»Wenn es um die Macht geht, darf man keinem Menschen trauen, sondern muss alle Fesseln der Verfassung anlegen«, so Thomas Jefferson, der dritte Präsident der USA.1 Stimmt. Mutti Staat kommt uns bei der Bankenrettung, bei Steuersubventionen, unsinnigen Großprojekten und anderen interessengeleiteten staatlichen Entscheidungen ziemlich teuer. Und wenn der Staat mit Steuergeld spekuliert, dann wird der Gärtner zum Bock.
Doch wie gelingt eine Veränderung im Staat? Ich habe da keine fertigen Antworten. Aber wir müssen sie uns erarbeiten. Denn ich bin überzeugt, dass wir ohne Antwort auf diese Frage nicht die Unterstützung für die notwendigen Reformen bekommen, mit denen wir wieder die Kontrolle über die Märkte zurückgewinnen und ökologische und soziale Ziele erreichen können.
Es gehört mittlerweile fast zum guten Ton, über »die Politiker« zu schimpfen. Die Glaubwürdigkeit der Politiker und Parteien liegt noch unter der von Bankern.2 Manchmal ist es richtig krass, wenn mir etwa Bekannte sagen: »Alle Politiker sind blöd«, um mir anschließend zu versichern, dass sie meine Arbeit sehr schätzen. Offenbar herrscht der Eindruck vor, dass zu viele Volksvertreter ihren Aufgaben nicht gewachsen oder in erster Linie auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind.
Der Ökonom James Buchanan packt dieses Dilemma tatsächlich oder auch nur vermeintlich unfähiger Politiker von einer anderen Seite an: »Wie müssen Verfassungen beschaffen sein, damit Politiker, die danach streben, dem Gemeinwohl zu dienen, sich halten und Erfolg haben können?«3 Ob der eine oder andere in einem politischen System mehr oder weniger zu sagen hat, hängt nämlich stark von den Spielregeln dieses Systems ab. In unserer Demokratie droht die Gefahr, dass vor allem diejenigen einflussreiche Posten ergattern, die die Interessen bestimmter Gruppen durchsetzen und dafür dann von diesen belohnt werden. Denn schließlich winkt auf der Seite der Starken auch starke Unterstützung – finanziell, durch Öffentlichkeitsarbeit oder hilfreiche Netzwerke.
Wir müssen deshalb die Machtbalance im Staat wieder korrigieren. »Gute Spiele bedürfen eher guter Regeln als guter Spieler«,4 fasst Buchanan es treffend zusammen. Genau diese Spielregeln müssen wir jetzt im Interesse des Gemeinwohls setzen. Ebenso wichtig wie die Inhalte sind also die institutionellen Gegebenheiten, die überhaupt erst dafür sorgen, dass sich die Vertreter des Gemeinwohls stärker als die Vertreter der Partikularinteressen durchsetzen.
Was ist eigentlich von einem Staat zu halten, in dem gar nicht erst versucht wird, aus Fehlern zu lernen? Eher wenig – und genau das finde ich erschreckend. Deswegen habe ich viel Arbeit in die Aufarbeitung der Finanzkrise gesteckt: rausfinden, was falsch lief, Verantwortlichkeiten klären. Doch wie groß Teppiche sein können, merkt man erst, wenn man sieht, wie viel in Deutschland in Sachen Finanzkrise daruntergekehrt worden ist. Die Rettung der IKB kostete Steuerzahlerinnen und Steuerzahler 11 Milliarden Euro – und es wurde nie richtig geklärt, wie es dazu kam. 18,2 Milliarden Euro musste der Staat in die Commerzbank stecken. Doch die Frage, wer für dieses Desaster verantwortlich ist, wurde nie richtig beantwortet. Commerzbank-Vorstandsvorsitzender Martin Blessing und Aufsichtsratsvorsitzender Klaus-Peter Müller haben die zentralen Fehlentscheidungen verantwortet, die die Bank in die Schieflage führten, nämlich den Kauf der zentralen Verlustbringer Eurohypo und Dresdner Bank. Warum wurden sie, als der Staat rettend einsprang, nicht ausgewechselt? Und warum wurde der Kauf der Dresdner Bank nicht rechtzeitig durch die Finanzaufsicht gestoppt, bevor er die Commerzbank in den Abgrund zog?
Da kippen in Deutschland die Banken reihenweise weg – und in der Finanzaufsicht hat niemand etwas falsch gemacht. Schon komisch, oder? Franz-Christoph Zeitler, der für die Bundesbank die Bankenaufsicht verantwortet hat, wird ebenso ehrenvoll in den Ruhestand verabschiedet wie Jochen Sanio, andere Verantwortliche wie Jörg Asmussen werden sogar befördert.
Nach meiner Schätzung kostet das gesamte Zinswettendebakel der Kommunen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland mindestens eine Milliarde Euro. Doch in den meisten Fällen wissen wir gar nicht genau, was lief, weil in Vergleichen zwischen Bank und Kommune vereinbart wurde, dass die Öffentlichkeit nichts erfahren soll. Dabei wäre ja wichtig, zu wissen, wie das passieren konnte und wie man es in Zukunft vermeiden kann.
Wie viel Steuergeld muss eigentlich verbraten werden, bis solche Fragen beantwortet werden? Offenbar war das Interesse derjenigen in Politik und Bankenwelt, die eine solche Aufarbeitung scheuten, stärker als das Interesse der Bevölkerung an Aufklärung und Übernahme von Verantwortung durch die Verantwortlichen. Machtwirtschaft eben.
Einzig im Fall der Hypo Real Estate gab es im Sommer 2009 einen Untersuchungsausschuss. Und so stolz ich auf einige Ergebnisse dieses Ausschusses bin, so viel ich dabei gelernt habe, so muss man eigentlich sagen, dass die Art, wie er zustande kam, zeigt, dass es vielen nicht um die Aufarbeitung des Problems ging. CDU/CSU und SPD wollten den Ausschuss als Regierungsparteien natürlich nicht. Und die FDP war erst dann dazu bereit, als die Parteiführung zu dem Schluss kam, das könnte der FDP im bevorstehenden Bundestagswahlkampf von Nutzen sein.
Untersuchungsausschüsse werden leider meist interpretiert als Mittel zur Demontage von Ministern und deshalb nicht für die eigenständige Überprüfung von Fehlentwicklungen genutzt, die möglicherweise im Interesse der Bevölkerung wichtig wäre. Damit bringt sich das Parlament selbst um ein wirkungsvolles Instrument der Kontrolle der Exekutive. Zum Glück gibt es mit dem NSU-Untersuchungsausschuss nun ein positives Gegenbeispiel, in dem fraktionsübergreifend Fehler in der Sicherheitsarchitektur ausfindig gemacht und Vorschläge zur Verbesserung erarbeitet wurden.
Ich habe mich nach der Bundestagswahl 2009 dafür engagiert, einen weiteren Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Finanzkrise einzusetzen. Ich habe dazu viele, sehr viele Gespräche geführt. Es gab ermutigende Unterstützung aus der Zivilgesellschaft. Doch das Eigeninteresse der Parteien am Schutz ihres eigenen Personals vor kritischen Fragen war größer. Mindestens 25 Prozent der Stimmen im Parlament sind nötig, um ein solches Gremium ins Leben zu rufen, 12 Stimmen mehr, als Grüne und Linksfraktion in der letzten Legislaturperiode Abgeordnete hatten. Und an diesen 12 Stimmen scheiterte es. Bei CDU/CSU, FDP und SPD gab es zwar genug Kollegen, die mein Anliegen eigentlich richtig fanden. Doch der Druck von oben, die eigenen Leute zu schützen, die in aktueller oder früherer Regierungsverantwortung mit diesen Fragen zu tun hatten, war größer. Und in solchen Fragen kann es sich eigentlich kein Abgeordneter leisten, sich gegen seine Fraktion zu stellen. In der neuen Legislaturperiode ist das Kräfteverhältnis zwischen den Fraktionen der Großen Koalition und der Opposition nun leider noch schlechter.
So bleibt es dabei, dass wir aus den Fehlern, die uns in diese Krise geführt haben, einfach nicht lernen. Das ist umso ärgerlicher, als dort, wo Parlamente diese Arbeit machen, es wirklich etwas bringt: So hat die Arbeit des bayerischen Landtags und des von ihm beauftragten Gutachters erst den Druck aufgebaut, dass die Vorstände und Verwaltungsräte der BayernLB auch zur Rechenschaft gezogen werden. Ursprünglich geplant war von der CSU-geführten Regierung, die eigenen Parteifreunde zu schützen. Die Aufklärung hat das in diesem Fall verhindert. Inzwischen wurde der gesamte Vorstand wegen Untreue angeklagt. Ich hoffe, dass der Untersuchungsausschuss, den der nordrhein-westfälische Landtag zur WestLB eingesetzt hat, ebenfalls konkrete Ergebnisse erzielt.
Die Diskussion um die Nebenverdienste von Peer Steinbrück haben hohe Wellen geschlagen, aber hauptsächlich deshalb, weil er als Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten antrat. Bei konservativen und liberalen Abgeordneten gehören Nebentätigkeiten zum guten Ton, etwa die 19 Nebenjobs von CDU-Urgestein Heinz Riesenhuber. Längst überfällig ist deshalb eine Verpflichtung zur centgenauen Offenlegung aller Nebenverdienste unter Nennung der Auftraggeber. Dann kann sich jede Bürgerin selbst ein Bild machen, ob die Fülle an Nebenbeschäftigungen mit den Anforderungen eines Bundestagsmandats vereinbar ist, ob die Höhe der Zuwendungen tatsächlich den Arbeitsaufwand der Parlamentarierin reflektiert oder ob bei manchen nicht auch der Verdacht berechtigt ist, dass hier politische Gefälligkeiten elegant verrechnet werden. Doch die Frage der Nebentätigkeiten ist nur eine unter vielen, wo es strengere Regeln braucht.5
Nötig wäre eine Genehmigungspflicht für die Berufstätigkeit von ausgeschiedenen Regierungsmitgliedern, damit spätere Anstellungen zum Dank für während der Mandatszeit geleistete Gefallen vermieden werden, ebenso wie die Einführung eines verpflichtenden öffentlichen Lobbyistenregisters, um Lobbyistentätigkeit transparent zu machen. Und schließlich ist es ein skandalöser Zustand, dass sich Deutschland in einer ziemlich illustren Gruppe von Ländern wiederfindet, die die UN-Konvention gegen Korruption immer noch nicht ratifiziert haben: Japan, Myanmar, Sudan, Saudi-Arabien, Nordkorea und Syrien.
Ich persönlich wünsche mir allerdings, dass wir noch darüber hinausgehen. Deswegen habe ich zusammen mit meinem Kollegen Marco Bülow von der SPD im März 2013 einen freiwilligen Abgeordnetenkodex vorgeschlagen, den wir in Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen Transparency International, Abgeordnetenwatch sowie LobbyControl erarbeitet hatten. Wie viele Dinge in der Politik, wird auch das Zeit brauchen. Aber nur durch mehr Transparenz und härtere Regeln gewinnen wir das bitter nötige Vertrauen und den Rückhalt der Bevölkerung zurück.
Um die finanzielle Beeinflussung von politischen Entscheidungsträgern zu verhindern, brauchen wir auch radikale Änderungen bei den Parteispenden. Es kann nicht in unserem demokratischen Interesse sein, dass Unternehmen nach Gutdünken ihre Pfründe an Parteien verteilen, um dafür einige Zeit später eine wohlwollende Gesetzgebung zu ernten. In noch ziemlich frischer Erinnerung ist der Skandal um die großzügigen Hotelierspenden an die FDP, die daraufhin als »Mövenpick-Partei« gebrandmarkt wurde. Denn tatsächlich hatte eine Firma des Familienimperiums von August Baron von Finck, dem auch große Anteile an den Mövenpick-Hotels gehören, zwischen Oktober 2008 und Oktober 2009 an die FDP 1,1 Millionen Euro und an die CSU 820 000 Euro gespendet6 – rechtzeitig zur Bundestagswahl also. Und nachdem diese gewonnen war, wurde dann flugs auch eine Absenkung der Mehrwertsteuer für Hotels von 19 auf 7 Prozent beschlossen. Der Verdacht der »käuflichen Republik« drängte sich da geradezu auf.
Ähnlich krass die Zuwendungen aus dem Seedammweg 55 in 61352 Bad Homburg. Diese Adresse hat es allein im Oktober 2013 gleich dreimal auf die Bundestagsdrucksache 17/14829 geschafft. Wie es dazu kam? Die illustren Bewohner des Seedammwegs – Stefan Quandt, Johanna Quandt und Susanne Klatten mit Privatvermögen von geschätzten 11,9 Milliarden, 10,6 Milliarden beziehungsweise 14,3 Milliarden US-Dollar7 – hatten jeweils 230 000 Euro an die CDU gespendet. 690 000 Euro von politisch engagierten Privatpersonen? Nein, die drei sind mit 46,7 Prozent die Hauptanteilseigner von BMW. Doch der richtig bittere Beigeschmack der Zuwendungen entstand erst durch eine politische Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel. Denn die ehemalige »Klimakanzlerin« erstritt eine Schonung für deutsche Autokonzerne bei den EU-Abgasnormen – ausgerechnet fünf Tage nach Eingang der Spende. Die Nutznießer der deutschen Verhinderungspolitik sind vor allem deutsche Oberklassehersteller – BMW, Daimler, Audi oder Porsche.8
Auf meinem Nachhauseweg vom Regierungsviertel nach Berlin-Tegel fahre ich mit meinem Fahrrad durch den relativ armen Stadtteil Wedding, vorbei an gefühlten 100 »Spielhöllen«, in denen bunt blinkende Automaten stehen. Vor manchen versuchen einige Gestalten mit trübem Blick ihr Glück. Das ist die eine Seite der Geschichte, die menschlich-traurige. Manche der Spielautomaten werden gezielt so gebaut, dass sie Spielsüchtige wehrlos ihrer Sucht aussetzen – insbesondere durch einen schnellen Rhythmus des Spiels. Deshalb fordert die Drogenbeauftragte, solche Geräte nicht mehr zuzulassen. Die andere Seite ist: Mit solchen Automaten lässt sich kräftig Geld verdienen. Und dieses Geld lässt sich auch für politischen Einfluss nutzen. Raten Sie mal, wessen Sicht sich in der Regierung Merkel durchgesetzt hat? Millionengeschäfte für wenige Automatenhersteller sind wichtiger als der Schutz für suchtkranke Menschen.9
Solche Vorgänge müssen der Vergangenheit angehören. Unternehmensspenden an Parteien gehören ganz verboten. Warum bitte soll denn ein Vorstand einer Aktiengesellschaft mit dem Geld der Aktionäre nach seinen persönlichen parteipolitischen Präferenzen Spenden vornehmen dürfen? Er soll das Geld ausschütten, und dann kann jeder selbst eine Parteispende vornehmen, wenn er will. Außerdem braucht es eine Höchstgrenze, damit nicht einzelne sehr reiche Menschen wie die Familie Quandt die Politik dominieren. Eine Liste der Spender soll dann möglichst zügig veröffentlicht werden, dann kann sich ein jeder informieren, wer bereit ist, Geld für eine bestimmte Politik locker zu machen. Und diese Regeln müssen selbstverständlich auch für das Parteisponsoring gelten, da es in diesem Feld bislang keine Transparenz gibt. So umgehen Unternehmen und Parteien heute die bestehenden Transparenzregeln, indem sie beispielsweise für einen Stand auf einem Parteitag ungewöhnlich hohe Mietgebühren zahlen. Wir Grünen gehen hier beim Sponsoring mit einer Selbstverpflichtung voran.10
Der Staat ist gegenüber Unternehmen zu schwach, das Parlament gegenüber der Regierung, die Bürgerinnen und Bürger gegenüber den hauptamtlichen Politikern und Parteien – und unter den verschiedenen Interessengruppen haben die großen Unternehmen die besten Chancen, sich durchzusetzen und schon im vorpolitischen Raum ihre Argumentation zu verbreiten. An diesen Kräfteverhältnissen kann und muss man etwas verändern.
Im Gespräch mit einem hochrangigen Manager einer globalen Bank stellte ich einmal die vielleicht etwas banale Frage, ob eigentlich die Bankenaufsicht versteht, was seine Bank auf der ganzen Welt so treibt. Der Manager antwortete mir in bewundernswerter Knappheit mit nur einem Satz: »We make sure they understand.«
Dieser Satz steht für ein Riesenproblem. Nicht nur sind die Banken (und übrigens viele andere große Unternehmen auch) viel zu groß und komplex und ihre Geschäfte zu undurchsichtig. Die staatlichen Instanzen haben auch häufig nicht die nötige Expertise, um auf Augenhöhe mit den Unternehmen zu agieren, sondern sind von deren gutem Willen abhängig. Ganz zentral ist deshalb, dass wir eigene Expertise im Staat verankern. Auf einer meiner Reisen in die USA hatte ich die Gelegenheit, die damalige Chefin der dortigen Einlagensicherung FDIC zu fragen, wer eigentlich genau die Banken prüft. Die Antwort war klar: »Hauseigene Experten.« Damit wird dort kontinuierlich Expertise über die Banken aufgebaut, um dann im Ernstfall handlungsfähig zu sein. Bei uns jedoch werden häufig Wirtschaftsprüfer beauftragt mit der Folge, dass die Beamten, die die Entscheidungen treffen, Informationen aus zweiter Hand bekommen und weniger Kompetenz aufbauen. Das müssen wir ändern, ganz besonders im Bereich der Finanzaufsicht. Denn da spielen Expertise und ein Wissensvorsprung eine extrem große Rolle.
Außerdem muss verhindert werden, dass Vertreter von Unternehmen oder externen Rechtsanwaltskanzleien die Hauptautoren unserer Gesetzestexte sind. Da besteht doch ein eklatanter Interessenkonflikt! Wir müssen in den Ministerien die Leute haben, die so etwas auch selbst schreiben können.
Das Gleiche gilt für die Steuerverwaltung. Viele beklagen sich über die Steuerflucht, aber die Bundesländer haben selbst jahrelang munter Stellen bei den Finanzämtern gestrichen. Der Stern beschrieb im März 2013 sehr anschaulich den ungleichen Kampf um die alles entscheidenden Beträge auf den Steuerbescheiden.11 Während sich nämlich in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Steuerberater um 30 Prozent und die der Steueranwälte gar um 60 Prozent erhöht hat, baute das Finanzamt 5 Prozent der Stellen ab. »Bei Schlussbesprechungen von Betriebsprüfungen schicken die Unternehmen mitunter bis zu acht Berater«, sagt Peter Schall, Vorsteher des Finanzamts Ludwigshafen, »da braucht man schon selbstbewusste Beamte.«12
Vertrauen haben die Menschen nur in einen Staat, der in der Lage ist, das Recht gleichmäßig durchzusetzen. Dazu gehört eine schlagkräftige Finanzverwaltung, die es mit der Gegenseite aufnehmen kann. Sonst verhält sie sich, zu diesem Schluss kommt richtigerweise der Stern, »wie der Betreiber eines Supermarkts, der aus Kostengründen die Kassierer entlässt und sich am Abend wundert, dass die Kasse leer ist.« Die Politik des »weniger Staat«, verstärkt durch eine negative Standortkonkurrenz der Bundesländer, hat hier zu inakzeptablen Zuständen geführt. Wir Grünen fordern deshalb, die Zuständigkeit für die Steuerverwaltung auf den Bund zu übertragen.
Ich spüre das ungleiche Kräfteverhältnis jeden Tag bei meiner Arbeit. In Berlin kommen auf einen Abgeordneten etwa acht Lobbyisten.13 Wobei das natürlich nicht gleich verteilt ist. Im Finanzbereich und in der Gesundheitsbranche dürften es deutlich mehr sein als in anderen Politikfeldern. Und dann kommen fette Finanzmarkt- und Steuergesetze auf meinen Tisch, die ich allein mit meinem kleinen Team in ihren Auswirkungen häufig gar nicht erfassen kann. Da lauert schnell die Gefahr, dass man dankbar auf die Erläuterungen von personell gut ausgestatteten Interessenverbänden zurückgreift. In Brüssel soll das Verhältnis von Lobbyisten zu Abgeordneten sogar 20 zu 1 sein. Der grüne Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht etwa handelte sich bei seinem engagierten Kampf für den besseren Schutz unserer persönlichen Daten heftigen Lobby-Gegenwind von den großen Unternehmen ein.14
Wir sind aber als Abgeordnete nicht nur personell unterlegen. Erste Gesetzesentwürfe, die zumeist von der Regierung eingebracht werden, gehen an die Verbände zur Vorbereitung der Anhörungen im betreffenden Ministerium. Die Abgeordneten erhalten zu diesem Zeitpunkt, in dem die entscheidenden Weichenstellungen getroffen werden, den Entwurf noch nicht – es sei denn, freundlich gesinnte Verbandsvertreter reichen sie weiter. In der entscheidenden Phase weiß der Lobbyist also mehr als der Abgeordnete und ist damit in einer stärkeren Position. Ich finde: Gesetzentwürfe, die den Verbänden zugestellt werden, sollten vorab auch zur Kenntnis der zuständigen Berichterstatter gebracht werden.
Das Parlament muss aber nicht nur gegenüber den Unternehmen, sondern auch gegenüber der Regierung gestärkt werden. Damit kann man dem Phänomen der »Postdemokratie« entgegenwirken und durch eine Stärkung der checks and balances Fehlentscheidungen reduzieren. »Das Parlament ist […] nicht Vollzugsorgan der Bundesregierung, sondern umgekehrt ihr Auftraggeber«, sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert 200515 und beschrieb damit leider nicht die Wirklichkeit, sondern ein Ideal, das ich so in der Praxis nicht wahrnehme. Fast alle Gesetzentwürfe kommen aus der Regierung. Die Zeitpläne basteln die Ministerien. Selbst bei kleinen Anträgen schauen die Abgeordneten der Regierungsfraktionen hilfesuchend zu den Ministerialbeamten, damit sie im Parlament auch ja nichts falsch machen.
Vieles scheitert an der Ressourcenverteilung. Die Legislative hat in Deutschland zwar die rechtliche, nicht aber die tatsächliche Fähigkeit, Gesetze zu schreiben. Das haben bei uns de facto nur die Ministerien in Bund oder Ländern. Notwendig wäre es daher, Personal von den Ministerien abzuziehen und in die für die konkrete Gesetzgebungsarbeit zuständigen Parlamentsausschüsse zu verlagern. In den USA etwa hat die Legislative fraktionsunabhängige wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Denen kann man als Abgeordneter den Auftrag geben, einen Gesetzentwurf zu prüfen oder eigene Eckpunkte als Gesetzentwurf zu formulieren. Rund 4500 Angestellte beschäftigt der Kongress hierfür, davon etwa 750 allein im Research Service. Zum Vergleich: Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages beschäftigt gerade einmal 60 Wissenschaftler zur Ausarbeitung von Gutachten.
Das Königsrecht des Parlaments ist das Haushaltsrecht. Im Unterschied zu den USA hat aber der Bundestag (ebensowenig wie die Landtage) nicht die tatsächliche Fähigkeit zur Budgetkontrolle. In den USA gibt es ein Budget Office des Kongresses. Dadurch kann der Kongress selbst, mit eigenen Zahlen, kontrollieren, ob die Haushaltsansätze stimmen. In Deutschland muss der Parlamentarier das Ministerium fragen, mit welchen Zahlen er dieses Ministerium kontrollieren darf. Das Budget Office hingegen ist fraktionsunabhängig und kann damit politisch gefärbte Aufkommensschätzungen bei Steuergesetzen, die wir immer wieder erleben, verhindern. So etwas brauchen wir auch.
Der Bundestag besorgt sich praktisch nie selbst unabhängige Expertise in Form von Gutachten. Diese werden in der Regel durch die Ministerien vergeben. Die Ergebnisse bekommen die Abgeordneten nur, wenn die Autoren und die Ministerien die Gutachten freigeben. Dabei könnte man durch unabhängige Expertisen an entscheidenden Stellen die Tätigkeit der Regierung wesentlich besser kontrollieren.
Immer wieder klagen Unternehmen, Steuerberater und Steuerpflichtige bei steuerrechtlichen Verordnungen oder Finanzdienstleister bei finanzaufsichtlichen Verordnungen darüber, dass diese Verordnungen den Willen des Gesetzgebers konterkarieren. Erst im Nachhinein besteht die Möglichkeit, dass ihnen hier die Gerichte zustimmen. Der Bundestag ist aber zu einer tatsächlichen Kontrolle des Regierungshandelns an dieser Stelle nicht in der Lage.
Mal ganz ehrlich: Die Flut der Schreiben des Finanzministeriums in Steuersachen kann ich nicht überblicken. In Frankreich wird zumindest für jedes Gesetz ein Berichterstatter festgelegt, der die Aufgabe hat, die Übereinstimmung der Verordnungen mit diesem Gesetz nachzuvollziehen. Das sollte auch hierzulande eingeführt werden.
Teile des staatlichen Handelns finden gar nicht in der Ministerialbürokratie statt. Die Bundesbank etwa ist zu Recht eine unabhängige Institution, weil die Geldpolitik aus dem kurzfristigen Denken der Tagespolitik herausgenommen werden sollte. Das heißt aber nicht, dass der Bundestag nicht erstens beim Ernennungsverfahren ihrer Vorstände eine aktive Rolle spielen und zweitens durch regelmäßige Anhörungen im Parlament – wie bei der EZB und der amerikanischen Zentralbank Fed – Rechenschaft gegenüber der Öffentlichkeit einfordern könnte. Drittens muss sichergestellt werden, dass aus der geldpolitischen Unabhängigkeit nicht auch in ganz anderen Bereichen eine (ungerechtfertigte) Unabhängigkeit abgeleitet wird und eine parlamentarische Kontrolle beispielsweise im Bereich der Bankenaufsicht unterbleibt.
Besonders zu beobachten ist das bei den regelmäßigen Gipfeltreffen beim Basler Ausschuss für Bankenaufsicht in der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) – auch als »Zentralbank der Zentralbanken« bekannt. Fragen Sie irgendeine Bankerin in Ihrem Bekanntenkreis, und sie wird Ihnen ein paar Sätze zu Basel I, Basel II oder Basel III sagen können. Denn diese Regulierungsregelwerke sind in der Stadt am Oberrhein entwickelt und verhandelt worden. Auch das schon angesprochene Financial Stability Board, das Regeln für Derivatehandel, Schattenbankwesen oder Buchführung verfasst, hat seinen Platz in der BIZ.
Wo ist das Problem, wenn sich bei der BIZ mit den 18 mächtigsten Notenbankern kluge und unabhängige Köpfe alle zwei Monate zum jour fixe in Ruhe zusammensetzen? »In ihren Mauern tagt der wohl mächtigste Klub der Welt«, so resümiert die Süddeutsche Zeitung. »Seine 18 Mitglieder sind von niemandem gewählt und auch niemandem rechenschaftspflichtig. Doch was sie hier alle zwei Monate besprechen, beeinflusst das Schicksal von Milliarden Menschen.«16 Das ist das Problem! Der US-Journalist Adam LeBor, der gerade eine umfangreiche Recherche zur Basler Bank unter dem Titel Tower of Basel vorgelegt hat, hält die BIZ daher für »eine undurchsichtige, elitäre und antidemokratische Institution«.17 Ich finde, künftig sollten wir wenigsten die Tätigkeit unserer Notenbank in diesem Zirkel einer parlamentarischen Kontrolle unterziehen.
Auch findet eine Kontrolle der von der Regierung in die Aufsichtsräte privatwirtschaftlicher Unternehmen entsandten Vertreter praktisch gar nicht statt. Der Bund hat beispielsweise unabhängige Experten in den Aufsichtsrat der Commerzbank entsandt. Diese unterliegen keinerlei Weisungsrecht durch das Finanzministerium und auch keiner öffentlichen Rechenschaftspflicht für ihr Tun. Ich meine: Immer dort, wo solche Personen berufen werden, im Auftrag des Staates tätig zu werden, muss es eine Anhörung und Bestätigung im zuständigen Bundestagsausschuss geben.
Schlimmer ist es häufig noch auf kommunaler Ebene. Aus vielen Gesprächen mit Parteifreundinnen und -freunden, die Mitglieder in Aufsichtsgremien öffentlicher Unternehmen sind, wird mir von einer Kultur des Nicht-Fragens, des Nicht-Wissenwollens in diesen Gremien berichtet, in der eine effektive Kontrollarbeit schwer möglich ist. Sitzungsunterlagen werden häufig nur als Tischvorlagen verteilt, so dass keine Chance besteht, sich wirklich vorzubereiten und die zu diskutierenden Angelegenheiten zu durchdenken. Das ist nicht in allen öffentlichen Unternehmen so, aber offenbar doch weit verbreitet.
Wir brauchen hier eine neue Kultur der Kontrolle im Interesse des Steuerzahlers. Auch dann werden Fehler nicht ausbleiben. Häufiger wird es aber gelingen, sie frühzeitiger aufzudecken und so deren Größe und damit den Schaden für Bürgerinnen und Bürger zu begrenzen.
An vielen Stellen sperrt unser Staat die Bürgerinnen und Bürger aus, statt sie zu Wort kommen zu lassen. Viel zu lange hält sich ein preußisches Staatsverständnis, in dem die Verwaltung dem Monarchen zuarbeitete und der Bürger Untertan war. In dieser Denke stören zivilgesellschaftliche Impulse. Für mich hingegen sind die Bürgerinnen und Bürger die Träger des Gemeinwesens. Ich verstehe den Staat als Zusammenschluss, quasi als Genossenschaft der Bürgerinnen und Bürger, nicht als hoheitliche Instanz, die ihnen gegenübersteht. Es ist unser Staat.
Deswegen ist es richtig, die direkte Demokratie zu stärken. Nicht, weil Volksabstimmungen immer bessere Ergebnisse bringen als parlamentarische Entscheidungen. Der Hamburger Bürgerentscheid gegen die Schulreform im Juli 2010 sollte noch die Letzten gelehrt haben, dass direkte Demokratie auch zu Ergebnissen führen kann, die im Widerspruch zu den Interessen der Mehrheit zu stehen scheinen. Aber direktdemokratische Entscheidungen bringen auch nicht systematisch schlechtere Resultate als Parlamente. Wenn man all die zweifelhaften Abstimmungsergebnisse in den Parlamenten mal dagegenhält, wird deutlich, dass merkwürdige Ergebnisse kollektiver Entscheidungsfindungen sich nicht auf die direkte Demokratie beschränken, im Gegenzug aber die Diskussion öffentlicher ist und deshalb viele Argumente einbezogen werden, die sonst untergehen.
Dasselbe gilt bei der Planung von Infrastrukturprojekten. Je früher Bürgerinnen und Bürger aktiv einbezogen werden, desto weniger Protest gibt es in späteren Phasen. Häufig führt die Bürgerbeteiligung auch zu wirklichen Verbesserungen in der Trassenführung oder anderen Aspekten des Projekts.18
Was ich in Kapitel 5 über die Einseitigkeit der sogenannten »Experten«-Anhörungen geschrieben habe, ist Teil eines strukturellen Problems: nämlich dass die starken finanziellen Interessen es durchweg schaffen, den öffentlichen Diskurs in ihrem Interesse zu beeinflussen. Deswegen brauchen wir nicht nur Kampagnen, sondern auch Gemeinwohllobbys, die uns im Interesse der Vielen beraten. Die sind gar nicht so einfach zu finden, gerade bei komplexen Themen wie der Finanzmarktregulierung.
Die unabhängige Organisation FinanceWatch ist eine der wenigen Ausnahmen. Gegründet wurde sie 2011 von Europaparlamentariern aller Parteien, darunter meinem Parteifreund Sven Giegold, als Gegengewicht zu der übermächtigen Lobby der Finanzindustrie, die in Brüssel Hunderte gut bezahlter Meinungsmacher beschäftigt. Ein gewichtiges Zeichen, wenn Parlamentarierinnen und Parlamentarier selbst die Initiative ergreifen, um endlich nicht mehr ausschließlich auf die interessengeleitete Expertise der Banken, Versicherungen und Hedgefonds zurückgreifen zu müssen! Die Organisation akzeptiert keinerlei Zuwendungen von Personen oder Institutionen, denen eine Verbindung zur Finanzindustrie oder zu etablierten Parteien nachgewiesen werden kann. FinanceWatch hat sich schnell zu einem der zentralen Ansprechpartner bei Regulierungen der Finanzmärkte gemausert.
Politische und staatliche Entscheidungen müssen nachvollziehbar werden, sonst kann Demokratie nicht funktionieren. Dabei ist Transparenz kein Selbstzweck und kein Allheilmittel. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen politische Entscheidungen verstehen, sich durch Möglichkeiten der Mitbestimmung selbst als Teil dieser Entscheidungen begreifen und damit sowohl das Vertrauen in als auch die Akzeptanz von demokratisch getroffenen Entscheidungen erhöht wird. Dabei ist Transparenz gleichzeitig ein Impfstoff gegen Filz, Korruption und Misswirtschaft.
Natürlich müssen Daten- und Persönlichkeitsschutz, Geschäftsgeheimnisse und die Sicherheit geschützt werden. Eine Radikaltransparenz kann ebenso wenig die Antwort sein wie konservatives Beharren auf dem Status quo. Die Politik braucht immer auch geschützte Räume, in denen sich Menschen verschiedener Meinungen zunächst ohne den Druck der Öffentlichkeit austauschen können. Denn sonst kann sich Transparenz auch in ihr Gegenteil verkehren, wenn nämlich alle öffentlichen Sitzungen lediglich zu Schaufensterpolitik verkommen, weil sich keiner mehr traut, etwas von Relevanz zu sagen. Dann kann Intransparenz sogar steigen, weil lieber im Café oder auf den Fluren gemauschelt wird.
In einem ersten Schritt sollte der Bundestag mehr und bessere Informationen im Internet zur Verfügung stellen. Warum gibt es kein zentrales Informationsportal des Bundestages, auf dem thematisch zusammenhängende Vorgänge in Bund und Ländern miteinander verknüpft und auf dem die Entstehungsphasen der Rechtsetzung dokumentiert werden? Den ersten Ansatz eines solchen Systems gibt es immerhin unter dipbt.bundestag.de, darauf kann man aufbauen. Und warum werden Tagesordnungen und Protokolle der Parlamentsausschüsse nicht ins Netz gestellt?19 Auch öffentliche Sitzungen der Bundestagsausschüsse sollten so weit wie möglich als Livestreams im Internet zu sehen sein.
Doch ein anderer Punkt ist noch wichtiger. Gesetze brauchen einen juristischen Fußabdruck. Was ich damit meine? Ich will als Parlamentarier, aber auch als Bürger wissen, wer genau an den Texten, die später zu Gesetzen werden, mitgearbeitet hat. Und wer Änderungswünsche schon im Frühstadium eingebracht hat, die dann auch ihren Weg in die dem Bundestag überstellten Versionen genommen haben. Ich stelle mir einen Gesetzentwurf vor, in dem ich die Herkunft jeder Passage nachvollziehen kann. Denn so würden die Coups der Lobbyisten auffallen, die sich nicht lange um parlamentarische Prozesse scheren, sondern lieber gleich die »richtigen« Passagen diktieren.
Denn zimperlich sind die Verbandsvertreter dabei nicht. Sie erinnern sich an das Beispiel aus der Automobilindustrie? Das ist kein Einzelfall. So hat es beispielsweise im Streit um die sogenannten Bewertungsreserven der Lebensversicherer – eine Beteiligung der Kundinnen und Kunden an angehäuften Überschüssen – der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) geschafft, »dass Passagen aus der aktuellen Gesetzesänderung wortgleich in einer Stellungnahme des […] GDV aus dem Jahr 2011 zu finden sind«,20 wie die Zeitschrift Ökotest aufdeckte. Es kann ja durchaus sein, dass ein mit so vielen Experten besetzter Verband auch einmal durchaus nützliche Änderungen an einem Gesetz anbringt. Aber dann sollten bei uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern automatisch die Alarmglocken klingeln – aufgrund einer farblichen Hervorhebung in dem elektronisch übersandten Gesetzesentwurf. Vielleicht stimmen wir dem Vorschlag des GDV ja zu, aber erst nachdem wir die möglichen Interessen, die dahinterstehen, abwägen konnten.
Manchmal kann ich nicht öffentlich auf ein Problem aufmerksam machen, obwohl ich das gerne tun würde. Denn manche Informationen bekomme ich als Abgeordneter von der Regierung nur »geheim«. Dann wird mir entweder ein entsprechendes Dokument ins Büro gebracht, wo ich es in einen Safe lege. Das führt dazu, dass ich nicht von unterwegs, zum Beispiel wenn ich mich in meinem Wahlkreis Mannheim aufhalte, darauf zugreifen kann. Oder ich muss mich auf den Weg machen aus meinem Büro im südlichen Teil des Jakob-Kaiser-Hauses in der Dorotheenstraße in die sogenannte Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages. Denn manche Dokumente darf ich nur dort lesen und dabei keine Notizen machen. Dort wird dann notiert, wann ich welche Dokumente gelesen habe, um im Fall eines Öffentlichwerdens von geheimen Informationen nachvollziehen zu können, wer es gewesen sein könnte.
Jeden Freitag in der Sitzungswoche geht die Geheimniskrämerei in anderer Form weiter. Eine Handvoll Kollegen aus allen Fraktionen und speziell zugelassene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter treffen sich zum sogenannten Finanzmarktgremium im Paul-Löbe-Haus. Hier muss uns die Regierung, aber auch die Leitung des Finanzmarktstabilisierungsfonds SoFFin zu den Milliarden an Steuergeldern Rede und Antwort stehen, die im Zuge der Bankenrettung an die Finanzinstitute überwiesen oder ihnen garantiert wurden. Ein Tonsignal und ein roter Schriftzug »geheim« über der Tür machen deutlich, dass wir unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagen. Über den Inhalt der Gespräche darf ich mich selbst mit den Abgeordneten meiner Fraktion nicht austauschen.
Dieser Aufwand ist bei wirklich geheimen Informationen unvermeidbar. Marktrelevante Informationen können nicht einfach munter bei öffentlichen Sitzungen ausgetauscht werden. Häufig jedoch wird viel mehr als nötig als »geheim« klassifiziert. Das führt dazu, dass ich als Parlamentarier problematische Entwicklungen nicht thematisieren kann, ohne mich strafbar zu machen. Die Kontrolle der Regierung läuft dann de facto ins Leere. Außerdem kostet die unnötige Geheimhaltung viel Zeit und lähmt das Parlament. Immer wieder habe ich die Bundesregierung aufgefordert, den Geheimschutz aufzuheben. Und immerhin wird nun eine Art Jahresbericht des Finanzmarktfonds SoFFin veröffentlicht. Punktsieg!
Bisher ist meine einzige Möglichkeit, gegen einen Missbrauch der Geheimhaltungsregeln vorzugehen, eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Und weil das so ist, habe ich, gemeinsam mit Toni Hofreiter, Christian Ströbele und unserer Fraktion, dort 2011 Klage eingereicht.21 Denn es gibt Bereiche, die vor Parlament und Öffentlichkeit fast vollständig abgeschirmt werden. Einer davon ist die Finanzaufsicht, weswegen viele meiner Fragen, mit denen ich versuchte, die Verantwortlichkeiten im Zusammenhang mit der Finanzkrise aufzuarbeiten, ins Leere liefen.
Besonders krass war es im Fall meiner Frage nach der Teilnahme der Aufsichtsbehörden an Sitzungen des Verwaltungsrats der SachsenLB. Um die Bedeutung dieser Frage zu verstehen, muss man zweierlei wissen. Erstens dürfen die Bankenaufsichtsbehörden BaFin und Bundesbank an Gremiensitzungen der Banken teilnehmen, wenn sie das wollen. Das erlaubt ihnen, nicht nur auf interne Dokumente zuzugreifen, sondern auch in den Diskussionsprozess selbst einzugreifen – eine sinnvolle Regelung. Zweitens war es bei der SachsenLB so, dass die problematischen Geschäfte auch dann noch ausgeweitet wurden, als die Märkte in den USA bereits am Kippen waren. Ich wollte deshalb wissen, ob denn die Aufsicht versucht hat, in dieser Phase den Wahnsinn zu stoppen. Und deshalb fragte ich, an welchen Sitzungen des Verwaltungsrats im betreffenden Zeitraum Vertreter der Aufsichtsbehörden teilgenommen haben.22 Als ich zunächst keine Antwort darauf bekam, beschwerte ich mich darüber und stellte die Fragen gleich noch einmal mit Verweis auf die Rechtslage, nach der die Bundesregierung sehr wohl zu einer derartigen Antwort verpflichtet ist. Die Reaktion war immerhin, dass mir nun die Antwort zur Einsicht in der Geheimschutzstelle hinterlegt wurde. Ich weiß nun also die Antwort, darf sie Ihnen aber nicht sagen, so dass ich damit auch keinen Druck auf Veränderung auslösen kann. Die Begründung dafür: Bei Veröffentlichung der Informationen seien »irreversible Vertrauensverluste […] mit entsprechender Reaktion des Marktes, insbesondere seiner Gläubiger« zu befürchten.
Doch dieses Argument überzeugt nicht, denn jeder weiß, dass die SachsenLB zwischenzeitlich gerettet werden musste. Die Teilnahme von Aufsichtsvertretern an Verwaltungsratssitzungen zu offenbaren kann doch Jahre nach einer solchen Rettung keinen Vertrauensverlust darstellen. Das ist doch absurd! Offenbar ging und geht es um etwas ganz anderes: Die Fehler der deutschen Finanzaufsicht sollten hier vertuscht werden, indem selbst Unterlagen zum Aufsichtshandeln, die keinerlei Marktrelevanz haben, als Geschäftsgeheimnisse der Banken deklariert werden. Aber nach meiner Überzeugung haben wir Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ein Recht, zu erfahren, welche Fehler der Aufsicht zu den Milliardenschäden beigetragen haben.
Bis heute, während ich diese Zeilen schreibe, hat das Verfassungsgericht noch nicht entschieden. So bleiben mir über Jahre die Hände gebunden. Was wir dringend brauchen, ist eine unabhängige oder im Parlament angesiedelte Möglichkeit, die Einstufung von Dokumenten zu überprüfen. Sonst sind dem Missbrauch der Geheimhaltungsregeln durch die Regierung Tür und Tor geöffnet.
Eine ähnliche Erfahrung habe ich bei der europäischen Bankenrettung gemacht. Weil man noch nicht einmal versucht hat, Gläubiger adäquat an den Kosten der Finanzkrise zu beteiligen, will man nun eine Debatte darüber unmöglich machen, indem die Fakten geheim gehalten werden. Die Identität der Halter der Bankanleihen sei »nicht zu ermitteln«, behauptet Irlands Finanzminister Michael Noonan. Dies sei »keine wichtige Information«, meint sein spanischer Amtskollege Luis de Guindos. Dabei handele es sich um »Geschäftsgeheimnisse«, konstatiert EZB-Direktor Jörg Asmussen.23 Das Meinungskartell der Bankenretter verhindert, dass wir die Identität dieser Gläubiger erfahren und zumindest im Nachhinein bewerten können, ob sie Verluste hätten verkraften können oder nicht. Die Offenlegung dieser Informationen aber würde eine demokratische Diskussion über die Art der Bankenrettung ermöglichen. Auch heute noch hüten die Regierungen die Identität dieser Profiteure wie ein Staatsgeheimnis. Ich meine, dieses Geheimnis muss gelüftet werden. Wenn die Steuerzahlerin zahlt, hat sie auch das Recht zu erfahren, wohin ihr Geld geflossen ist.