Kapitel 9
GEMEINSAM DAS GEMEINWOHL ZURÜCKEROBERN

Die Wirtschaft wird nicht mehr von unten gesteuert, weil auch der Staat, der die Regeln setzt, nicht mehr von unten gesteuert wird – und umgekehrt. Ist es dann nicht aussichtslos, die Machtwirtschaft zu überwinden? Reformen in Markt und Staat müssen ja durchgesetzt werden. Die drängende Frage für uns als Gesellschaft lautet daher: Wie kriegen wir die Kontrolle über uns selbst zurück?

Ich meine: Gegen die verwobene Machtkonstellation in Wirtschaft und Politik werden die skizzierten Reformen keine Chance haben, wenn sich nicht etwas anderes ändert: die Rolle der Bürgerinnen und Bürger. Deswegen geht es jetzt um Sie, liebe Leserin und lieber Leser. Denn ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ohne Sie packen wir das alles nicht.

EINE HERAUSFORDERUNG FÜR UNSERE GESELLSCHAFT

Jede Partei, die sich daranmacht, gegen die herrschende Machtkonstellation vorzugehen, wird es extrem schwer haben. Sie wird, anders als ihre Gegner, kaum Unternehmensspenden bekommen, also deutlich weniger Geld haben. Geld ist zwar nicht alles in der Politik, aber ohne Geld gibt es keine Plakate, keine Blümchen am Wahlkampfstand, keine Anzeigen in den Zeitungen, keine Werbespots im Kino, keine Informationskampagnen, mit denen die eigenen Konzepte vorgestellt und die Falschaussagen der Gegner gekontert werden können.

Hinzu kommt die Medienwelt. Sie glauben gar nicht, wie viele Journalisten mir in den letzten Jahren berichtet haben, wie sie in ihrem Haus Gegenwind bekamen, nachdem sie kritische Berichte zu großen Unternehmen veröffentlicht hatten.

Das große Unwohlsein

Harald Welzer, Professor für Transformationsdesign, hat Anfang 2013 mit seinem Buch Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand für einige Furore in den Feuilletons gesorgt. »Es geht inzwischen, inmitten von Finanzkrise, Klimawandel, Ressourcenkonkurrenz und Globalisierung der Wirtschaftskreisläufe, schon längst nicht mehr um die Gestaltung einer offenen Zukunft«, diagnostiziert Welzer unseren Bewusstseinszustand. »Aller Schwung ist dahin. Es geht nur mehr um Restauration; um die Aufrechterhaltung eines schon brüchig gewordenen Status quo.«1 Dieser »radikale Zukunftsverlust« sei der Kern unseres Unwohlseins. Da das nicht einfach zu ertragen sei, würden wir einfach so tun, als sei alles beim Alten. Wir flüchten uns, so Welzer, schützend in die bekannten Denkmuster und in die Wiederherstellung einer Lebenswirklichkeit, die längst vergangen ist, anstatt mutig nach neuen Lösungen zu suchen. Ähnlich beklagt auch Jürgen Habermas »den Verzicht auf Perspektive und Gestaltungswillen«.2

Die Politik alimentiert diesen Zustand, indem sie auf Beruhigung setzt. Angela Merkels sprachloses Regierungshandeln und ihre völlige Positionslosigkeit in fast allen politischen Fragen sind wohl das Paradebeispiel eines zukunftslosen Politikstils. Weil wir alle zu wissen glauben, dass es nur schlechte Nachrichten geben kann, hören wir lieber keine und laben uns an der Unverbindlichkeit einer Politik, die den Status quo möglichst geräuschlos verwaltet. »Der Weg zur Knechtschaft« ist heute nicht am breitesten bei der Verführung durch kommunistische Heilsversprechen, vor denen Friedrich August von Hayek warnte.3 Das Versprechen der Konsumgesellschaft, dass wir uns über die Gestaltung unserer Gesellschaft keine Gedanken mehr machen müssen, bedroht die Basis der demokratischen Mitbestimmung ebenso wie der zunehmende Blick des Einzelnen nur auf sich selbst und seine Interessen. Doch dann bleibt es eben bei den jetzigen Strukturen, und dann werden wir keine der drängenden Probleme unserer Zeit lösen. Die Lethargie der Verklärer und der Machtwille der Profiteure ergänzen sich so zu einer zerstörerischen Melange, die extrem schwer zu fassen ist.

Und genau diese politische Enthaltsamkeit wird zu einem Problem für die Demokratie. Denn die lebt von Teilhabe, von Streit, von Debatten, von unterschiedlichen Vorstellungen über unsere Zukunft. Ja, auch von Visionen! Doch wenn der Großteil der Bevölkerung nicht mehr bereit oder in der Lage ist, für die gemeinsame Gestaltung der Zukunft das nötige Engagement aufzubringen, dann muss das irgendwann zur Unfreiheit führen.

Passt sich nun die Politik dem vorherrschenden Kulturpessimismus an, oder ist es geradewegs andersherum, dass nämlich das offene Eingestehen politischer Machtgrenzen, die im Mantra der vermeintlichen Alternativlosigkeit und dem an den Öffnungszeiten der Börsen orientierten politischen Kalender seinen Ausdruck findet, einen Keil zwischen Bürgergesellschaft und Politik treibt? Der polnisch-britische Philosoph Zygmunt Bauman beobachtet »eine Krise der Stellvertreter (crisis of agency)«. Niemandem werde Fähigkeit und Willen zugetraut, die gute Gesellschaft zu verwirklichen: »Dieser Zweifel entspringt der immer sichtbareren Trennung zwischen Macht (das heißt die Fähigkeit, Sachen zu machen) und Politik (das heißt die Fähigkeit, Dinge zu entscheiden, die gemacht werden müssten/sollten).«4 Ähnlich erklärt es auch Jürgen Habermas: »Die wachsende Komplexität der regelungsbedürftigen Materien nötigt zu kurzatmigen Reaktionen in schrumpfenden Handlungsspielräumen.«5 Und die schrumpfen in der Tat: Während in den Zeiten des Aufbaus von öffentlichen und privaten Schulden die Handlungsspielräume künstlich ausgeweitet wurden, sind sie heute kleiner, weil wir uns nicht nur an den heutigen Grenzen orientieren, sondern auch den Schuldenmüll der früheren Jahre abbauen müssen.

Der Teufelskreis des Nicht-Engagements

Da beißt sich dann die Katze in den Schwanz: Das Engagement für eine bessere Gesellschaft wird frustriert durch die teils reale, teils wahrgenommen Machtlosigkeit der derzeitigen Politik. Eine Änderung dieser Konstellation ist aber nur denkbar durch das Engagement vieler für eine bessere Gesellschaft.

Außerdem gibt es einen zweiten Teufelskreis. Unlängst sprach ich mit einer engagierten Studentin in Mannheim, die offensichtlich grüne Politik gut fand und wohl auch meine Art, Politik zu machen. Ich fragte sie, ob sie mich in den letzten Tagen des Wahlkampfs ein wenig unterstützen könne. Aus ihren Augen sprach Stress: Sie müsse ihre vielen Jobs auf die Reihe bekommen, um die nächste Phase ihres Studiums zu finanzieren, und das sei alles zu viel. Nun hatte ich ja nicht um die Übernahme eines Vorstandspostens im Kreisverband nachgefragt, sondern um wenige Stunden. Doch wenn viele Menschen so eingespannt sind im Hamsterrad der Konkurrenz, wo sie um Ausbildung und Job rennen müssen, dass sie nicht mehr die Zeit für ein paar Stunden politisches Engagement aufbringen, dann fehlt die politische Kraft, um dieses Hamsterrad zu bremsen.

So stehen wir und die gegenwärtigen Strukturen uns also im Weg, wenn es darum geht, unsere Zukunft mit Optimismus zu gestalten. Es scheint keine Angebote zu geben, die offensichtlichen Herausforderungen mutig anzupacken. Nur wenige politische Akteure sind bereit, »demoskopisches Risiko« einzugehen und eine richtungweisende Debatte zu führen, die nicht normativ entkernt ist. Habermas spricht zu Recht vom »Verdruss an einer politischen Unterforderung«, der die Menschen in eine »apolitische Schwärmerei« treibt.6

Große Zukunftsentwürfe haben es allerdings nicht nur im gegenwärtigen Politikbetrieb schwer. Wieweit sich Politikerinnen und Politiker nach vorne wagen können, ist ebenso eine Frage des gesellschaftlichen Diskurses. Und so bringt es mich in Rage, wenn Intellektuelle verschiedenster Denkrichtungen und andere Prominente es irgendwie in Ordnung finden, auf »die Politik« herabzusehen und deren mangelnde Zukunftsentwürfe zu beklagen. »Macht es doch besser!«, möchte ich ihnen entgegenrufen. Aber dafür ist man sich wohl zu fein. Zu Recht titelte der Spiegel kurz vor den Bundestagswahlen 2013 »Die Schamlosen« und schrieb: »Das Nichtwählen ist salonfähig geworden. Schuld daran sind Intellektuelle und Prominente, die ihre teils politikverachtende Haltung über alle Kanäle verbreiten. Sie schaden damit der Demokratie.«7 Denn wenn diejenigen, die verstehen können, was in unserer Gesellschaft geschieht, die zum Diskurs in der Lage sind, wenn gerade diese Menschen sich nicht mehr als tragende Säulen der Demokratie verstehen, wer denn bitte dann?

Politik- oder Parteienverdrossenheit?

Viele Menschen sind bereit, sich zu engagieren, aber der etablierten Politik bleiben sie häufig fern. Das äußert sich zum einen in den sinkenden Mitgliederzahlen bei den Parteien – alle im Bundestag vertretenen Parteien außer den Grünen haben 2012 Mitglieder verloren – und in der weit verbreiteten Skepsis gegenüber der Berufspolitik. So zeigen Daten des European Social Survey (ESS), dass zwar 58 Prozent der Deutschen sehr oder ziemlich interessiert an Politik sind, demgegenüber aber 68 Prozent eher kein Vertrauen in Politikerinnen und Politiker haben. 14 Prozent lassen sich gar zu der Aussage hinreißen, sie hätten überhaupt kein Vertrauen in ihre Volksvertreter.8 Dabei misstrauen die Bürger, worauf der Politikwissenschaftler Arvid Bell hinweist, »ausgerechnet dem Verfassungsorgan, auf das die Wählerinnen und Wähler den größten Einfluss haben, nämlich dem Deutschen Bundestag […], am meisten«.9 Das weist genau auf die Lücke zwischen Zuständigkeit und Machtlosigkeit hin. Schlimmer noch sieht es mit dem krassen Misstrauen gegenüber den Volksvertretern übrigens in anderen Staaten Europas aus. Dieser Wert liegt in Spanien bei 26 Prozent und in Griechenland bei beängstigenden 49 Prozent!

Experten warnen jedoch vor der These, es gebe eine allgemeine Politikverdrossenheit, und verweisen auf die gewachsenen Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren. So böten die Parteien einfach nicht mehr den Rahmen, insbesondere junge Leute zum Einmischen zu bewegen. »Wer die Welt verbessern möchte, will im Ortsverband nicht mit Leuten über 50 über die Abwasserzweckverbandsabgabe diskutieren«, so bringt es der Parteienforscher Oskar Niedermayer auf den Punkt.10 Dem pflichtet die Shell-Jugendstudie bei: »Trotz der allgemeinen Politik- und Parteienverdrossenheit sind Jugendliche durchaus bereit, sich an politischen Aktivitäten zu beteiligen, insbesondere dann, wenn ihnen eine Sache persönlich wichtig ist. So würden 77 Prozent aller jungen Leute bei einer Unterschriftenaktion mitmachen. Immerhin 44 Prozent würden auch an einer Demonstration teilnehmen.«11

Die letzten Jahre waren denn auch geprägt von einer neuen Protestkultur, die sich zum größten Teil parallel zu den etablierten Parteien organisiert hat: gegen die Errichtung neuer Stromtrassen und Windräder, gegen den Ausbau von Flughäfen und Bahnhöfen, gegen Kapitalismus und Bankenmacht, gegen neue Schulformen, gegen Zensur im Internet und gegen Atomkraft. Die Studie Die neue Macht der Bürger kommt zu dem Schluss: »Während die Wahlbeteiligung rückläufig ist, nimmt der Grad des Engagements in anderen Bereichen stetig zu und verändert sich zugleich. Spiegelbildlich dazu schwindet die Legitimität der durch Wahlen gestützten repräsentativen Demokratie, ohne dass neue Legitimitätsdepots bislang dafür einen Ersatz schaffen können.«12 Allerdings ist es viel leichter, sich nur »gegen« bestimmte einzelne Projekte zu wenden, als »für« bestimmte Zukunftsperspektiven zu motivieren.

Die Proteste der Straße: von den Indignados bis Occupy

»¡Democracia real YA!« – »Echte Demokratie JETZT!« Mit diesen einfachen Worten entwickelte sich in Spanien die wichtigste Protestbewegung der vergangenen Jahrzehnte. Inspiriert von den dezentral organisierten Aufständen des Arabischen Frühlings, riefen mehr als 200 Organisationen für den 15. Mai 2011 zu landesweiten Protesten auf. In ihrem später veröffentlichten Manifest heißt es: »Wir sind alle besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich um uns herum präsentiert: die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- wie auch sprachlos. […] Doch wenn wir uns zusammentun, können wir das ändern.«

Eine neue Bewegung war geboren, die meist als Movimiento 15-M (Bewegung 15. Mai) oder Indignados (Empörte) bezeichnet wird. Dabei beziehen sie sich auch auf die Streitschrift des französischen Résistancekämpfers Stéphane Hessel, der im Oktober 2010 mit seinem Essay Empört Euch! die Jugend Europas unter anderem zum Widerstand gegen den Finanzkapitalismus aufrief.

»No nos representan« (»Sie repräsentieren uns nicht«) war einer der zentralen Schlachtrufe der Empörten. Doch gleichzeitig weigerte sich die Bewegung, in die aktuellen Entscheidungen einzugreifen, während die konservative Volkspartei im November 2011 eine stabile parlamentarische Mehrheit bekam und die massive Umverteilung von unten nach oben fortsetzte. So lähmte sich der Protest und führte zu noch mehr Frust. Es war zum Verzweifeln.

Inspiriert von den Protesten in Spanien entstand Mitte 2011 die Idee zu Occupy Wall Street, die wiederum Startschuss der globalen Occupy-Bewegung am 15. Oktober 2011 war. Der deutsche Teil sollte als »Besetzung« des Reichstags stattfinden. Die Hoffnungen waren groß.

Aus allen Richtungen strömten die Menschen in das Berliner Regierungsviertel, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. »Wir sind die 99 Prozent« – unter diesem Motto sammelte die Bewegung die Menschen, die das Gefühl nicht loswerden, es laufe etwas grundsätzlich schief. Zu denen gehöre ich natürlich auch – und vielleicht auch Sie? Keiner sollte sich gezwungen fühlen, aus der Kritik am bestehenden System heraus im nächsten Gefäß vorgefertigter Meinungen zu landen. Das Resultat war wie in Spanien eine horizontale Empörungskultur, ohne Positionen und Anführer. Das war die Stärke der Bewegung, aber natürlich gleichzeitig ihre Schwäche.

Deswegen war ich gespannt, was an diesem Tag passieren würde, ich wollte mit den Menschen ins Gespräch kommen. Ich verstand mich als Teil der Bewegung, gerade weil wir neue Impulse für eine Politik brauchen, die sich endlich wieder für die Bedürfnisse der Vielen einsetzt. Doch nach den Protesten blieb auch ein schales Gefühl. Ein Plakat ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: »Politiker = Lakaien« stand da. Das drückte die tiefen Vorbehalte der Protestierenden gegenüber jeglicher organisierten Politik aus. Während wir progressiven Politiker im Parlament von der Wirkung der Proteste profitierten, weil sie unseren Forderungen nach Finanzmarktregulierung Nachdruck verliehen, nahmen die Menschen, die das leisteten, diese Wechselwirkung überhaupt nicht wahr. Sie sahen ihre Verbündeten im Parlament nicht, die sie dringend gebraucht hätten.

Damit fiel Occupy in dieselbe Falle, die linke Gruppen in den Jahren seit Ausbruch der Finanzkrise immer wieder aufgestellt hatten und in die die traditionelle Politik regelmäßig reintappte. In den Monaten nach dem Zusammenbruch der Großbank Lehman Brothers, im heißen Finanzherbst 2008, wurde den meisten Menschen klar: Wir befinden uns mitten in einer einschneidenden Krise, die das Potenzial hat, unser aller Leben nachhaltig zu verändern. Der Finanzkapitalismus schien am Ende. Die FDP hatte Panik, dass mit den toxischen Wertpapieren auch ihre toxische Politik entsorgt werden würde.

Auf deutschen Straßen jedoch merkte man davon nichts. Eine Ruhe lag über dem Land, die der Situation nicht angemessen war. Dabei hätte es seit Herbst 2008 viele Momente gegeben, um das Unwohlsein über die Sozialisierung der Spekulationsverluste auf die Straße zu tragen. Doch dazu hätte es eben gerade der Kooperation bedurft, einer Kooperation zwischen den Bewegten und Empörten von Occupy über aktive Nichtregierungsorganisationen und der großen Gewerkschaften bis hin zu den Parteien der politischen Linken. Nur in diesem Zusammenspiel hätten wir aus dem zentralen Anliegen, das so viele in diesen Rettungsmonaten teilten, auch die nötige Kraft bekommen, hier die politische Agenda entscheidend mitzubestimmen. Doch während es um Milliarden ging, blieben die Millionen zu Hause. Denn auf der einen Seite taten linke Splittergruppen alles, um die Parteien insgesamt rauszuhalten. Auf der anderen Seite taten sich SPD, Grüne und Gewerkschaften aus je unterschiedlichen Gründen schwer, mit der nötigen Konsequenz die eigenen Fehler einzugestehen und damit zu glaubwürdigen Mitstreitern für eine neue Wirtschaftspolitik zu werden. Die SPD stand als kleinere Regierungspartei noch viel zu lange in der Sache auf der Seite der Banken, während sich ihre Vertreter in oberflächlichem und leicht zu durchschauendem Banker-Bashing ergingen. Das hatte Auswirkungen auf die SPD-lastigen Gewerkschaften, die nicht gegen ihre eigenen Leute auf die Straße gehen wollten. Einigen Grünen wiederum fiel es in der Wirtschaftspolitik nach Jahren einer eher neoliberalen Ausrichtung zunächst nicht leicht, eine klare Position einzunehmen. Und anders als bei Protesten gegen Atomkraft, Flughäfen und Bahnhöfe, wo man selbstverständlich mit verschiedensten Gruppen kooperierte, tat man sich schwer, mit denjenigen, die wirklich das Wirtschaftssystem verändern wollten, auf einer Seite der Barrikade zu stehen. Eine vertane Chance für uns alle.

Doppelte Kraft

Wir sollten aus der weitgehenden Erfolglosigkeit der bisherigen Proteste eine Lehre ziehen, die so alt wie überzeugend ist: Nur gemeinsam sind wir stark. Die grüne Parteigeschichte ist das Paradebeispiel dafür, wie außerparlamentarische Opposition durch mühsame Beharrlichkeit sich irgendwann auch in parlamentarischen Mehrheiten niederschlägt. Der Atomausstieg wäre ohne das Zusammenspiel von Bürgerbewegung und grüner Partei in Parlamenten und Regierungen nicht denkbar gewesen – eine phänomenale Erfolgsgeschichte dieses doppelten Drucks.

Ein weiteres Beispiel dafür ist die Kampagne zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer.13 Das Konzept ist lange bekannt und wurde auch wissenschaftlich bearbeitet. Viele Parteien und Organisationen hatten die Forderung, mit einer solchen Steuer den Finanzsektor stärker an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben zu beteiligen, im Programm. Doch erst das koordinierte Vorgehen von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen und engagierten Parlamentarierinnen und Parlamentariern, orchestriert von Jesuitenpater Jörg Alt, hat diese Forderung auf die politische Agenda gesetzt und ein konkretes Gesetzgebungsvorhaben auf europäischer Ebene erzwungen.

Diese effektive Form der Zusammenarbeit sollte Vorbild sein: Eine Demonstration gegen die Allmacht der Finanzmärkte bleibt wirkungslos, wenn es nicht auch Leute wie uns Parlamentarierinnen und Parlamentarier gibt, die sich dann in die Niederungen der Gesetzesvorlagen begeben und auf konkrete Beschlüsse hinarbeiten. Umgekehrt können zivilgesellschaftliche Organisationen ganz anders Themen auf die Agenda setzen und öffentlichen Druck aufbauen. Hier gibt es eine wichtige Arbeitsteilung zwischen politischer und zivilgesellschaftlicher Macht, die wir akzeptieren müssen.

Es wird immer diese doppelte Schlagkraft brauchen. Wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen, sind wir zu viele, als dass wir überhört werden können.

Zunächst sind hier wir Politikerinnen und Politiker in der Bringschuld, auch wenn es manchen von uns nicht leichtfällt, auf Menschen zuzugehen, die von vornherein alle Politiker für Lakaien halten. Aber nur durch gegenseitiges Verständnis für die Unterschiedlichkeit der Rollen kann auch produktive Kraft entstehen.

Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen wieder erkennbar auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger stehen und unsere Rolle als Kontrollinstanz des Marktes und des Staates stärker wahrnehmen. Viel zu selbstverständlich werden wir von außen als Vertreter eines Staates wahrgenommen, von dem sich die meisten entfremdet haben. Zu viele von uns verstehen sich als Sprachrohr der Regierung in ihren Wahlkreisen. Aber das ist nicht unsere Rolle! Wir sind Volksvertreter, also Bürgerinnen und Bürger, die repräsentativ die Kontrolle der Regierung anvertraut bekommen und im Interesse aller an der Gesetzgebung mitwirken sollen, um die Macht in Markt und Staat zu bändigen. Zu diesem Selbstverständnis müssen wir zurück.

AUS DER GESCHICHTE LERNEN: BÜRGERPROTEST IN DEN USA

Die zentrale Frage ist: Kann es gelingen? Ich sage: Ja. Weil es schon einmal gelungen ist. Es gab schon einmal eine Situation, in der die staatlichen Strukturen zu klein und schwach waren gegenüber großen Konzernen. Während ein großer Wirtschaftsraum entstanden war, fehlten die politischen Strukturen, um die darin entstandenen großen Unternehmen zu kontrollieren. Die durch diese Entwicklung Benachteiligten waren zahlenmäßig den Profiteuren weit überlegen. Es gelang ihnen, die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern. Die Rede ist von den großen Trusts, die Ende des 19. Jahrhunderts die USA wirtschaftlich dominierten – und vom progressive movement, das sich ihnen entgegenstellte.

Das Zeitalter der großen Kapitalgesellschaften

Nach dem Ende des vierjährigen US-amerikanischen Bürgerkriegs 1865 kam es bis zum Ende des Jahrhunderts zu einem spektakulären wirtschaftlichen Aufschwung. In dieser Zeit stiegen die Vereinigten Staaten zur größten Wirtschaftsmacht der Welt auf. Die Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte durch die Einwanderungswelle aus Europa und Asien, schier unbegrenztes Land, eine Fülle natürlicher Rohstoffe und zahlreiche neue Erfindungen ermöglichten eine nie gesehene Expansion wirtschaftlicher Aktivität.14

Es begann die Zeit der großen Kapitalgesellschaften. Denn diese Unternehmensform ermöglichte die Organisation groß angelegter und kapitalintensiver Investitionen, die im Zuge der Industrialisierung nötig wurden. Je größer, desto erfolgreicher – das war das unter Beweis gestellte Credo, das in einen skrupellosen Wettbewerb um wirtschaftlichen Einfluss mündete. Das Ziel war nichts Geringeres als die vollkommene Beherrschung eines Wirtschaftszweigs. Dazu wurden konkurrierende Unternehmen kurzerhand übernommen und kleinere Einheiten durch die schon bestehende Marktmacht an die Wand gedrängt. Mit größeren Gegnern einigte man sich auf strategische Kooperationen oder schloss die noch verbliebenen Unternehmen in gegenseitigem Interesse zusammen – daraus entstanden die genannten Trusts. Die Monopolstellung, die sich diese wenigen Trusts dadurch verschafften, bedeutete für sie exorbitante Gewinne. Auch die Macht der großen Finanziers an der New Yorker Wall Street nahm hier ihren Ausgang.15

»Vergoldetes Zeitalter« (Gilded Age) nannte der Schriftsteller Mark Twain die Blütezeit des wirtschaftlichen Aufschwungs: außen glänzend, aber innen faul. Denn tatsächlich stapelte sich das Edelmetall nur in den Tresoren einiger weniger, der berühmten robber barons, während der Rest meist ums Überleben kämpfte. Diese »Raubritter«, wie die skrupellosen Kapitalisten in Anlehnung an mittelalterliche Plünderer genannt wurden, verschafften sich mit ihren Trusts Kontrolle über natürliche Ressourcen, lenkten staatliches Handeln, beuteten ihre Arbeitskräfte aus und konnten durch ihre Monopolstellung Traumrenditen erzielen. Zu dem illustren Zirkel der Mächtigen zählten Ölmagnat John D. Rockefeller – der Gründer von Standard Oil war der reichste Amerikaner, der je lebte16 – und Finanzier John Pierpont »J. P.« Morgan, dessen Name noch heute die große Investmentbank schmückt.

Was gut für die Rockefellers und Morgans war, bedeutete zunehmende Verelendung und Ausbeutung für die Mehrheit. Der Traum vom wirtschaftlichen Aufschwung war für viele ein Albtraum. Die Menschen strömten vom Land in die schnell wachsenden Städte, wo sie von niedrigen Löhnen begrüßt wurden, die durch den Zuzug immer neuer ungelernter Einwanderer dort auch stabil verharrten. Die Folge waren katastrophale Lebensbedingungen. Arbeiter hausten oft auf engstem Raum in neu errichteten Slums, meist ohne jegliche öffentliche Infrastruktur. Die Folge war die Verbreitung ansteckender Krankheiten wie Cholera oder Typhus, hohe Kindersterblichkeit und ausufernde Kriminalität, während das Land als Ganzes fantastische Wachstumsraten verzeichnete.17

»Solange die ganze Zunahme der Güter, welche der moderne Fortschritt mit sich bringt, nur dazu dient, große Vermögen aufzubauen, den Luxus zu vermehren und den Kontrast zwischen dem Hause des Überflusses und der Hütte des Mangels zu verschärfen, solange ist der Fortschritt kein wirklicher und kann nicht dauernd sein.«18 Der Ökonom und spätere Politiker Henry George traf mit diesen Worten 1879 nicht nur das Gefühl einer Generation, er warnte in seinem Buch Fortschritt und Armut zugleich davor, dass sich ein solches System selbst erledigen würde. Und tatsächlich ging mit der Machtkonzentration die Innovationskraft verloren, während Gier und Korruption, brutaler Konkurrenzkampf und die verbreitete Verelendung schleichend das soziale Gefüge zersetzten. Die Aushöhlung der Demokratie war weit vorangeschritten, Entscheidungen wurden in den politischen Salons getroffen, wo Geldelite und Parteienvertreter die Pfründe verteilten.19 Streiks erboster Arbeiter nahmen zu und endeten nicht selten in offener Gewalt. Trotz des Zusteuerns auf ein neues Jahrhundert industrieller Stärke und Dynamik bestand das Risiko, dass die sozialen Nähte reißen würden.

Das progressive movement

In dieser Lage wurde das progressive movement geboren, eine »fortschrittliche Bewegung«, in der sich aus im Einzelnen durchaus unterschiedlichen Beweggründen Sozialreformer sammelten. Gemeinsames Anliegen war ihnen nichts Geringeres, als die Demokratie und die Marktwirtschaft zu retten – für eine moderne Zeit, in der alle am technischen Fortschritt teilhaben können.

»Ein aussichtsloses Unterfangen«, so werden politische Beobachter der damaligen Zeit gedacht haben. Denn wie konnte sich jemand ernsthaft mit der gut geölten Maschinerie aus Konzern- und Politikinteressen anlegen wollen? Doch mit Beharrlichkeit veränderten die progressives die Vereinigten Staaten. Als mit sich zuspitzender Ungleichheit die Sollbruchstellen des »vergoldeten« Systems immer deutlicher wurden, bot die Bewegung der »Fortschrittlichen« einen Ausweg. Anstelle eines sich verschärfenden Klassenkampfs, der auch in revolutionäre Lösungen hätte münden können, wollten sie das System reparieren, es wieder darauf ausrichten, wofür es ursprünglich geschaffen war: dass ein jeder das Recht auf »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück« habe, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt.

Die Menschen, die diese Bewegung unterstützten, waren überzeugt, dass nur durch eine eingreifende Politik ein jeder zu seinem Recht kommen kann. Sie waren damit die Ersten, die mit dem in den USA tief verankerten Grundsatz brachen, dass ein Weniger an Staat immer im Interesse der Allgemeinheit sei. Sie wandten sich zunächst gegen den vorherrschenden Sozialdarwinismus, nach dem die natürliche Selektion beim Kampf ums Dasein, die augenscheinliche Misere der Turboindustrialisierung, untrennbar mit menschlichem Fortschritt verbunden sei. Die progressives sahen es genau andersherum: Das menschliche Leiden ist die Folge einer schlechten Wirtschaftsordnung. Armut, Gewalt, Gier, Krankheit und Klassenkampf kann nur vorgebeugt werden, indem man allen Einwohnern zu guter Ausbildung, Sicherheit und Gesundheitsvorsorge verhilft. Deswegen setzten sie sich für Sozialprogramme und den massiven Ausbau öffentlicher Güter ein – von Schulen über Universitäten und Gesundheitsvorsorge hin zu öffentlichen Parks.

Wie bei jedem historischen Vorbild gab es auch beim progressive movement Fehlentwicklungen und Verirrungen. Absurderweise zeigte sich die Bewegung offen für Eugenik – auch wenn das zunächst in krassem Widerspruch zur Kritik am Sozialdarwinismus zu stehen scheint. Doch sah man Geburtenkontrolle als ein Mittel zum Zweck, die Armen aus ihrer Position zu erheben.20 Auch ist es für uns heute völlig inakzeptabel, dass die Bewegung auf dem rassistischen Auge völlig blind blieb. Während sich viele als Reformer und Moralapostel einer gerechteren Welt profilierten, wurde das Leid der Afroamerikaner und anderer Minderheiten ignoriert, ja, gab es sogar Bezüge zum 1920 wiederbelebten rassistischen Ku-Klux-Klan.21

Zu den problematischen Aspekten gehörte auch der Kampf für die Prohibition, also die Einführung eines landesweiten Alkoholverbots. Hintergrund war das »Austrocknen« der politischen Salons. War die Bewegung angetreten, die menschliche Freiheit zu schützen, so verkehrte sich ihre Politik in einzelnen Extremen in einen illiberalen Paternalismus, ernährt von einer Vision moralischer Überlegenheit. Das muss jedem Sozialreformer heute eine Warnung sein!

Behält man diese Verirrungen im Blick, können wir heute von dieser Bewegung lernen. Denn wie damals muss, damit alle vom wirtschaftlichen Fortschritt profitieren, die Macht der Konzerne gebrochen und das Vertrauen in die Politik wiederhergestellt werden. Beide Kämpfe waren und sind hart. Wirtschaftliche Macht lässt sich nur brechen, wenn man selbst die politische Macht hat, sich gegen die großen Unternehmen durchzusetzen. Und die alte politische Maschinerie war seinerzeit so gut organisiert, dass eine gemeinwohlorientierte Politik anfangs nur ein ferner Traum zu sein schien.

Deswegen begann die Bewegung, für breite Unterstützung zu werben – und genau das war auch das Geheimnis ihres Erfolgs. Da nur eine kleine Elite vom Monopolkapitalismus profitierte, standen die progressives für eine breite Allianz, die keineswegs auf die Arbeiterklasse beschränkt war. Im Gegenteil, die Speerspitze war vielmehr die Mittelklasse – Lehrer, Anwälte, Wissenschaftler und Geschäftsleute –, die sich einerseits vom Großkapital über den Tisch gezogen fühlte und durch deren Adern anderseits aber kein Revoluzzerblut floss. Sie stand zwischen der Konzernelite und den radikalen Ideen. So richtete sich die Bewegung nie gegen business, sondern explizit gegen big business – sie stritten ja gerade für Wettbewerb und freies Unternehmertum! Genauso waren sie nie für big government, sondern stets für good government – deswegen wollten sie ja eine demokratische Politik erreichen.

Die »Reinigung der Politik« stand ganz oben auf der Agenda, eine Voraussetzung, ohne die jedweder Kampf gegen die Großmachtinteressen vergeblich sein müsste. Bürgerbeteiligung war die einzige Chance, der prinzipiell breiten Unterstützerschicht auch politisch Gehör zu verschaffen. Deswegen setzte man sich, zunächst in den Städten, später auch auf Ebene der Bundesstaaten, für mehr direkte Demokratie ein. So stritten die progressives den Staaten die Möglichkeit ab, auch auf lokaler Ebene Volksvertreter zu wählen, gefolgt vom gesetzlichen Recht auf initiative and referendum, durch das progressive Ideen vom Volk her initiiert und gegen die korrupte Maschinerie der Bundesstaaten durchgesetzt werden konnten. Weitere bahnbrechende Erfolge waren die Direktwahl der Senatoren (seit 1913) und die schrittweise Einführung des Frauenwahlrechts (vollständig 1920).22

Politische Erfolge

Zentral für eine Bändigung der Trusts war die Schaffung von staatlichen Institutionen, die den Konzernen auf Augenhöhe begegnen konnten. Das war um die vorletzte Jahrhundertwende in den USA noch keineswegs der Fall. Denn während sich die Trusts wie ein Netz über das ganze Land gelegt hatten, wurden die meisten Entscheidungen noch auf der Ebene der Bundesstaaten getroffen. Zentrale Regulierungsbehörden auf Bundesebene entstanden daher erst auf Druck der progressives. Dazu gehört das 1913 gegründete Federal Reserve System, die US-amerikanische Zentralbank, genauso wie die Federal Trade Commission (FTC), die seit 1914 bei Beschwerden von Konsumenten, dem Kongress oder Journalisten direkt gegenüber einzelnen Unternehmen tätig wird. So wurde der Staat überhaupt erst in die Lage versetzt, eine Politik im Interesse des Gemeinwohls gegen Big Business zu organisieren. Zum Zweiten sollte der so gestärkte Staat aktiv den Wettbewerb schützen. Schon 1890 wurde daher mit dem Sherman Antitrust Act ein Antikartellgesetz verabschiedet, das neue Maßstäbe setzte und im Laufe der Zeit schrittweise verschärft und ergänzt wurde. Hinzu kamen durchgreifende Regulierungen für die Großindustrie, Arbeiterschutzgesetze und eine offenere Handelspolitik, die nationalen Monopolisten Konkurrenz verschaffte. Konzerne sollten sich nicht länger vor Marktkräften schützen dürfen, sondern die Gesellschaft sollte vor Marktversagen geschützt werden.

Dazu gehörte zum Dritten auch der Verbraucherschutz, denn das freie Treiben des Profits brachte große Skandale mit sich. Etliche Journalisten nutzten die neuen und einflussreichen nationalen Magazine, um die Skandale der Machtwirtschaft ebenso aufzudecken wie die der politischen Korruption – »Dreckwühler« nannte man sie. Der erst 26-jährige sozialistische Autor Upton Sinclair berichtete 1904 in seinem Roman Der Dschungel vom Arbeiterkampf in der Fleischindustrie, womit er auf die katastrophalen Arbeitsbedingungen aufmerksam machen wollte. Doch noch stärkere Resonanz fand er für die von ihm in ekelerregend klarer Sprache beschriebenen Hygienezustände in den Schlachthöfen und Konservenfabriken, wo nicht nur kranke Tiere, sondern auch Ratten verarbeitet wurden. Offenbar war das Mitleid mit den Arbeitern weniger stark ausgeprägt als die Angst vor schlechtem Essen. Eine von der Regierung eingeleitete Untersuchung bestätigte übrigens zum Entsetzen der Bevölkerung die meisten von Sinclairs Beschreibungen.23

Zunächst lokal organisiert, dann mit einigem Rückhalt im amerikanischen Kongress hatten die Fortschrittlichen 1901 schließlich auch auf Bundesebene Erfolg. Denn mit dem Republikaner Theodore Roosevelt wurde ein erklärter progressive zum Präsidenten gewählt, der sich damit gegen die Laisser-faire-Politik seiner Partei stellte. Und er griff dann auch massiv durch. Dabei war Roosevelt nicht per se gegen große Konzerne und war sich durchaus bewusst, dass sie auch große Innovationen ermöglicht hatten. Es ging ihm um den Wiedergewinn staatlicher Kontrolle. Er nutzte den Sherman Antitrust Act als Erster konsequent aus und wies seinen Justizminister – in den USA ist das gleichzeitig auch der Generalbundesanwalt – an, alle relevanten Kartelle zu verklagen. Insgesamt 44 Mal schlug dieser mit Roosevelts Anweisung zu, darunter waren die Konzerne JP Morgan, dessen Eisenbahnkartell Northern Securities Company 1904 zerschlagen, und Standard Oil, das in 33 Unternehmen aufgeteilt wurde.24

Nach acht Jahren progressiver Präsidentschaft waren viele der ehemals radikalen Anliegen Teil der politischen Kultur geworden. Enttäuscht von seinem Nachfolger William Taft gründete Roosevelt zwar noch einmal eine eigene Progressive Party, unterlag mit dieser 1912 aber dem Demokraten Woodrow Wilson. Doch dessen Politik wandte sich noch wesentlich stärker gegen den Einfluss von Big Business. Denn Wilson ging jede Sympathie für die Großindustriellen ab, er forderte ein Ende des Monopolkapitalismus. Deswegen setzte er ein weiteres Anti-Kartell-Gesetz durch und führte dauerhaft die bundesweite Einkommensteuer ein, um den Bundesstaat handlungsfähig zu halten.

ZEIT FÜR EINE PROGRESSIVE POLITIK IN EUROPA!

Mir kam, als ich Sinclairs Roman über die Zustände in den Fleischfabriken in den USA Ende des 19. Jahrhunderts las, sofort das Video des britischen Starkochs Jamie Oliver über pink slime in US-amerikanischem Schulessen in den Sinn,25 wie industriell hergestellte Produkte aus Rindfleischsorten genannt werden. Dieses Video zeigt ihn und die ekelverzerrten Gesichter seiner Zuhörer bei einer Präsentation über die Zusammensetzung des Hackfleisches in einer High School. Es verbreitete sich in Windeseile im Internet und ließ die Nachfrage nach den Fleischprodukten der betroffenen Unternehmen, die – völlig legal – Abfälle und Chemikalien in Hackfleisch mischten, dramatisch einbrechen. Und natürlich muss man an die zahlreichen Lebensmittelskandale in der Agroindustrie unserer Tage insgesamt denken. Doch die Parallele geht weiter. Wieder geht es um beides – um eine neue Balance wirtschaftlicher und staatlicher Macht, aber auch um eine Erneuerung der Demokratie und das Zusammenführen der Bürgerinnen und Bürger Europas dort, wo sie gemeinsame Interessen haben.

Machtfragen für europäische progressives

Auch heute sind, wie bereits ausgeführt, die großen Machtzentren in der Wirtschaft stärker als die Staaten. Ganz besonders gilt das in Europa. So wie damals in den USA die politische Macht noch weitgehend auf bundesstaatlicher Ebene angesiedelt war, während die großen Unternehmen landesweit agierten, so liegen heute viele politische Kompetenzen auf nationalstaatlicher Ebene, während die Unternehmen längst europaweit, wenn nicht global aufgestellt sind. Genauso wenig, wie der US-Staat Ohio damals die Macht des in seiner Hauptstadt Cleveland niedergelassenen Giganten Standard Oil bändigen konnte, so unmöglich ist es in den heutigen staatlichen Strukturen, Shell, Nestlé oder Vodafone an die Leine zu nehmen. Europäische Progressive müssen sich deshalb heute ähnlichen Machtfragen stellen wie die Roosevelts und Wilsons vor ziemlich genau einhundert Jahren. Dabei geht es nicht darum, dass ein Superkonzern nach der Weltherrschaft strebt. Aber die Kräfteverhältnisse stimmen wie damals auch heute nicht.

Deshalb braucht es jetzt in Europa eine progressive Bewegung: Wir müssen bestehende wirtschaftlich-politische Machtstrukturen zurückdrängen oder auflösen. Und wir müssen uns in Europa zusammenschließen, damit wir nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Wie damals braucht es dazu die Mitte der Gesellschaft, nicht ein paar versprengte Radikale. Gerade diejenigen, die wirtschaftlich tätig sind, aber von großen Unternehmen in Markt und Staat an den Rand gedrängt werden, müssen Kern einer solchen Bewegung sein. Diejenigen, die die Steuern zahlen, die große Unternehmen eigentlich zahlen müssten, haben doch allen Grund, hier für eine Veränderung zu sorgen. Und ist es nicht gerade die Mittelschicht, die durch undurchsichtige Finanzprodukte am besten abgezockt werden kann?

Dass eine solche Bewegung aus der Mitte der Gesellschaft heraus keine Utopie ist, haben uns die progressives gezeigt. Nehmen wir uns daran ein Beispiel und organisieren ein progressives Europa!

Europäische Kontrolle über europäische Banken

Die europäische Finanzkrise hat in dramatischer Weise die Unwucht in unserem Wirtschaftsraum deutlich gemacht. Während die großen Banken die Freiheit des europäischen Binnenmarktes und den Schutz des europäischen Rechts genießen konnten, fehlten auf politischer Seite Strukturen, um handlungsfähig zu sein. So wurden die Staaten der Eurozone Getriebene der Finanzmärkte. Das muss sich von Grund auf ändern. Wir müssen auf europäischer Ebene die politische Steuerungsfähigkeit zurückgewinnen, um die großen Unternehmen und die Märkte wieder kontrollieren zu können.

Mit dem Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen haben Banken die Möglichkeit bekommen, in Europa grenzüberschreitend tätig zu sein. Sie können fast wie im Heimatland auch in allen anderen Mitgliedsstaaten Finanzdienstleistungen anbieten. Die Aufsicht über die Banken blieb aber bis vor Kurzem in nationaler Verantwortung. Kein Wunder, dass die jeweilige Finanzaufsicht keine Chance hatte, zu verstehen, was in den Teilen der Bank vor sich ging, die sich außerhalb des eigenen Landes befanden. Für die Banken war das günstig. Während sich die Aufseher mühsam koordinieren mussten, konnten die Bankvorstände ihre Aktivitäten so über die einzelnen Länder verteilen, wie sie wollten. So brachte der europäische Binnenmarkt die Staaten systematisch gegenüber den Banken in die Defensive. Denn bei dezentraler Aufsicht erreichen die Staaten nie die nötige Augenhöhe mit den grenzüberschreitend tätigen Instituten. Nein, sie befinden sich dann vielmehr in einem Wettbewerb um möglichst geringe Aufsichtsstandards. Sie sind den Märkten ausgesetzt, statt selbst die Märkte kontrollieren zu können.

Doch lange haben konservative Politiker in Berlin und London eine solche europäische Finanzaufsicht bekämpft. In einer ersten Runde gelang es deshalb 2011 nur, eine schwache Institution zu gründen, die keine wirklichen Durchgriffsrechte hat: die European Banking Authority in London. Erst in einem zweiten Anlauf gelingt nun die Schaffung einer echten europäischen Aufsichtsbehörde, die bei der Europäischen Zentralbank angesiedelt ist. Interessanterweise wurde bei dieser Debatte die »Abgabe von Kompetenzen« als ein Verlust dargestellt. Es wurde den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland gegenüber so getan, als hätte unsere deutsche Bankenaufsicht immer alles richtig gemacht, während im europäischen Ausland unfähige Aufseher Stümperarbeit geleistet und eine üble Bankenkrise zugelassen hätten. Wie schräg ist das denn? Bei allem Finanzmarktschrott waren deutsche Banken immer an erster Stelle dabei! Und manche Fehler, die die Finanzaufsichtsbehörden in Deutschland gemacht haben, haben andere Aufseher vermieden. Deshalb sollten wir mal ganz ruhig sein in Sachen Qualität der Bankenaufsicht. Und vor allem ist es falsch, diese Frage national aufzuladen. Es geht bei der europäischen Bankenaufsicht darum, wer wen kontrolliert: der europäische Staat die europäischen Banken oder die europäischen Banken die europäischen Staaten. Ein europäischer Bankenmarkt erfordert zwingend auch eine europäische Bankenaufsicht, wenn der Staat auf Augenhöhe mit den Banken agieren soll.

Das Beispiel FDIC

Ich habe mich mal gefragt, warum eigentlich US-Bundesstaaten wie New York, als die dortigen Banken wackelten, nicht in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind, Irland oder Spanien als Mitgliedsstaaten der Eurozone bei Schieflage ihrer Banken aber schon. Der Grund ist einfach: In den USA sind seit der großen Weltwirtschaftskrise 1934 nicht mehr die einzelnen Bundesstaaten für die ordnungsgemäße Abwicklung oder Rekapitalisierung der Banken verantwortlich, sondern eine zentrale Behörde, die mit allen Durchgriffsrechten ausgestattet ist. Diese Institution heißt Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC). Der von ihr gemanagte Einlagensicherungs- und Bankenrestrukturierungsfonds wird über eine Bankenabgabe finanziert. Ihre Aufgabe ist es, kriselnde Banken zu stabilisieren – und zwar so, dass die Einlagen geschützt werden und die Steuerzahlerin nicht zur Kasse gebeten wird. Die größten Lasten tragen die Eigentümer und die Gläubiger der betreffenden Bank, also zum Beispiel diejenigen, die deren Anleihen gezeichnet haben. So gelang in den Jahren 2008 bis 2012 die Restrukturierung bzw. Abwicklung von 467 (!) Banken durch die FDIC, ohne dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler auch nur einen Cent gezahlt hätten.

In der Eurozone dagegen wurden Banken gleicher Größe gerettet, indem die Gläubiger und teilweise sogar die Eigentümer geschützt und die Schulden der Banken auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler übertragen wurden. Das ist die Hauptursache der Schuldenkrise in Europa. In einem Gutachten für die grünen Fraktionen im Bundestag und im Europaparlament weist der Finanzexperte Achim Dübel nach, dass allein bei sieben Pleitebanken in Südeuropa 35 Milliarden Euro zu viel Steuergelder geflossen sind: Man hätte stattdessen diejenigen Gläubiger beteiligen können, in deren Verträgen eine solche Beteiligung an den Verlusten vorgesehen war. Ein Hilfspaket für Spanien wäre nicht erforderlich gewesen, wenn man dort rechtzeitig wackelnde Banken geschlossen und die Gläubiger gezwungen hätte, ihre Verluste zu akzeptieren.26

Und was war das stets bemühte Hauptargument? Ansteckungsgefahren! Wenn in einem Mitgliedsstaat die Bankgläubiger beteiligt werden würden, zögen sie sich aus ihm und anderen Krisenstaaten zurück, was die Krise nur noch verschärfen würde. Faktisch spielten bei dieser unheilvollen Krisenbewältigung die unterschiedlichen Insolvenzgesetze der einzelnen europäischen Staaten eine Rolle. Und zudem versuchten nationale Aufsichtsbehörden und Politiker den Schaden so lange wie möglich zu vertuschen, wodurch sie ihn massiv vergrößerten.

Aber wenn wir, wie schon 2009 bzw. 2010 von Europäischem Parlament und Europäischer Kommission vorgeschlagen, in Europa frühzeitig eine Institution wie die FDIC geschaffen hätten, die nach einheitlichem Unionsrecht Banken bei Schieflagen abgewickelt hätte – wohin hätten dann die Finanzmarktakteure ihr Geld bringen sollen? In die USA, wo Bankgläubiger auch Verluste tragen müssen? Nein, man hätte ohne Probleme den immensen Transfer vom Steuerzahler zu den Finanzmärkten auf ein unvermeidliches Minimum konzentrieren können. Stattdessen wurden den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern große Lasten aufgebürdet. Das müssen wir schnellstmöglich ändern, statt von nationaler Souveränität zu träumen. Diese ist, wenn europaweit tätige Banken wackeln, schnell Makulatur. Doch während ich diese Zeilen schreibe, hat sich die noch amtierende schwarz-gelbe Bundesregierung immer noch gegen eine europäische Abwicklungsinstitution gewehrt, die die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler vor weiteren unnötigen Lasten schützen könnte. Und wieder wird argumentiert, wir sollten doch nicht die Lasten der anderen tragen. So ein Quatsch! Gerade das heutige dezentrale System hat dazu geführt, dass deutsche Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Hilfskredite für die irische, spanische und zypriotische Bankenrettung geben mussten. Eine europäische FDIC würde das für die Zukunft verhindern.

Auch Fluchtkapital und Großunternehmen besteuern

Eine Übersicht des Tax Justice Network27 zeigt, dass in Europa im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung wesentlich mehr Steuereinnahmen durch Steuerflucht verloren gehen als etwa in den USA: insgesamt eine Billion Euro, die für den Abbau von Staatsschulden und für Zukunftsinvestitionen fehlen. Woran liegt das? Es liegt daran, dass wir zulassen, dass Vermögende und große Unternehmen mit den Staaten Versteck spielen, wenn es um die Versteuerung ihrer Erträge geht.

Die Deutsche Bank schreibt in ihrem Jahresbericht 2011, dass eine »vorteilhafte geographische Verteilung des Konzernergebnisses«28 wesentlich zur niedrigen Steuerquote im Berichtsjahr beigetragen habe. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. Der Anteil der unternehmensbezogenen Steuern am gesamten Steueraufkommen in der EU ging in den letzten zehn Jahren um über 15 Prozent zurück, der Anteil der Kapitalertragsteuern um knapp 10 Prozent.29 Zwar hat der europäische Binnenmarkt die Grenzen für Unternehmen zu Fall gebracht und die Möglichkeiten des Kapitaltransfers erleichtert, aber die Steuersysteme sind national geblieben. Der Steuerwettbewerb und nur unzulänglich verfolgte Steuerhinterziehung haben Druck auf die Staaten ausgeübt, die Steuern auf Kapital zu senken.

Das kann und muss man ändern – im Interesse kleiner Unternehmen und ehrlicher Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Ein wirksamer automatischer Informationsaustausch würde verhindern, dass Kapitalerträge in anderen europäischen Ländern versteckt werden können, und die Steuerflucht massiv erschweren. Dann würde endlich umgesetzt werden, was schon im Jahr 2009 auf dem G20-Gipfel in London zugesagt wurde: das Ende des Bankgeheimnisses.

Ein einheitliches europäisches Unternehmensteuerrecht mit einem gemeinsamen Mindeststeuersatz würde das Kräfteverhältnis zwischen Unternehmen und Staaten korrigieren. Es könnte dafür sorgen, dass die großen Unternehmen ihre Gewinne nicht in jedem Mitgliedsstaat kleinrechnen können, sondern dort Steuern zahlen, wo ihre Wertschöpfung stattfindet und sie öffentliche Infrastrukturen nutzen. Gestoppt würde dadurch die Verlagerung der Steuerlast auf kleine Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Europa stattfindet. Doch bislang wird diese Korrektur von den Profiteuren des jetzigen Zustands wirksam blockiert, und vielen Menschen, die eigentlich durch dieses System geschädigt werden, wird etwas vorgemacht.

Nationale Konflikte oder was?

Für eine progressive Politik in Europa gibt es eine entscheidende Voraussetzung: Wir dürfen nicht mehr darauf hereinfallen, wenn solche Interessenkonflikte national aufgeladen werden. Was meine ich damit? Haben wir Deutschen ein Problem mit den Österreichern wegen der Steuerhinterziehung bei Kapitalerträgen, die deutsche Staatsangehörige über Österreich organisieren? Oder mögen wir die Niederländer nicht, weil deren Holdings einen zentralen Beitrag dazu leisten, dass Großunternehmen ihre Steuern nicht zahlen? Nein, das Problem liegt nicht zwischen Deutschen und Österreichern bzw. zwischen Deutschen und Niederländern. Das Problem liegt zwischen wenigen Profiteuren eines Systems, in dem Vermögende ihre Steuern hinterziehen und Großunternehmen ihre Steuerzahlungen vermeiden können, auf der einen Seite und den Verlierern dieses Systems auf der anderen. Und diese Diskrepanz gibt es jeweils in allen beteiligten Staaten, auch wenn viele Politiker den Bürgerinnen und Bürgern häufig ganz etwas anderes weismachen.

Besonders deutlich habe ich das bei einem Besuch in Irland erlebt. Egal, mit wem ich sprach: Alle erzählten mir, wie wichtig der niedrige Steuersatz von nur 12,5 Prozent auf Unternehmensgewinne sei. Niemand schien auch nur zur Kenntnis nehmen zu wollen, dass Irland eine wichtige Rolle im Steuerdumping spielt. Doch dann traf ich auf einen Taxifahrer, der von sich aus anfing zu schimpfen, wie ungerecht es sei, dass jetzt so viele Bürgerinnen und Bürger in Irland in der Krise nicht aus noch ein wissen, aber Leute wie der Sänger Bono und seine Band U2 ihre Gewinne in den Niederlanden versteuern. Wir kamen ins Gespräch. Und konnten uns gut darauf verständigen, dass es die Iren ärgert, wenn ihre Spitzenverdiener nach Holland ausweichen, und dass es die Deutschen ärgert, wenn unsere Unternehmen nach Irland ausweichen, jeweils um weniger Steuern zu zahlen. Denn die meisten ehrlichen Menschen und kleinen Unternehmen haben diese Chance nicht und müssen umso mehr an den Staat abdrücken.

Man kann die Geschichte mit dem Steuerdumping in Europa national aufladen. Inhaltlich ist das zwar Quatsch. Aber es hilft natürlich, im jeweils eigenen Land Mehrheiten gegen eine Veränderung zu mobilisieren. Es hilft den Strukturen der Machtwirtschaft. Denn es geht dann in jedem europäischen Land darum, uns gegen die bösen anderen zu verteidigen, die unser Steuerrecht verändern wollen, weil sie etwas von unserem Geld wollen. So ein Schmarrn! Die Verlierer dieses Systems sind zahlenmäßig in ganz Europa in der Mehrheit. Progressive Politik muss dafür sorgen, dass diese Mehrheit sichtbar wird. Deshalb bin ich meinen grünen Kollegen in Österreich, Luxemburg und den Niederlanden so dankbar, dass wir in den steuerpolitischen Auseinandersetzungen die gemeinsamen Interessen der Bürgerinnen und Bürger unserer Länder in den Vordergrund gestellt und uns gemeinsam für ein faires europäisches Steuersystem eingesetzt haben.30

Und die Steuerpolitik ist kein Einzelfall. Es gibt viele andere Bereiche, wo eine europäische Zusammenarbeit im Interesse von Bürgerinnen und Bürgern uns viel Geld sparen würde. So hat das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung errechnet, dass die Zusammenarbeit der europäischen Staaten bei den diplomatischen Außenvertretungen, also bei Botschaften und Konsulaten, eine jährliche Einsparung von 1,3 Milliarden Euro mit sich bringen würde.31 Ich wäre dafür. 29 EU-Botschaften – 28 für die Mitgliedsstaaten und eine europäische – in vielen Hauptstädten der Erde: Mir leuchtet das nicht mehr ein. Europa wird nur noch zusammen wahrgenommen werden und sollte deshalb auch stärker seine Interessen im Ausland gemeinsam vertreten. Und wenn es dazu noch Geld spart, umso besser.

Viele europäische Bürgerinnen und Bürger denken noch in den alten Strukturen. Wenn sie »Staat« sagen, meinen sie automatisch den Nationalstaat. Auch die Medienlandschaft ist weitgehend national strukturiert. Dadurch können Diskussionen leicht nationalstaatlich aufgeladen werden. Unsere gemeinsamen Interessen als europäische Bürgerinnen und Bürger geraten dadurch leicht unter die Räder. Ich plädiere für eine föderale Struktur Europas mit klarer Aufgabenteilung zwischen europäischer und mitgliedsstaatlicher Ebene. Denn nur eine europäische Staatlichkeit kann europäische oder globale Unternehmen in Schach halten. Nur wenn wir europäisch denken und handeln, können wir wieder die Kontrolle über unsere Gesellschaft zurückerobern.

Überkommene Strukturen der Interessenvertretung

Das ist natürlich nicht der einzige Punkt, an dem wir falsch aufgeladene Debatten und Denkstrukturen überwinden müssen. Ich habe schon erwähnt, dass auch die alte Gegenüberstellung Staat versus Markt bei den nötigen Veränderungen in Europa nicht weiterhilft. Wenn der Staat zum Büttel großer Banken wird oder Getriebener der Finanzmärkte – ist es dann eine private oder eine staatliche Struktur, die unsere Freiheit einschränkt? Wenn der US-Geheimdienst NSA die uns vorher von privaten Großunternehmen wie Facebook oder Google entwendeten Daten ausspioniert oder wenn die Staaten hilflos den Machenschaften großer Kartelle zuschauen: Sollen wir dann eher gegen den Staat oder gegen die Großunternehmen streiten? Die Antwort lautet: gegen beide. Es ist die Herausforderung unserer Zeit, dass wir uns an vielen Stellen einer Interessenverflechtung von Staat und Großunternehmen gegenübersehen, die zunächst als diffus erscheint. Da hat dann mal plötzlich der alte Liberale einen richtigen Punkt, wenn er den Überwachungsstaat geißelt, während man doch gerade noch dem Altlinken zugestimmt hat, der von der Übermacht der Finanzmärkte sprach. Wie irritierend!

Vor allem weil die Organisationsstrukturen unserer Gesellschaft so häufig noch eine veraltete Logik widerspiegeln: Da sind etwa im Dachverband der Deutschen Kreditwirtschaft (DK) – dem Zusammenschluss des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken e. V. (BVR), des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes e. V. (DSGV) und des Bundesverbandes deutscher Banken (BdB) – die kleine Volksbank und die Deutsche Bank traut vereint. Natürlich kommt in der Praxis das Interesse der Deutschen Bank stärker durch. Aber die kleinen Genossenschaftsbanken sind komischerweise immer noch in diesem Verbund organisiert. Der DIHK als Dachverband der Industrie- und Handelskammern, in denen verpflichtend alle Unternehmen dieser Wirtschaftsbereiche Mitglied sind, vertritt nominell gleichermaßen die Würstchenbude wie die Allianz. Natürlich haben die Großunternehmen wesentlich mehr Zeit und Personal, bei den laufenden Abstimmungen der DIHK-Positionen Einfluss zu nehmen, nur sehr selten gelingt eine Revolte bei den Kammerwahlen. Ein positives Gegenbeispiel ist Stuttgart, wo die Initiative Kaktus erfolgreich in die Vollversammlung einzog und nun versucht, systematisch die Interessen kleinerer Unternehmen einzubringen. Im Bauernverband verbünden sich kurioserweise die Großagrarier und die Nebenerwerbslandwirte. Natürlich gehen da die Interessen der traditionellen Bauernhöfe gegenüber denen des Agrobusiness unter.

Diese Strukturen finden sich auch im Parteiensystem. In der FDP sitzen echte Marktwirtschaftler und die Vertreter des Großkapitals dicht beieinander. In den Reden überwiegt dann die marktwirtschaftliche Rhetorik, in der Regierungspraxis leider der Lobby-Einfluss. In der SPD als Partei der kleinen Leute geht es stark um Gerechtigkeit. Doch merkwürdigerweise sind die Versicherungs- oder die Kohlelobby bei den Sozialdemokraten ja auch ganz gut organisiert. So gelingt es Big Business, noch Legitimation selbst bei denjenigen einzusammeln, die unter den gegenwärtigen Strukturen zu leiden haben.

Clever gemacht, würde ich sagen. Doch das muss man ja nicht dauerhaft hinnehmen. Wir brauchen für die neuen Herausforderungen andere Strukturen der Interessenvertretung. Sie müssen nicht nur europäischer sein, sondern auch die eigentliche Trennlinie in der Debatte besser abbilden. Die promarktwirtschaftlichen Kräfte, die für Unternehmertum und individuelle Freiheit stehen, müssen sich lösen von denjenigen, die gerne über Marktwirtschaft reden, aber rent seeking betreiben und versuchen, den Markt außer Kraft zu setzen. Linke, die den Primat der Politik durchsetzen wollen, tun gut daran, zu erkennen, dass sie Verbündete in der Mitte der Gesellschaft und in der Wirtschaft brauchen, und mit diesen zusammenzuarbeiten.

Beides bedingt einander. Denn sonst landen wir beim naiven Kooperieren mit »der Wirtschaft«, was dann hauptsächlich Großunternehmen und Lobbyisten bedeutet und genau zu den Fehlern rot-grüner Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Jahren 1998 bis 2005 geführt hat, über die sich viele heute zu Recht ärgern. Oder wir landen beim Gegenteil, nämlich dem plumpen Agieren gegen die Wirtschaft, was genauso falsch ist.

DIE EUROPÄISCHE NICHT-DEMOKRATIE ÜBERWINDEN

Ich plädiere für eine Stärkung der europäischen Ebene dort, wo das notwendig ist, damit der Staat wieder auf Augenhöhe mit den großen Unternehmen kommt. Das wirft natürlich vor dem Hintergrund der Probleme mit Mutti Staat eine extrem wichtige Frage auf: nämlich die Frage nach der Kontrolle europäischer Politik.

EZB – Diskussion unerwünscht

Man stelle sich vor: Die EU-Staats- und Regierungschefs würden bei einem Eurokrisengipfel ein gigantisches Rettungsprogramm für angeschlagene Banken beschließen – und zwar, ohne die Parlamente in Europa dazu abstimmen zu lassen und ohne den Banken irgendwelche Auflagen zu machen; zum Beispiel, um zu verhindern, dass die Hilfen nicht gleich wieder als Dividenden an Aktionäre oder zur Zahlung üppiger Boni missbraucht werden. Parlamentarier und Bürger in Europa wären zu Recht empört.

Genau das ist aber in Europa geschehen, und zwar über ein Liquiditätsprogramm der EZB: Seit Dezember 2011 hat sie den Banken 1,1 Billionen Euro bereitgestellt. Dabei konnten die Institute bereits zweimal unbegrenzt viel Geld für die Laufzeit von drei Jahren zum extrem günstigen Zins von 1 Prozent abrufen. Außerdem wurden die Anforderungen an die Sicherheiten, die die Banken für diese Mittel bereitstellen mussten, deutlich gelockert. Ohne diese Geldflut wären heute wohl viele Banken in Europa bereits insolvent.

Anders als bei früheren Bankenrettungen fand allerdings dieses gigantische EZB-Stützungsprogamm ohne Auflagen und Gegenleistung statt. Transparenz und parlamentarische Kontrolle? Ebenfalls Fehlanzeige. Kein Parlament in Europa hat über diesen Geldregen abgestimmt. Und Informationen dazu, welche Banken in welchem Umfang die Mittel in Anspruch genommen, welche Sicherheiten sie dafür bereitgestellt haben und was genau mit den Mitteln unternommen worden ist und welche Gewinne erzielt werden können, sind nicht verfügbar. Mit dem in Anlehnung an ein Geschütz aus dem Ersten Weltkrieg »Dicke Bertha« genannten Programm hat die EZB zwar einen Crash verhindert – doch zu einem sehr hohen Preis, ohne Gegenleistung oder Auflagen und abseits demokratischer Legitimation und Kontrolle.

Das sind unhaltbare Zustände. Ich habe daraufhin im April 2012 an das Direktorium der EZB geschrieben und um die Offenlegung gebeten, welche Banken in welcher Höhe von den Hilfen profitiert haben. Und bin mit einem Verweis auf den »einheitlichen Währungsraum« und die »Vertraulichkeit individueller Transaktionen« abgespeist worden, weswegen bankspezifische Daten für die Öffentlichkeit tabu seien. Daraufhin habe ich mich beschwert und verlangt, diese Daten wenigstens im Nachhinein zur Verfügung gestellt zu bekommen. Diesmal hat mir der Präsident der EZB zwar persönlich geantwortet, der Inhalt aber war der gleiche: Eine Veröffentlichung würde »den Schutz des öffentlichen Interesses bezüglich der Währungspolitik der Union« und »bezüglich der Stabilität des Finanzsystems in der Union« unterlaufen. Diskussion unerwünscht. Sincerely yours, Mario Draghi.

Ich finde, das geht so nicht. Warum können in den USA die Liquiditätshilfen für Banken, die im Herbst 2008 erfolgten, auf Druck des Kongresses beziehungsweise aufgrund einer Gerichtsentscheidung offengelegt werden, ohne dass das Finanzsystem zusammenbricht, und in Europa behauptet man, das gehe nicht? Das leuchtet mir nicht ein. Die europäischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haben ein Anrecht darauf, zu erfahren, was mit öffentlichen Mitteln geschieht und welche Risiken bestehen. Das muss durchaus nicht immer tagesaktuell erfolgen, weil das dann in der Tat eine kurzfristige Reaktion auf den Finanzmärkten auslösen könnte. Aber zumindest im Nachhinein muss das Handeln einer öffentlichen Institution wie der EZB doch überprüfbar sein. Dabei richtet sich meine Kritik ausdrücklich nicht gegen die Währungshüter allein – sie sind in den meisten Fällen von unfähigen Regierungen zu außergewöhnlichen Schritten gezwungen worden. Aber es kann einem angst und bange um die Errungenschaften repräsentativer Demokratie werden, wenn man die unkontrollierte Macht des EZB-Direktoriums einmal erfasst hat.

Wer regiert hier eigentlich?

Spanische Parlamentarierinnen und Parlamentarier beschreiben mir gegenüber ihre Demokratie mittlerweile als Farce, da sie bei wichtigen Entscheidungen nicht adäquat eingebunden werden. Die Regierung in Madrid trifft schwierige Entscheidungen nicht mehr selbst, sondern verweist auf externe Notwendigkeiten. In einer funktionierenden Demokratie nämlich wäre es wohl nur schwer möglich, 40 Milliarden Euro für den Bankensektor bereitzustellen, während gleichzeitig genau diese Summe im Haushaltsentwurf für 2013 eingespart werden soll. In Irland und Zypern haben die Menschen ebenfalls das Gefühl, dass sie von außen regiert werden. Es kam sogar in einem Fall dazu, dass der Bundestag früher über die von der irischen Regierung geplanten Sanierungsmaßnahmen für den irischen Staatshaushalt Bescheid wusste als die irischen Parlamentarier.32 Was muss man sich als irische Bürgerin da denken? Aber das ist nicht nur ein Problem der Krisenstaaten. Die Bürgerinnen und Bürger können nicht mehr mitentscheiden, wenn die ominöse Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds ihre Experten schalten und walten lässt und ein Anpassungsprogramm nach dem anderen in den strauchelnden Ländern durchdrückt. Denn dieses sind drei nicht unmittelbar demokratisch kontrollierte Institutionen, die über das Wohl von Millionen von Menschen bestimmen. Eine Volksabstimmung zum Sparkurs in Griechenland, wie es der damalige Ministerpräsident Papandreou Ende 2011 vorschlug? Von Europas Krisenfürsten als Wahnsinnsidee vereitelt. Abstimmungen im spanischen Parlament über die Bankenrettung? Besser nicht, denn was wäre wohl los, wenn sich die Volksvertreter wehren würden?

So entsteht ein eklatantes Demokratiedefizit. Die Menschen in den Krisenländern wissen, dass andere über sie entscheiden: irgendwelche Funktionsträger in Brüssel, Washington, Frankfurt oder Berlin, die sie nicht gewählt haben und die sie nicht abwählen können. Die Folge ist eine unsoziale Krisenpolitik, die die Gläubiger der Banken schont und die Belastungen der Anpassung in großem Maße auf die Bezieher kleiner Einkommen verlagert, statt über Vermögensabgaben gerade auch diejenigen heranzuziehen, deren Vermögen durch die staatliche Intervention stabilisiert wurden.

Jetzt könnte man sagen, dass Länder, die Hilfe brauchen, für deren Zusage auch Bedingungen akzeptieren müssen. Stimmt. Aber selbst in den Ländern, die Hilfen gewähren, gelingt ja die parlamentarische Kontrolle nicht. An der spanischen Bankenrettung sieht man die Problematik sehr gut. Um die Frage zu beantworten, ob und in welcher Höhe öffentliche Mittel bei der Stabilisierung des Bankensektors erforderlich sind, muss man wissen, in welcher Höhe Eigentümer und Gläubiger die Verluste tragen können. Und dafür muss man zumindest grob wissen, wer diese Eigentümer und Gläubiger sind und welche Rechtsposition sie jeweils haben.

Ich habe also sowohl vor als auch nach der Entscheidung des Bundestags zu den Hilfskrediten für Spanien versucht, an diese Informationen heranzukommen. Denn das wäre die richtige Entscheidungsgrundlage gewesen. Wenn die Bundesregierung diese Informationen hätte, müsste sie mir die Fragen dazu beantworten oder sogar das Dokument herausgeben. Doch die Bundesregierung hat keine Informationen zum spanischen Bankensektor – sagt sie.33 Diese Informationen hat nur die Troika. Gegenüber der habe ich allerdings keinerlei Rechte als Parlamentarier oder Bürger, irgendwelche Unterlagen einzuklagen.

Ähnlich war das im Fall Zypern, wo es eine Studie des Finanzdienstleisters Pimco gab, in der wesentliche Informationen dieser Art enthalten gewesen sein müssen und schon verschiedene Szenarien diskutiert wurden. Wenn diese Studie der Bundesregierung vorgelegen hätte, hätte sie uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern diese Informationen weitergeben müssen. Im Finanzausschuss des Bundestags wurde uns allerdings auf die Fragen meiner Fraktionskollegin Lisa Paus und mir hin gesagt, da sei nur etwas mündlich vorgetragen worden, die Bundesregierung kenne diese Studie nicht. Will sagen: Die Bundesregierung entscheidet über eine milliardenschwere Rettungsaktion, bei der es für Deutschland direkt um 2,4 Milliarden Euro geht, indirekt um wesentlich mehr, auf Zuruf, ohne gründliche Untersuchung der Studie, auf der der Rettungsplan aufbaut. Kein Vorstand eines Unternehmens könnte sich das leisten! Eigentlich muss ich ja hoffen, dass die Bundesregierung uns angelogen und diese Informationen doch intensiv geprüft hat.

Was sagt uns das? Es gibt eine Kontrolllücke. Weder deutsche Parlamentarierinnen und Parlamentarier noch die Bundesregierung überprüfen, was die Troika aushandelt, obwohl es um Risiken für die deutschen Steuerzahler geht. Wer auf die Troika Einfluss nimmt, welchen Interessen sie nachgibt – das alles bleibt verborgen, obwohl sie ständig über Milliarden Euro europäischer Bürgerinnen und Bürger und praktisch die gesamte Wirtschaftspolitik der Krisenstaaten verhandelt. Erfreulicherweise hat sich insbesondere mein Kollege Sven Giegold im Europäischen Parlament dafür eingesetzt, dass jetzt ein Untersuchungsbericht zur Arbeit der Troika in Griechenland, Portugal, Irland und Zypern erstellt wird.

Selbst bei Mammutprojekten wie dem 60-Milliarden-Schirm EFSM, seinem 440- und dann 780-Milliarden-Nachfolger EFSF und schließlich dem 700-Milliarden-Dauerschirm ESM (ich erspare Ihnen und mir hier die Aufdröselung der Abkürzungen) hielten es die Regierungen nicht für nötig, ihre Parlamente über die Vertragsverhandlungen laufend zu informieren. In Deutschland haben wir Grünen dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt – und 2012 gewonnen!34 Doch in vielen anderen Ländern ist nicht einmal das geschehen.

Das Beispiel Zypern

Nirgendwo wurde das Kontrolldefizit in letzter Zeit so deutlich wie bei dem Umgang mit zwei Pleitebanken in Zypern. Bei einem Finanzministertreffen im Morgengrauen des 16. März 2013 setzten die europäischen Regierungen die Zyprioten unter Druck: Das Rettungsprogramm sei nur mit eigener Beteiligung an den Sparanstrengungen zu haben. Der zypriotische Präsident Nikos Anastasiades, der allerdings selbst ein doppeltes Spiel spielte, fasste die Nacht in einer Pressemitteilung zusammen: »In dem außergewöhnlichen Treffen der Eurogruppe standen wir Entscheidungen gegenüber, die schon gefällt waren, und stießen auf vollendete Tatsachen, durch die wir [einigen] Dilemmas ausgesetzt waren.«35 Er bezog sich damit unter anderem auf die vorgesehene Beteiligung von Kleinsparern. Dagegen regte sich breiter Widerstand, das Parlament wies aufgrund großen Protests der Bevölkerung die Zwangsabgabe der Kleinsparer zurück. Doch das Vertrauen war schon zerstört, die Menschen standen Schlange an den Bankschaltern, der Zahlungsverkehr musste eingeschränkt werden.

Keiner der an den Verhandlungen beteiligten Entscheidungsträger wollte Verantwortung für die Beteiligung der Kleinsparer übernehmen. Auch der deutsche Finanzminister Schäuble dementierte, er habe die Kleinspareridee ins Gespräch gebracht. Eine Woche später, am 25. März 2013, fand man sich wieder zu einer nächtlichen Krisensitzung zusammen und einigte sich schließlich: auf die Verschonung der Kleinsparer, die Abwicklung der zweitgrößten Bank und die Belastung der Investoren und größeren Geldvermögen bei den Pleitebanken.

Doch das eigentlich Ärgerliche, das, was man hätte vermeiden müssen, war in den Monaten davor geschehen. Bereits im Juli 2012 hatte die kleine Insel im östlichen Mittelmeer einen Hilfsantrag gestellt, weil die Rettung der übergroßen Banken Laiki und Bank of Cyprus den Staatshaushalt überforderte. Bis dann endlich richtige Verhandlungen aufgenommen wurden, gewährte die zypriotische Zentralbank dem völlig überdimensionierten und pleitebedrohten Bankensektor Notfall-Liquiditätshilfen, sogenannte emergency liquidity assistance (ELA). So konnten, bis es dann Ende März endlich ein Ergebnis gab, die größten Geldgeber der zypriotischen Banken ihr Geld bereits in Sicherheit bringen. Später tauchte dann eine Liste mit 136 Unternehmen auf, die kurz vor den Schicksalsentscheidungen noch Millionen außer Landes gebracht hatten – darunter auch Verwandte des Präsidenten.36 Hätten wir handlungsfähige Strukturen in Europa, dann hätte das Krisenmanagement sofort, im Juli 2012, agiert und diese Geldgeber zur Kasse gebeten. Jetzt aber hat das Fehlen europäischer Entscheidungsstrukturen die Kleinsparer und Kleinunternehmer in Zypern viel gekostet sowie europäische Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die über die Hilfskredite an der Rettung des zypriotischen Bankensektors beteiligt worden sind, ins Risiko genommen. So darf es in Europa nicht weitergehen.

Wir brauchen europäische Institutionen, die in der Krise handlungsfähig sind, dann aber auch demokratisch kontrolliert werden. Wenn jeder Entscheidungsträger auf einen anderen verweisen und seine eigenen Hände in Unwissenheit waschen kann, wenn nirgends mehr klar ist, wer eigentlich Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen hat, dann entsteht aus 28 Demokratien eine Nicht-Demokratie. Das müssen wir verhindern durch einen demokratischen Aufbruch in Europa.

Parlament und Bürgergesellschaft stärken

Auch mir ist natürlich klar, dass man Bankenrettungen tatsächlich nicht auf offener Bühne diskutieren kann. Sonst ist das Geld weg und die Bank schneller hops, als man schauen kann. Und Informationen, die dem Parlament vorbehalten sind, können auch schnell an die Öffentlichkeit gelangen. Aber die Lösung kann nicht darin bestehen, dass eine Troika ohne jegliche parlamentarische Kontrolle agiert. Wenn ständig Kompetenzen und Kontrollmöglichkeiten vom Bundestag wegwandern, aber nicht beim Europäischen Parlament ankommen, entsteht ein Demokratie- und Kontrolldefizit, das inakzeptabel ist. Vielmehr muss die Lösung darin bestehen, dass wir europäische Institutionen schaffen, die dann vom Parlament in Straßburg kontrolliert werden.

Deshalb müssen wir das Europäische Parlament stärken gegenüber dem Rat, der Kommission, der EZB und anderen europäischen Institutionen. Dazu gehört unter anderem das Recht, mit Untersuchungsausschüssen die Arbeit anderer europäischer Institutionen überprüfen zu können – ein Recht, das hier schwächer ausgeprägt ist als beim Bundestag.

Was spricht eigentlich dagegen, das zu tun, was die USA 1913 gemacht haben: Sie haben die zweite Kammer in einen Senat aus direkt gewählten Abgeordneten umgewandelt, nachdem vorher dort, wie derzeit noch in Europa, die Regierungen der Bundesstaaten vertreten waren. Wenn wir die Demokratie in Europa wieder vom Kopf auf die Füße stellen wollen, dann müssen die Regierungen der Mitgliedsstaaten Macht auf europäischer Ebene an die Bürgerinnen und Bürger abgeben. Dann würden die deutschen Vertreter im Rat von uns direkt gewählt. Frau Merkel könnte sich bewerben. Die jetzige intransparente Struktur, die dem Prinzip der Gewaltenteilung widerspricht, weil hier Exekutivvertreter als Legislativorgan Gesetze machen, könnte so überwunden werden.

Ein progressives Europa gibt es aber nicht ohne europäische Bürgergesellschaft! Hier liegt ein wesentliches Problem. Denn ebenso, wie die Regierungen auf europäischer Ebene hauptsächlich im nationalen Interesse handeln, so stehen auch zivilgesellschaftliche Gruppen vor der Herausforderung, ihre Vorschläge und Anliegen zu europäisieren. Über die Grenzen hinweg gibt es zwar sehr ähnliche Interessen großer Teile der Bevölkerungen, diese decken sich aber meist nicht mit den nationalen Zielen, die dann in Brüssel verhandelt werden. Eine stille Mehrheit wird so entmündigt, da sie jeweils im nationalen Kontext zu schwach ist, sich Gehör zu verschaffen, sich auf europäischer Ebene aber nicht mobilisieren kann.

Deswegen ist eine horizontale Vernetzung der Zivilgesellschaft von zentraler Bedeutung! Dazu gehören Gewerkschaften genauso wie Nichtregierungsorganisationen, Kampagnen und Kirchen. Würden sich all diejenigen, die unter der von Europas Eliten verordneten Sparpolitik leiden müssen, gemeinsam Gehör verschaffen, käme es gezwungenermaßen zu einem Politikwechsel. »Wichtig ist, dass Vereinigungen und Verbände grenzüberschreitend kooperieren und sich so Ansätze einer europäischen Bürgergesellschaft entwickeln«,37 fordert seit langem Gesine Schwan, die Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance.

Einen ersten Ansatz machen meine Kollegen aus dem Europaparlament Franziska Brantner und Sven Giegold, die zusammen mit »einer Gruppe von besorgten Europäerinnen und Europäern« im Frühjahr 2013 die Kampagnenplattform Avanti Europe! gründeten. Damit wollen sie der schweigenden Mehrheit eine Stimme geben, explizit europäisch und nicht nationalstaatlich. Es geht ihnen darum, »konstruktive Kritik [zu] üben und bürgergeführten Druck für eine alternative Politik auf[zu]bauen, die Veränderungen mit sich bringt und die tatsächlichen Anliegen der Menschen in Europa widerspiegelt!«38 Im Herbst 2013 folgte die Online-Plattform europeansnow.eu mit dem unmissverständlichen Aufruf »Junge Europäer … vereinigt euch«. Das sind Ansätze, die wachsen müssen!