbst nicht mehr an den Kapitalmärkten finanzieren, so dass sie bei den Europäern Hilfskredite beantragte.
Das wäre vermeidbar gewesen. Eine angemessen Beteiligung der Gläubiger der strauchelnden Banken hätte nach Berechnungen spanischer Experten ein europäisches Hilfspaket überflüssig gemacht.27 So sieht das auch der Internationale Währungsfonds in seinem Bericht zu Spanien vom November 2012. Denn das neue spanische Restrukturierungsgesetz liefert die Grundlage für eine weitreichende Gläubigerbeteiligung. Wir Grünen haben deshalb im Haushaltsausschuss zusammen mit der SPD darauf gedrängt, die wesentlich ambitionierteren Pläne des IWF zur Gläubigerbeteiligung umzusetzen. Dem ist die Koalition nicht gefolgt, ganz in der Tradition von Mutti Staat: Geldvermögen werden unhinterfragt geschützt und gleichzeitig Kürzungen bei den Ausgaben vorgenommen, die für Menschen mit kleinen Einkommen wichtig sind – Umverteilung von unten nach oben.
In einer Kleinen Anfrage28 an die Bundesregierung stellte ich mit meiner Fraktion am 26. Oktober 2012 die Frage: Wer sind eigentlich die Profiteure? Wir wollten wissen, wieso schon wieder Banken vom Steuerzahler gerettet werden und warum eine weiterreichende Beteiligung privater Gläubiger ausgeschlossen wird. Die Antwort ist pikant. Denn das Bundesfinanzministerium bestätigt, dass der deutsche Finanzsektor mindestens 11,9 Milliarden Euro bei den staatlich rekapitalisierten Wackelbanken ausstehen hat. Gegenüber dem spanischen Finanzsektor insgesamt haben Deutschlands Banken sogar Forderungen von mehr als 50 Milliarden Euro, die mit der erhofften Stabilisierung des spanischen Bankensystems ebenfalls gesichert werden. Zum Vergleich: Das Gesamtpaket umfasst knapp 40 Milliarden Euro.
Der IWF hat einmal errechnet, in welcher Höhe der Finanzsektor in einzelnen Ländern vom Steuerzahler unterstützt worden ist. Deutschland brachte zwischen 2008 und 2011 mehr als 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zur Stabilisierung maroder Banken auf.29 Das entspricht 316 Milliarden Euro und ist damit mehr als der Bundeshaushalt eines ganzen Jahres! Zum Vergleich: Die Summe der jährlichen weltweiten Entwicklungshilfe liegt bei etwa 100 Milliarden Euro! Die USA mobilisierten hingegen nur 5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Denn dort wurden seit Ausbruch der Krise über 450 Regionalbanken abgewickelt, eine Übertragung der Schulden dieser Banken auf den Staat fand nicht statt. Das wäre der Weg gewesen, den Europa hätte gehen sollen.
Doch die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland bekommen von der Regierung Merkel und den meisten Medien eine andere Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte von den verschwenderischen Staaten in Südeuropa. Wie die Finanz- und Bankenkrise innerhalb nur weniger Jahre für die Öffentlichkeit zu einer Staatsschuldenkrise umgedeutet wurde – das ist auch eine Meisterleistung der Öffentlichkeitsarbeit von Mutti Staat. Spanien beispielsweise, das Mitte 2012 im Fokus der Spekulanten stand und sich nur noch zu exorbitanten Zinsen refinanzieren konnte, hatte eigentlich nie ein Problem mit zu hohen Staatsschulden. Im Gegenteil, die Regierung erwirtschaftete zwischen 2001 und 2008 kontinuierlich Haushaltsüberschüsse. In Spanien waren es insbesondere Unternehmen und Privathaushalte, die sich im Zuge der Immobilienblase und aufgrund niedriger Kreditzinsen exzessiv verschuldeten.
Doch in der Öffentlichkeit wird ein Bild vermittelt, wonach die Kanzlerin verhindert, dass die politische Linke, die ja angeblich schon immer so freigiebig war mit dem Steuergeld, Milliarden an die Faulpelze in den Südstaaten verschleudert. Richtig ist aber ein anderes Bild: Die Kanzlerin verschleudert Milliarden Euro an Steuergeldern an Kapitalgeber von Pleitebanken, also an die Vermögenden. Wir Grünen wollen das verhindern. Und da stelle ich die Frage: Wer ist hier bitte marktwirtschaftlich?
Dieser Staat ist für viele nicht mehr ihr Staat. Es ist der Staat der anderen. Und manche Politikerinnen und Politiker stehen allzeit bereit, diesen Staat im Interesse der anderen zu organisieren. Auch deshalb haben wir Politiker allesamt dramatisch an Ansehen eingebüßt, wir werden nicht mehr wahrgenommen als Streiter für die Interessen der breiten Masse der Bevölkerung. Umfragen zeigen das: Sieben von zehn Deutschen meinten im November 2012, dass in der schwarz-gelben Regierung Merkel nicht das Gemeinwohl, sondern die Interessen einzelner Gruppen im Vordergrund stehe.30 79 Prozent der Bundesbürger verneinen die Frage, ob das Volk in Deutschland wirklich etwas zu sagen habe.31 Das Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung hat sich in einer umfangreichen Studie unter Beschäftigten diesen Entfremdungsprozess einmal genauer angeschaut. Dort tritt das Misstrauen gegenüber Mutti Staat deutlich zutage. Politik wird als Spielball der Partikularinteressen wahrgenommen, der Staat als »nicht mehr nur enteignete und entfremdete, sondern vielfach auch feindliche Institution angesehen«. Selbst die Krise würde, so die Befragten, zur weiteren Schwächung der Vielen missbraucht.
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch warnt vor dem Phänomen, dass demokratische Prozesse zu einem reinen Spektakel verkommen: »Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«32 Er nennt dieses Phänomen »Postdemokratie«. Die eigentliche Demokratie aber, so Crouch, »kann nur gedeihen, wenn die Masse der normalen Bürger wirklich die Gelegenheit hat, sich […] aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen – und wenn sie diese Gelegenheiten auch aktiv nutzt.« Dies sei natürlich ein Ideal, aber wenn man sich nicht daran orientiere, »drohen Selbstzufriedenheit und Selbstgefälligkeit, und wir laufen Gefahr, blind zu werden für die Probleme, die unsere Demokratie bedrohen«.