Mutter wurde am 28. Dezember 1932 geboren. Ihre Eltern waren Émilio und Sarah Kerbel, geborene Finkel. Émilio war Schneider, und die Familie wohnte im Marais, im Zentrum von Paris, das damals ein Viertel war, in dem Menschen aus bescheidenen Verhältnissen wohnten. Es war jener Ort, an dem mittellose, aus Osteuropa eingewanderte Juden begannen, sich im Textilbereich unter ärmlichsten Bedingungen eine Existenz aufzubauen. Doch Émilio schlug einen anderen Weg ein. Der Vorname, der auf den Ausweispapieren stand, stammte aus der Zeit, die Émilio in Brasilien verbracht hatte. Kurz vor der Geburt unserer Mutter hatte er eine Fabrik für Regenmäntel und warme Bekleidung eröffnet, die sehr erfolgreich war. Das waren zwei Dinge, auf die Mutter zeit ihres Lebens stolz war.
Die Mutter unserer Mutter, Oma Sarah, kam 1907 in Warschau zur Welt. Sie war im Alter von zehn Jahren nach Paris gekommen, den Grund dafür kennen wir nicht. Die Geschichte von Juden ist, wohl mehr noch als jene anderer Menschen, von vielen Lücken gekennzeichnet: Manchmal mussten sie fliehen, es kam zu brutalen Todesfällen, oder es »verschwanden« Personen, dann wieder starben Menschen, ohne dass dies angezeigt wurde und ohne dass sie begraben wurden. Vor der Shoah gab es in Russland, Polen, dann in Österreich und ganz besonders in Rumänien Pogrome. Die Bevölkerung, die gegen die »Christusmörder« aufgehetzt worden war, die für tausend Übel wie die Pest, die Cholera, Verbrechen an Kindern, Zauberei und vieles andere verantwortlich gemacht wurden, die man dem »gottesmordenden« Volk unterstellte, attackierte die jüdischen Viertel stunden- oder tagelang. Zuerst zerstörte sie Werkzeuge und Hab und Gut der Bewohner, dann ermordete sie diese — und all dies mit dem Einverständnis der Behörden, die manchmal sogar noch mitmachten. Pogrome hatte es zwar in den früheren Jahrhunderten immer wieder gegeben, doch sie waren seltener gewesen als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Jedes Mal verfolgten die lokalen Behörden das gleiche Ziel: Bekehrung, Ermordung oder Vertreibung der Juden ins Exil. Zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und 1939 flohen 130.000 Juden nach Frankreich. Wir nehmen an, dass Oma Sarah ein Waisenkind war, weil sie im Alter von zehn Jahren allein aus Russland zu einem bereits zuvor emigrierten Onkel fuhr. Niemand hat sie jemals von ihren Eltern sprechen hören. Selbst als sehr viel später ein Bruder und eine Schwester zu ihr stießen, wurde über dieses Thema nicht gesprochen. Offensichtlich versuchten sie, sich nicht zu erinnern. Im Gegensatz zu Opa Émile — sein Vorname wurde nur in der französischen Form benutzt — war die Geschichte von Oma Sarah sehr typisch für die damalige Zeit. Wenn diese Flüchtlinge, die kein Geld hatten und der Landessprache nicht mächtig waren, ankamen, drängten sie sich in den Wohnungen von Mitgliedern ihrer Familie oder Bekannten in den oft alten Gebäuden des Marais zusammen. In allen Etagen gab es Läden und Werkstätten, woher auch die Witze mit den jüdischen Protagonisten stammen, die meist Schneider waren. Sie waren im schmattes*3 tätig, wie man sagte, im Textilgewerbe. Das Wort stammt aus dem Jiddischen, einer Mischung aus Hebräisch und Deutsch, das die Juden aus dem Osten neben ihrer Landessprache sprachen, die manche von ihnen schlecht beherrschten. Unsere Mutter hatte Jiddisch von ihrer Mutter gelernt, es war somit ihre erste Sprache. Man darf sich fragen, ob die Juden bessere Schneider waren, weil sie alle den gleichen Beruf ausübten. Man könnte mit einem anderen Scherz antworten: Es ist leichter, mit einer Nähmaschine zu fliehen, als eine ganze Fabrik unter den Arm zu nehmen — und die aschkenasischen Juden*4 waren vorsichtig geworden.
1917 traf also die kleine Sarah bei einem Bruder ihres Vaters ein, einem gewissen Salomon Finkel, der Schneider war. Sarah half ihm in der Schneiderei und machte all jene Arbeiten, die er nicht erledigen wollte. Angeblich war er ein schroffer Mann. Oma Sarah erzählte uns, dass sie dort nicht glücklich gewesen sei, vielleicht hatten die beiden ein ganz unterschiedliches Temperament, wahrscheinlicher jedoch ist, dass der Onkel alles andere als glücklich war, noch ein Kind durchfüttern zu müssen. Er schaffte es schon so kaum zu überleben. Vielleicht nahm er deshalb nur eines der Kinder bei sich auf, obwohl er wusste, dass das Mädchen noch einen Bruder und eine Schwester hatte. Sarahs Bruder Nathan war zwei Jahre älter als sie, ihre Schwester Lola zwei Jahre jünger. Die beiden stießen 1934 zu ihr, also siebzehn Jahre nach Sarahs Ankunft in Paris.
Sarah gehorchte ihrem Onkel Salomon und wartete auf bessere Zeiten. Sie lernte, »brav« zu sein, wie man damals sagte. Sie wurde zu einer Frau, die sich durchzusetzen verstand und die schwierigsten Situationen immer sanft und taktvoll meisterte, niemals brüsk. Wir, die wir sie als Großmutter kennengelernt hatten, würden sie, wenn wir ihre Persönlichkeit beschreiben müssten, als »Bonbon« bezeichnen. Nach ihrem schwierigen Lebensbeginn führte sie ein glückliches Leben. 1923 trat das Glück in Form ihres zukünftigen Mannes Émile in ihr Leben. Er arbeitete in einer Schneiderei nebenan. 1924 heiratete sie mit siebzehn Jahren in Paris den Mann, der ihr ein schönes Leben bieten würde, ein Leben, wie sie es nie gekannt hatte und das sie sich wohl nie zu erträumen gewagt hätte.
Émile hatte wohl alles, was es brauchte, um ein alleinstehendes junges Mädchen zu beeindrucken, denn er konnte bereits auf eine Vergangenheit zurückblicken wie ein richtiger Held. Er war 27 Jahre alt, also ein »echter Mann«, der Sicherheit und Schutz bot und bereits einen Lebensweg hinter sich hatte, der einer Jugendlichen, die nichts als ein polnisches Ghetto und später dann die Mauern einer schäbigen und kaltherzigen Schneiderei kannte, überaus exotisch erscheinen musste.
Émile war am 31. August 1897 in Wosnessensk in der Ukraine, achtzig Kilometer von Uman entfernt, auf die Welt gekommen. Doch er schlug nicht den normalen Weg der aschkenasischen Juden ein, die oft nach Westeuropa auswanderten, das vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus als günstiges Gebiet galt. Seine Stadt befand sich auch in einer Entfernung von nur 130 Kilometern von der Stadt Odessa — und Odessa hatte einen Hafen voller Schiffe. Odessa war somit ein Ort der Hoffnung und des Exils für viele russische Juden, die von Pogromen vertrieben wurden und vom sozialen Leben ausgeschlossen waren. Von Odessa aus überquerte man das Schwarze Meer und fuhr über den Bosporus, der die beiden Meere verband, ins Mittelmeergebiet. Dort waren die Auswanderer frei, was jedoch relativ ist, weil sie noch ein Land finden mussten, das sie aufnahm. Die Bilder von Booten voller Flüchtlinge kommen uns leider nur allzu bekannt vor, auch wenn die Menschen, die damals eine neue Heimat suchten, weniger zahlreich und ihre Integration in ein westeuropäisches Land leichter war: Es gab Arbeit und einen Arbeitsmarkt, auf dem keine besondere Ausbildung, bestimmte Adressen oder Empfehlungen verlangt wurden. Manche beschlossen, viel weiter weg zu gehen, in die Vereinigten Staaten, wo Yes, we can! schon damals eine bekannte Devise war. Doch Émiles Eltern, Zalkind und Asana Kerbel, hatten einen Onkel — von welcher Seite ist unbekannt —, der in Brasilien reich geworden war. Sie beschlossen also, zu ihm zu fahren. So verließ Émile im Jahr 1912 mit fünfzehn Jahren sein unwirtliches und kaltes Heimatland, um sich mit seinen Eltern und seinem siebenjährigen Bruder Isaac nach Rio aufzumachen. Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr sie von Heimweh geplagt wurden.
Die weiteren Ereignisse kennen wir erst seit dem Tod unserer Mutter. Wir hatten nur eine sehr bruchstückhafte Vorstellung von Opa Émiles Vergangenheit, bis uns Menschen aus aller Welt nach den Medienberichten über das Drama kontaktierten. Man brachte uns Mitgefühl entgegen, das uns in diesen furchtbaren Augenblicken sehr willkommen war, aber wir erkannten auch ein aufrichtiges Bedürfnis, uns alles zu geben, was möglich war, um uns zu trösten und unsere Fassung wiederzuerlangen, nachdem man gerade unsere Mutter ermordet hatte. So kontaktierte mich eine Brasilianerin, die über die Presse von den Ursprüngen meiner Mutter gehört hatte. Sie bot an, Nachforschungen anzustellen, was ich natürlich gerne annahm. So erfuhren wir, was unsere Mutter selbst niemals über ihre Großeltern väterlicherseits gewusst hatte. Sie hätte sich so gefreut …
Es war uns einzig und allein bekannt, dass Opa Émile mit siebzehn Jahren seine Familie in Brasilien verließ, weil seine Mutter erneut geheiratet hatte und er das nicht ertrug. Erst heute wissen wir, warum seine Mutter wieder geheiratet hatte. Scheidungen gab es damals kaum. Die Sache wurde klarer, als wir erfuhren, dass Émile sehr unter dem Tod seines Vaters Zalkind im Jahr 1915, also zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Brasilien, gelitten hatte. Die Frau, der wir diese Information verdanken, fand sein Grab auf einem Friedhof in Rio wieder und schickte uns ein Foto davon. Das Geburtsjahr ist nicht vermerkt, dafür jedoch das Sterbejahr. Wahrscheinlich heiratete Émiles Mutter nach dem Ableben ihres ersten Mannes wieder. Damals war Émile achtzehn Jahre alt und machte sich nach Frankreich auf, in dem gerade Krieg herrschte. Offensichtlich blieb er jedoch nicht lange dort, denn im Laufe der darauffolgenden Jahre finden sich Spuren von ihm in Brasilien, sowohl 1920 als auch viel später. Er dürfte oft zwischen Rio und Paris hin- und hergereist sein, was damals selten war. Im Jahr 1923, immerhin elf Jahre nach seiner Ankunft in Brasilien, erhielt er die brasilianische Staatsbürgerschaft. Klarerweise kehrte er oft in dieses Land zurück, weil er neben seiner Mutter auch noch seinen Bruder Isaac dort hatte. 1924 lernte Émile seine Frau in Paris kennen. Auch Sarah sollte, sicherlich aufgrund ihrer Heirat mit Émile, die brasilianische Staatsbürgerschaft erhalten, obwohl sie meines Wissens nie mit ihm in diesem Land war. Unsere begeisterte Forscherin teilte uns mit, dass Émile das letzte Mal im Jahr 1938 in Brasilien war, was heißt, dass er auch noch während der Zeit, als er schon mit Oma Sarah verheiratet war, dorthin gefahren sein muss — vielleicht wegen seiner Regenmäntel, obwohl das Wetter in Brasilien keineswegs Regenmäntel erfordert.
Unsere Mutter hatte uns nie von den Reisen ihres Vaters erzählt, aber er stellte sie auch bereits ein, als sie erst sechs Jahre alt war. Wir wissen auch nicht, ob Opa Émile sich wieder mit seiner Mutter Osna, der Kurzform von Osana, versöhnt hatte, doch unsere Kontaktperson vor Ort fand ihr Grab. Demzufolge war sie eine gebürtige Acnicz Balaban. Sie starb am 25. Juli 1930 in Rio und ist auf einem anderen Friedhof begraben als ihr zuvor verstorbener Mann.
Wir werden es nie mehr schaffen, die Ursprünge der Mutter unserer Mutter so zurückzuverfolgen, wie wir das im Falle ihres Vaters taten. Oma Sarah trug den Familiennamen Finkel, aber wer war ihre Mutter? Ein kleines Mädchen auf der Flucht hat keine Papiere. Personenregister gab es damals kaum, und die Behörden in Osteuropa betrachteten die Juden ohnehin nicht als vollwertige Bürgerinnen und Bürger.
Von Émile weiß man, dass er auch andere Berufe als den eines Schneiders ausübte. Das muss zwischen 1924 und 1932 gewesen sein, denn als Mutter 1932 auf die Welt kam, gab es die Regenmantelfabrik bereits. Unter Umständen war er Holzfäller oder Arbeiter im Kautschukbereich oder vielleicht etwas ganz anderes — damals musste man jede Arbeit nehmen, die man bekam, weil es kaum staatliche Unterstützung gab und man sich sein Brot verdienen musste. Schließlich mietete unser Großvater in der ersten Etage auf der Nummer 71 der Rue d’Aboukir ein Lokal, das Laden und Werkstatt zugleich war. Die Geschäfte liefen gut an, weil er mutig war und überlegt handelte. Er kam zwar ohne Geld an, und sein weiteres Leben gab ihm nicht die Möglichkeit, seine Studien fortzusetzen, aber er hatte eine gute Grundausbildung, denn sein Vater war der Direktor der Schule in Wosnessensk gewesen. Sowohl Oma Sarah als auch Mutter beschrieben ihn voller Stolz als einen klugen Mann, der seine Aufgabe als Familienvorstand aufs Vortrefflichste erfüllte und sehr gut für seine Frau und seine Kinder sorgte: Émile war ein Citoyen geworden.
Der Bruder unserer Mutter, Jacques, kam am 23. Januar 1927, fünf Jahre vor Mutter, auf die Welt — und das war dann schon die ganze Nachkommenschaft. Zwei Kinder waren sehr wenig für eine typische jüdische Familie der damaligen Zeit, aber unsere Großeltern mütterlicherseits waren keine typische jüdische Familie. Sie waren fortschrittlich, modern, und ihre religiöse Praxis war sehr verwässert, weil sie nicht direkt vom Ghetto zum Pariser Pletzl gekommen waren. Die Juden teilten eine Kultur und die gleichen (schlechten) Erinnerungen, die sie dazu bewogen, sich an einem Ort zusammenzuscharen, sodass man noch heute jene Ecke des Marais rund um die Rue des Rosiers bis zu Sentier das Pletzl nennt, was auf Jiddisch kleiner Platz oder das Dorf heißt. Das religiöse Leben war bei den meisten Einwanderern nicht sehr ausgeprägt. Man feierte die großen Feste, aber die meisten waren in ritueller Hinsicht nicht strenggläubig. Die Juden aus Osteuropa hatten lange um ihr Überleben kämpfen müssen, bevor sie in Paris ankamen, und nicht wirklich die Möglichkeit gehabt, die unzähligen Vorschriften der rabbinischen Texte einzuhalten, wie zum Beispiel, dass man zwei Arten von Geschirr brauchte, eines für das Fleisch und eines für die Milch, dass man unterschiedliche Segenssprüche für jede Art von Lebensmitteln zu sprechen hatte und andere Details, die in Zeiten von Pogromen nicht das sind, was die Menschen am meisten beschäftigt. Die oberste Notwendigkeit — noch vor jeder religiösen Vorschrift — besteht darin, zu überleben. Die Tatsache, dass mein Großvater Émile besonders in Brasilien unter Christen gelebt und mit vielen Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen verkehrt hatte, tat das ihre dazu, dass meine Großeltern mütterlicherseits es mit der Religion nicht mehr so genau nahmen. Unsere Mutter war nicht zufällig durch und durch Kosmopolitin — diese Eigenschaft war ihr in die Wiege gelegt worden.
Selbst wenn die Erinnerungen an unsere Großeltern nur auf die 1950er Jahre, also auf die Zeit nach der Shoah, zurückgehen, so war die religiöse Praxis seit der Kindheit unserer Mutter unverändert geblieben: Als Kinder feierten wir Jom Kippur und das Pessachmahl. Aber die Kerbels, die Familie unserer Mutter, die in der Synagogue Tournelles ihren Platz hatten, gingen nur selten dorthin und hielten den Sabbat nicht ein, zündeten also am Freitagabend nicht die Kerzen an und sprachen nicht den Kiddusch, den Segensspruch über dem Wein. Das Essen war insofern koscher, als man in den Läden des Viertels einkaufte, wo das Fleisch ganz sicher koscher war. Schweinefleisch wurde nicht gegessen, denn dagegen hatte man seit Jahrhunderten Vorbehalte. Aber manche Geschäfte in jüdischer Hand waren nicht koscher, wie zum Beispiel das berühmte Restaurant Goldenberg, das am Samstag, dem Tag des Sabbats, bis auf den letzten Platz besetzt war. Opa Émile liebte gutes Essen und Wein. Wenn die Familie nicht zu Hause war, aßen sie alles, selbst Austern, mit Ausnahme von Schweinefleisch natürlich. Jedenfalls glaube ich nicht, dass es damals viele Juden gab, die überprüft hätten, ob auf ihren Lebensmitteln der Stempel des Konsistoriums prangte, mit dem koscheres Essen gekennzeichnet wurde. Auf den wenigen Fotos, die meine Mutter aus ihrer Kindheit hatte, habe ich nie jemanden gesehen, der eine religiöse Funktion bekleidet hätte. Die Familie hatte einige Gebräuche beibehalten, glaubte aber einfach nicht an Gott. Das, was an Oma Sarah jüdisch — und typisch Oma war —, war die Tatsache, dass sie uns mit aschkenasischen Köstlichkeiten verwöhnte. Unter den Rezepten, die unsere Mutter aus ihrer Kindheit mitgebracht hatte, waren Gefillte Fisch (gefüllter Karpfen), Kneidlersuppe (Hühnersuppe mit Matzeknödeln) und Lekech (Kuchen auf der Grundlage von Kartoffelstärkemehl mit etwas Zitrone). Außerdem liebte unsere Mutter fette Fische, Hering und Lachs, die Köstlichkeiten ihrer — und in der Folge auch unserer — Kindheit.
Émile war nicht nur der Vater unserer Mutter, er war auch ihr Held. Er liebte sie heiß, mehr als seinen Sohn Jacques, dem das nicht verborgen bleiben konnte und der diese Tatsache mit einer gewissen Bitterkeit kommentierte. Mireille war die kleine Prinzessin des Hauses. Ihr Vater schenkte ihr schöne Spielzeuge, insbesondere Puppen, was damals selten war. Mit den Auswüchsen der späteren Konsumgesellschaft hatte das allerdings nichts zu tun. Wenn man damals drei Puppen, zwei Bären, Wasserfarben und schönes Papier zum Malen hatte, dann war das bereits ein Luxus, eine besondere Stellung, die eine ganze Gruppe von Freundinnen anzog. Als »richtiges Mädchen« zog Mutter die Gesellschaft anderer Mädchen jener ihres Bruders vor, mit dem sie nur selten spielte. Schon damals war sie gern von vielen Menschen umgeben und entwickelte dabei eine Fröhlichkeit und einen Sinn für gemeinsame Unternehmungen, die ihr nie verloren gingen. Wenn das Wetter es erlaubte, spielte man zu Hause im Hof oder in der Schule »Himmel und Hölle«, »Mauerball« oder »Springschnurspringen«. Mutter war sehr fröhlich und brav — kein Wunder, ihr Vater verweigerte ihr nichts! Die beiden kuschelten viel miteinander, und angeblich konnte man sie mit sechzehn Jahren noch auf seinen Knien sitzend vorfinden. Mutter erzählte uns, dass sie es liebte, von ihrem Vater beschützt zu werden, so, wie sie später danach strebte und es liebte, von Männern beschützt zu werden, die dies ihrer Ansicht nach jedoch nie so gut schafften wie ihr Vater.
Émile wurde nach und nach zu einem richtigen Citoyen, er schaffte es sogar, für seine Familie eine jener wenigen Pariser Wohnungen ausfindig zu machen, in der es ein Badezimmer und eine Badewanne gab! Eine derart privilegierte Kindheit kann zwei Arten von Menschen hervorbringen: unverbesserliche und hochmütige Egoisten oder Menschen, die das Leben immer durch die rosarote Brille sehen. Unsere Mutter gehörte zur zweiten Sorte. In ihren Augen waren alle nett. Die Welt war gut — wie ihr Papa und ihre Mama. In gewisser Hinsicht wurde sie nie ganz erwachsen.
Im Jahr 1934 wurde die Familie größer, und es kamen Cousins dazu. Émile stellte sich als Bürge für die Immigration von Nathan und Lola zu Verfügung, wie aus ihrer Unterbringungsbestätigung hervorgeht. Bereits damals musste man, wenn man in das Land einreisen wollte, beweisen, dass man eine Wohnung und einen Arbeitsplatz hatte. Nathan arbeitete bei Émile. Mutter genoss die Gegenwart eines Onkels und einer Tante, aber vor allem der Cousins und Cousinen, allen voran die Gesellschaft Huguettes, Nathans Tochter, die zwei Jahre jünger war als sie. Huguette war 1934 geboren, Mutter 1932. Sie sollte bis zum letzten Tag ihre Vertraute bleiben. Tragischerweise war sie es, die uns, da sie in der Nachbarschaft wohnte, an diesem schrecklichen 23. März 2018 anrief, weil sie den Brand sah. 1937 bekam Tante Lola Zwillinge, Nathan und Jacques. Sonntags traf sich die ganze Familie bei Émile und Sarah, die einen höheren Lebensstandard hatten. Huguette war die Cousine, die unserer Mutter am nächsten stand. Sie führten ein Leben wie alle Kinder auf der Welt, abgesehen von der Tatsache, dass sie keine Großeltern hatten. Mutter hatte nie welche gehabt: Väterlicherseits waren sie verstorben und in Brasilien begraben, mütterlicherseits war da die Leere.
Blieb noch Émiles Bruder, Onkel Isaac, an den Mutter sich erinnerte, weil er sporadisch in Frankreich auftauchte. Er war ein geheimnisvoller, revolutionärer Kommunist, wie man munkelte, weit gereist, jemand, der ein kleines Mädchen schwer beeindruckte. Unsere Mutter erzählte uns, dass der nicht verheiratete Onkel Isaac beschlossen hatte, das Prinzip der Tsedaka wortwörtlich in seinem Leben umzusetzen (Wiederherstellung der Gerechtigkeit, das Äquivalent zu Barmherzigkeit). So hatte Émile Isaac eines Tages einen im eigenen Haus hergestellten Regenmantel gegeben und war erstaunt, ihn einige Stunden später vollkommen durchnässt und ohne Regenmantel wiederzusehen. Onkel Isaac erklärte, dass er ihn verschenkt habe — an jemanden, der keinen Regenmantel besaß.
Offensichtlich war unsere Mutter sehr verträumt, sie fühlte sich sicher und geliebt in ihrer Familie. Niemals verlor sie ihre romantische Ader und die Freude an außerordentlichen Erlebnissen. Sie wuchs in diesem glücklichen, wohlhabenden Haus in der Rue de Turenne 41 auf, umgeben von Liebe und verwöhnt mit gutem Essen. Auch wir sollten diesen Ort später kennenlernen. Und plötzlich war dann alles vorbei, das Familienleben, der Wohlstand, die Ruhe, die Freundinnen aus dem Viertel, die Schule — der Krieg hatte begonnen.
Bis zum Krieg wusste unsere Mutter nicht, dass sie Jüdin war.
Wie hätte sie es wissen sollen? Zwischen ihr und den anderen kleinen Mädchen ihrer Schule wurden zu Hause keinerlei Unterschiede gemacht. Damals gab es auch für christliche Kinder zu Weihnachten weder einen Weihnachtsbaum noch Berge von Geschenken. Bei ihr gab es theoretisch den Jom-Kippur-Tag im September, aber ich bin nicht überzeugt, dass man fastete. Bei Opa Émile bin ich mir fast sicher, dass er nicht fastete, und Kinder unter dreizehn Jahren, dem Alter der religiösen Reife, sind vom Fasten befreit. Das Pessachmahl bei unseren Großeltern bestand aus einem großen Ostermahl, das die Christen praktisch zur gleichen Zeit feiern, weil das Fest im gemeinsamen Text der Bibel wurzelt und die jüdische Thora das christliche Alte Testament ist. Unsere Mutter stellte sich keinerlei Fragen zu ihrer »besonderen« Identität. Daher war sie bass erstaunt, als sie eines Tages als »schmutzige Jüdin« beschimpft wurde. Sie bekam einen Wutanfall und verprügelte das Mädchen. Ob unsere Mutter in ihrer jüdischen Identität gekränkt war? Keineswegs! Als die Direktorin sie aufforderte, ihr unrechtmäßiges Verhalten zu erklären, sagte unsere Mutter: »Sie hat gesagt, dass ich schmutzig sei!« Das Wort »Jüdin« hatte sie noch nie gehört. Das Mädchen korrigierte sie und wiederholte die Worte, die sie gesagt — und sicherlich von ihren Eltern — gehört hatte. Da verstand die Direktorin. Meine Großeltern machten keine Affäre aus der Sache. Eine kleine Beschimpfung war nichts im Vergleich zu den schrecklichen Ausschreitungen, vor denen sie geflohen waren. Für Juden war Frankreich ein Paradies. Es gab sogar den Ausdruck »glücklich wie ein Jude in Frankreich«, weil Napoleon unter dem Einfluss der Aufklärung Juden das volle Bürgerrecht verliehen hatte.
Im Juni 1940 meldete Opa Émile, wahrscheinlich nach dem zwischen Pétain und dem Dritten Reich unterzeichneten Waffenstillstand, an die Botschaft von Brasilien, dass die Juden selbst in Frankreich Grund zur Sorge hätten. Er befürchtete, dass die siegreichen Nazis ihre antisemitische Obsession auf Frankreich ausweiten und die Juden in Etappen vollständig ausrotten würden. Opa Émile und Oma Sarah beschlossen daher, ihre Kinder Jacques und Mireille vorsichtshalber aufs Land zu einer Kinderfrau zu schicken, die allerdings noch nicht einmal dreißig Jahre alt war. Das war ein großer Fehler, denn Jacques war dreizehn Jahre alt und frühreif, sodass die Kinderfrau letzten Endes keine Kinder mehr hütete … Jacques war bis über beide Ohren verliebt, verlor den Kopf, die Kinderfrau ebenso, und Mireille war ratlos. Also lüftete sie dieses Geheimnis. Die beiden »Kinder« wurden schleunigst wieder nach Paris gebracht, und Jacques wurden die Leviten gelesen. Es war angeblich der größte Kummer seines Lebens, eine Staatsaffäre, mit der Oma Sarah mehr schlecht als recht umging. Sie hatte schwerwiegendere Dinge, die sie in Anspruch nahmen. Ab Oktober 1940 mussten sich Juden in der besetzten Zone registrieren lassen.
Die meisten Juden meldeten sich tatsächlich bei der Präfektur, weil sie unbegrenztes Vertrauen in die Republik Frankreich hatten. Die erste Aufgabe eines Juden ist es, wie in den Gebeten in der Synagoge definiert wird, das Gastgeberland zu ehren. Das »Gebet für Frankreich« (in diesem Fall) wird oft am Samstagmorgen beim Sabbatgebet gesprochen. Darin heißt es insbesondere: »Blicke mit Wohlwollen aus Deiner heiligen Wohnstätte auf unser Land, die französische Republik, und segne das französische Volk. Möge Frankreich ein glückliches und blühendes Land sein. Es sei stark und groß durch Zusammenhalt und Einigkeit. Mögen die Strahlen Deines Lichtes jene erleuchten, die das Schicksal des Staates in den Händen halten und für Ordnung und Gerechtigkeit sorgen. Möge Frankreich ein dauerhafter Frieden zuteilwerden und es seinen glorreichen Platz unter den Nationen behalten. Möge Frankreich seiner edlen Tradition treu bleiben und immer Recht und Freiheit verteidigen.«
Die wichtigste Achtung gegenüber einem Land ist die Einhaltung seiner Gesetze, eine einfache Frage der Moral und nicht der Religion oder des Glaubens. Den Juden lag es am Herzen, Frankreich als Zeichen ihrer Dankbarkeit gegenüber dem Gastgeberland zu dienen, und zwar so sehr, dass sich viele freiwillig als Soldaten meldeten. 1914 zahlten sie einen hohen Blutzoll. Frankreich ging siegreich aus dem Krieg hervor, doch derjenige, der für diesen Sieg verantwortlich war, war Pétain. Er war ein Held. Somit gab es zu Beginn des Krieges ebenso viele Pétain-Anhänger unter den Juden wie unter den restlichen Franzosen, die deshalb jedoch keineswegs alle zu Kollaborateuren wurden. Sie wussten nicht, wie es weitergehen würde. Opa Émile war jedoch besser informiert als die Durchschnittsfranzosen, ihm war klar, dass der Wind sich gedreht hatte, und zwar schnell: Am 3. Oktober 1940 erklärte die Regierung in einer Verlautbarung zum Status der Juden, dass diese nicht mehr als Richter, Polizisten, Lehrer oder Künstler arbeiten durften. Am 18. Oktober musste man melden, wenn man ein jüdisches Unternehmen hatte. Am 15. Dezember 1940 musste man ein jüdisches Unternehmen durch jemanden leiten lassen, der kein Jude war, und an der Auslage ein Schild anbringen, auf dem die Übergabe der Firmenleitung angezeigt wurde. Im Juni 1941 wurde das eingeleitet, was die Nazis als »Wirtschaftsarisierung« bezeichneten. Anders gesagt mussten jüdische Firmen bei sonstiger Strafe aufgelöst werden und die entsprechenden Beträge auf blockierte Konten überwiesen werden. Da die Juden, die im darauffolgenden Jahr deportiert wurden, nie wieder zurückkehren würden, war es schlicht und ergreifend zynisch und sadistisch, diese Art von falscher Ehrlichkeit an den Tag zu legen. Opa Émile kam der ganzen Sache zuvor und löste sein Geschäft auf, bevor seine Güter konfisziert wurden. Den Großteil des Geldes überwies er auf eine portugiesische Bank und vergrub den Rest — Aktien und Banknoten — unter einem Haufen von Kohlen in seinem Keller. Die Diamanten wurden in der Puppe, von der unsere Mutter sich nie trennte, versteckt und eingenäht. Er witterte, dass die Familie unter Umständen schnell fliehen würde müssen und dass dieser tragbare Tresor eines Tages sehr nützlich sein würde. Diese armselige Puppe brachte die ganze Familie durch den Krieg: Jedes Mal, wenn man Geld brauchte, wurde ein Diamant verkauft. Diese Geschichte wird noch heute in der Familie als Beispiel für eine Lektion, die man sich merken muss, erzählt: Man muss immer weggehen können, auf der Stelle, mit Dingen, die wenig Platz einnehmen.
Émile beschloss, mit seinem vierzehnjährigen Sohn Jacques auszukundschaften, wie es im Süden Frankreichs, der nicht besetzten Zone, aussah. Das Ziel bestand darin, die ganze Familie nach Lissabon zu bringen, wo es angeblich Fluchtwege ins außereuropäische Exil gab. Man kann ohne zu übertreiben behaupten, dass Zehntausende Juden Frankreich durchquerten, denn 1939 lebten 300.000 französische oder nichtfranzösische Juden in Frankreich. 25 Prozent wurden in Konzentrationslager deportiert, wo sie größtenteils starben, doch 75 Prozent gelang es, Frankreich zu verlassen oder sich zu verstecken. In Polen, wo drei Millionen Juden lebten, oder auch in Deutschland sollten nur zehn Prozent der Juden überleben. Das heißt, die Franzosen waren weniger antisemitisch als das Regime, und die Bevölkerung half den Behörden kaum. Allerdings reichte es, wenn ein antisemitischer Franzose in einem Gebäude oder einem Dorf lebte. Das bedeutete den Tod für jeden einzelnen Juden, seine Familie und für die jüdischen Nachbarn. Es war also sehr viel gefährlicher, sich in Paris zu verstecken, wo es die meisten Deportationen gab, nicht nur, weil die meisten Juden dort wohnten, sondern auch, weil alle ihre Nachbarn kannten, die Bevölkerungsdichte sehr hoch war und es somit potenziell viele Denunzianten gab. Da Émile jedoch nicht wusste, wo er hinfahren würde, und auch nicht, ob er die Demarkationslinie überschreiten würde können, ließ er Oma Sarah mit Mutter lieber in Paris — und es war die richtige Entscheidung.
Hatte unsere Großmutter Angst, allein mit ihrer neunjährigen Tochter in der Rue de Turenne 41 zurückzubleiben? Wir wissen es nicht. Man erzählte uns nichts über die schlimmsten Augenblicke einer schlimmen Zeit. Unsere Mutter sprach ein wenig darüber, weil sie nicht allzu sehr darunter gelitten hatte, unser Vater hingegen nie, von den Großeltern ganz zu schweigen. Wussten Oma Sarah und unsere Mutter, was aus Émile und Jacques geworden war? Auch das wissen wir nicht. Was uns heute bekannt ist, erfuhren wir selbst erst nach dem Ableben unserer Mutter und Recherchen in lokalen Archiven. Mutter hatte uns nur gesagt, dass ihr Vater in einem Lager in Gürs im Département Pyrénées-Atlantiques festgehalten wurde, während ihr Bruder sich in einem Hotel aufhielt. Wir hatten keine Ahnung, wie Émiles Weg weiterging — und unsere Mutter sicherlich auch nicht.
Am 30. September 1941 hatten die beiden illegal die Demarkationslinie überschritten, um in den Süden zu kommen. Émile hatte den jugendlichen Jacques mit so viel Geld im Hotel Victoria in Pau zurückgelassen, dass er einige Zeit damit durchkommen würde. Er selbst folgte seinem Weg in den Süden weiter, um einen Fluchtweg für alle zu finden. Doch am 13. Oktober 1941 wurde er im Lager von Gürs in den Pyrénées-Atlantiques interniert, weil er illegal in die freie Zone eingereist war. Er wurde als »ausländischer Jude« klassifiziert, was zwar nicht gut, aber noch nicht gleichbedeutend mit Deportation und Tod war. Die »Endlösung« existierte noch nicht, jedenfalls nicht in Frankreich, der »freien« Zone, wo die Situation noch ungewiss war. Das Lager Gürs, das sich unweit der spanischen Grenze befand, war zuerst eine Anlaufstelle für spanische Republikaner gewesen, die vor dem Franco-Regime flohen, und diente danach als Internierungslager für Juden, aber auch für Nichtjuden, die sich illegal im Land aufhielten. Die Lebensbedingungen waren sehr hart. Tausend Juden starben infolge der schlechten hygienischen Bedingungen und der Unterernährung vor Ort. Da jede billige Arbeitskraft willkommen war, wurden die Gefangenen auf verschiedene Landwirtschaften in der Umgebung verteilt, wenn sie sich irgendwie dafür eigneten. Von der Produktion von Regenmänteln bis zu einer Landwirtschaft ist es zwar ein weiter Schritt, aber Émile legte offensichtlich falsche Papiere eines Arbeitgebers vor. Er gehörte zur Gruppe der ausländischen Arbeiter und wurde Ende 1941 als Landarbeiter nach Izeust beordert. Wussten sein Sohn Jacques und unsere Mutter, wo er sich befand? Wir haben keine Ahnung. Doch im März 1942 wurde der arme Opa Émile aufgedeckt und zu vierzig Tagen Gefängnis in Pau verurteilt. Zusammen mit zwei jüdischen Bekannten, die die gleiche Finte probiert hatten, schickte man ihn direkt nach Gürs zurück. Im letzten Augenblick, kurz vor jenem Zeitpunkt, zu dem eine Internierung in Gürs fast automatisch zu einer Abschiebung nach Drancy und einem Abtransport zur Vergasung führte, gelang es Opa Émile, seine brasilianische Staatsbürgerschaft geltend zu machen, auf die er sich sicherlich bereits seit Monaten berief. Am 19. Juni 1942 wurde er nach Canfranc, die andere Seite der französisch-spanischen Grenze, gebracht. Man kann sich leicht vorstellen, wie erleichtert er war. Doch nun musste er die Familie zu sich holen. Seine Tochter und seine Frau saßen immer noch in Paris fest, wo die Dinge eine sehr schlechte Wendung nahmen, ganz besonders für Juden.
Im Juni 1942 trat ein Gesetz in Kraft, das Juden verpflichtete, in der besetzten Zone den gelben Stern zu tragen — in Paris ab dem Alter von sechs Jahren. Wurde unsere Mutter vielleicht zu diesem und nicht einem früheren Zeitpunkt als »schmutzige Jüdin« beschimpft, weil sie den Stern trug? Wahrscheinlich. Paradoxerweise rettete diese Abstempelung als Jüdinnen den beiden das Leben, denn sie hatten das Glück, auf der Straße auf die richtige Person zu treffen.
Man schrieb Juli 1942. Die beiden machten in der Rue des Francs-Bourgeois, einer benachbarten Straße, ihre Einkäufe, als eine Unbekannte auf sie zustürzte und rief: »Eine Razzia! Gehen Sie nicht nach Hause zurück!« Sie leisteten dem Rat Folge und gingen nicht mehr heim. Sie verdankten ihr Überleben dieser spontanen Entscheidung, wegzugehen, ohne sich nur noch ein einziges Mal umzudrehen. Die beiden größten Razzien, die am 16. und 17. Juli 1942 stattfanden und im Zuge derer 13.000 Juden in Paris im Vélodrome d’Hiver zusammengetrieben und dann nach Drancy gebracht wurden, hatten mit dem Morgengrauen begonnen und dauerten den ganzen Tag lang an. Dabei wurden Türen aufgebrochen, die Wohnungen auf den Kopf gestellt, niemand konnte entrinnen. Die meisten Juden hatten sich, wie es der französische Staat verlangt hatte, registrieren lassen, und die Denunziationen besorgten an diesen beiden oder den darauffolgenden Tagen den Rest. Oma Sarah und Mutter folgten dem Rat und kehrten nicht mehr nach Hause zurück, was eine gute Entscheidung war.
Erst nach dem Ableben unserer Mutter interessierten wir uns dafür, was mit den Nachbarn in der Rue de Turenne 41 passiert war. Auf einer Karte, auf der jedes Gebäude und alle in Paris deportierten jüdischen Kinder erfasst sind — eine unglaubliche Arbeit, die von Historikern unter der Leitung von Serge Klarsfeld*5 durchgeführt wurde —, fand ich Folgendes:
Deportierte Kinder:
Adresse: 41, RUE DE TURENNE
Anzahl der Kinder: 5
Liste der Kinder:
CHAREZYK, HUGUETTE — 11 Jahre, geboren in Paris.
CHAREZYK, MARCEL — 16 Jahre, geboren in Paris.
CHAREZYK, RAYMOND — 17 Jahre, geboren in Paris.
MOSSAK, DENISE — 9 Jahre, geboren in Paris.
MOSSAK, MADELEINE — 7 Jahre, geboren in Paris.
Die fünf Kinder und Jugendlichen wurden nach Auschwitz deportiert. Alle sind dort gestorben. Eine winzige Anzahl an Minderjährigen, die deportiert wurden, kehrte lebend zurück. Kinder und Jugendliche waren die erste Zielscheibe des Naziregimes und der Vichy-Politik, denn die Deutschen fürchteten die spätere Rache und verfolgten alle bis zum Letzten. Denise und Madeleine Mossak wurden am 19. August mit dem Konvoi n° 21 abgeführt. Sie waren einige Tage zuvor von ihrer Mutter Chaja getrennt worden, die mit dem vorigen Konvoi n° 14 am 3. August 1942 deportiert worden war. Ihr Mann Moszek war bereits mit dem Konvoi n° 5 am 18. Juni 1942 geholt worden. Wenn man sich die Daten der Deportation ansieht, dann wurden die Mutter und ihre beiden Mädchen sicherlich bei der berühmt-berüchtigten Razzia des Vélodrome d’Hiver an ebenjenem Tag festgenommen, an dem Oma Sarah und Mutter ihr Heim verließen, um erst Jahre später wieder zurückzukehren. Sie taten gut daran, denn die drei Kinder Charezyk wurden bei einer weiteren Razzia festgenommen und mit dem Konvoi n° 60 am 7. August 1943 mit einem Mann von 62 Jahren — ihrem Vater oder Großvater — deportiert. So sah die Lage nach der Abfahrt von Mutter in der Rue de Turenne 41 aus! Drei der Mädchen waren ungefähr in ihrem Alter. Man kann sich vorstellen, dass sie die gleiche Schule besucht und zusammen mit meiner Mutter im Hof gespielt hatten. Leider können wir Mutter nicht mehr fragen, ob sie sich an die Charezyks oder die kleinen Mossaks erinnerte. Sie sprach nie darüber, weder mit uns noch mit ihrer Cousine Huguette, und auch nicht mit ihren Freundinnen, die wir nach ihrem Ableben dazu befragten.
Als Mutter noch am Leben war, interessierte uns diese schmerzliche Vergangenheit nicht allzu sehr. Unsere Mutter wollte nicht mit uns darüber sprechen und unser Vater auch nicht. Sie begingen die großen religiösen Feste mit uns — Beschneidung, Bar-Mizwa, den Übertritt ins Erwachsenenalter und einige festliche Essen. Das Judentum in unserer Familie war auf Feste und kulturelle Ereignisse beschränkt und kein Thema historischer Nachforschungen. Erst spät begann unsere Mutter sich im Fernsehen Dokumentarfilme über den Krieg anzusehen — niemals jedoch zu Lebzeiten unseres Vaters. Er litt am Trauma der Überlebenden und floh vor Bildern. Auch wir konnten sie uns nie ansehen. Sich nicht für »das« zu interessieren, hieß, den Schmerz der Vergangenheit ruhen zu lassen.
Mutter floh also mit unserer Großmutter in die freie Zone. Sie spielten Verstecken mit der Besatzungsmacht, mit den französischen Behörden und eifrigen Franzosen, die gerne die geltenden Gesetze anwenden wollten. Die beiden versuchten, bis zur Demarkationslinie vorzudringen. Unsere Mutter drückte ihre kleine Stoffpuppe in ihre Arme, ohne die sie natürlich auch nicht einkaufen gegangen war. Unsere Mutter wusste während des Krieges nie, warum ihre Puppe die ganze Zeit der Flucht über regelmäßig »operiert« wurde. Das Versteck war gut gewählt. Man konfisziert die Eigentümer eines Erwachsenen, die Puppe eines Kindes jedoch kaum, zumindest nicht, solange es nicht zu einer Festnahme kommt. An der Demarkationslinie wurden die beiden tatsächlich angehalten: Oma Sarah schwenkte ihren brasilianischen Pass. Die Annahme, dass eine Brasilianerin Jüdin sein könnte, auch wenn es brasilianische Juden geben mochte, und dass sie, noch dazu mitten im Krieg, mit ihrer kleinen Tochter durch Frankreich fahren könnte, schien offensichtlich unvorstellbar. Und so schafften es die beiden über die Grenze. Oma Sarah wollte in Montauban nördlich von Toulouse Zwischenstation machen, denn ihr Bruder Nathan, der selbst in letzter Minute gewarnt worden war, hatte dort mit seiner Familie einen Zufluchtsort gefunden. Ihre Schwester Lola versteckte sich mit ihrer Familie in Issy-les-Moulineaux und überlebte so den Krieg. Wir wissen nicht, ob Oma Sarah bereits bekannt war, dass ihr Mann sich in der Nähe der spanischen Grenze aufhielt, ob sie wusste, wo ihr Sohn sich befand, und ob sie sich irgendwo verabredet hatten.
Huguette war zehn Jahre alt, als auf einmal ihre geliebte Cousine mit Oma Sarah im Garten des kleinen Häuschens stand, in dem sie seit kurzem mit ihren Eltern Nathan und Sonia und ihrem kleinen Bruder Jeannot, der damals erst neun Monate alt war, wohnte. Es existiert noch ein Foto von ihm, wie er glücklich in seinem Kinderwagen mitten in der Wiese stand. Es war Sommer. Nathan hatte diese Adresse wenige Tage vor den Razzien von einem Schlepper bekommen. Das Dorf schien sicher, es lag mitten am Land, sieben Kilometer von Montauban entfernt, und war noch in der freien Zone. Huguette schaffte es nie, sich an den Namen des Dorfes zu erinnern. Diese Gedächtnislücke war ganz bestimmt durch das traumatische Ereignis verursacht worden, das ihre Familie an diesem Ort ereilen sollte. Oma Sarah und unsere Mutter scheinen mehrere Wochen nach ihrer überstürzten Abreise aus Paris dort angekommen zu sein, wahrscheinlich im September. Hatten sie wirklich zwei Monate gebraucht, um bis nach Südfrankreich zu gelangen? Hatten Schwierigkeiten mit den Transportmitteln oder Ausweichmanöver vor Kontrollen solche Verzögerungen verursacht? Huguette und Mireille, die noch relativ unbesorgt waren, verbrachten eine schöne Zeit miteinander, bevor Sarah mit ihrer Tochter zur spanischen Grenze aufbrach. Oma Sarah konnte, als sie 1942 abreiste, nicht wissen, dass sie ihren Bruder Nathan nie mehr wiedersehen würde. Sie sprach nie auch nur ein einziges Wort über dieses Thema. Unsere Cousine Huguette erzählte uns, welches Drama sich einige Zeit nach Oma Sarahs Abreise abgespielt hatte.
Damals musste man die richtige Entscheidung treffen. Für Mutter war es das Exil außerhalb Frankreichs, weil ihre Eltern misstrauisch waren und eher darauf vertrauten, dass die brasilianische Nationalität ihnen das Leben retten würde. Die Eltern Huguettes entschieden sich dafür, zu bleiben, weil sie sich durch die allgemeine Atmosphäre der Umgebung in Sicherheit wiegten: Die Nachbarn waren nicht allzu neugierig, das Leben am Land schien friedlich, man konnte seine eigenen Hühner halten, was in Hungerzeiten etwas Wichtiges war — auch wenn SS-Leute jeden Tag im Café an der Straßenecke saßen, allerdings ohne sich um die Herkunft der Menschen zu kümmern. Vielleicht muss man sagen, dass sie absichtlich wegsahen, was Nathan in seinem Beschluss bestärkte, in Frankreich zu bleiben. Denn zwei Jahre lang grüßte einer der Deutschen Huguettes Mutter, scherzte mit Jeannot und seufzte: »Ach, ich hab auch so einen Kleinen zu Hause. Ich hoffe, dass ich ihn wiedersehen werde.« Huguettes Eltern verstanden sehr gut, was er sagte, weil sie Jiddisch sprachen, das dem Deutschen sehr ähnlich ist. Der Deutsche musste wissen, dass er es mit Juden zu tun hatte, aber dieses Thema wurde nie angesprochen. Die Deutschen waren nicht alle überzeugte Nazis, ebenso wenig wie alle Franzosen im tiefsten Herzen Kollaborateure waren, aber in Kriegszeiten geht es eben oft nicht nach dem, was man sich wünscht: Diejenigen, die den Befehlen gehorchten, trieben andere in den Tod, egal, was sie in ihrem Inneren dachten. Je mehr die Wochen und Monate vergingen, desto mehr vertrauten die Eltern Huguettes ihrem guten Stern. Huguette erinnert sich, wie ihr Vater sagte: »Wenn sie uns verhaften hätten wollen (ohne dass sie gewusst hätten, was dann aus ihnen werden würde), hätten sie es schon längst getan!« Und je mehr Zeit verging, desto sicherer war er sich: »Mit den Deutschen ist es vorbei, die verlieren den Krieg.« Damit hatte er recht. Doch am 5. Mai 1944, drei Monate vor dem Waffenstillstand, beschloss der nette Deutsche, das, was man ihm befohlen hatte, auszuführen — zumindest teilweise. Huguette erinnert sich, wie ihr Vater im Hühnerstall arbeitete, als die Soldaten auftauchten. Der junge deutsche Vater war unter ihnen. Er sagte zu Huguettes Mutter: »Raus, raus!«, und bedeutete ihr, sich zu entfernen. Huguette und ihre Mutter bekamen es natürlich mit der Angst zu tun, als die Soldaten auf den Familienvater zugingen. Der Deutsche sagte: »Es tut mir leid, Sie verschone ich, aber bei Ihrem Mann kann ich das nicht tun.« Mussten sie zumindest einen vorweisen? Eines ist klar: Es handelte sich um eine Zeit, wo man gut informiert gewesen sein musste, wo es wichtig war, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass man niemandem vertrauen konnte, dass sich eine persönliche Einstellung von heute auf morgen ändern konnte und dass Vorschrift eben Vorschrift war. Wenn man heute behauptet, die Juden seien besorgt, manche zu besorgt, dann darf man nicht die Geschichte vergessen: Vertrauen, Naivität, der Glaube an die allmähliche Verbesserung der Dinge mit der Zeit ist etwas, das viele Menschen das Leben kostete. Viele dachten, dass man nicht Angst haben dürfe.
Da Huguettes Vater sich weigerte, Angst zu haben, wurde er dann nach Kaunas in Litauen deportiert, und zwar in dem einzigen Transport, der aus Drancy an diesen Ort fuhr, dem Konvoi n° 73, der am 15. Mai 1944 abfuhr. Es befanden sich 878 Deportierte darin, unter anderem der Vater und Bruder Simone Veils, wie wir im Nachhinein erfahren haben. Nur 33 von ihnen kamen wieder zurück. Oma Sarah verlor ihren Bruder, von dem sie uns nie erzählte, und Mama einen Onkel, über den sie ebenso wenig sprach. Huguette sah ihren Vater nie mehr wieder, und ihr kleiner Bruder Jeannot hat ihn nie kennengelernt. Sonia, die Mutter, erholte sich nie mehr von diesem Schlag.
Mutter erzählte nichts über diese Zeit, und wir werden nie im Detail erfahren, wie man in Canfranc in Spanien wieder zusammenfand. Aber es war sicherlich sehr berührend, denn die Familie war mehr als ein Jahr nicht mehr vereint gewesen, und alle hatten in der Zwischenzeit viele Gefahren überstanden. Mittlerweile war auch Jacques in Pau eingetroffen. Genaueres ist uns auch über ihre Irrfahrt in Richtung Portugal nicht bekannt. Das Einzige, was unsere Mutter uns zur Illustration eines reichlich spärlichen Berichts vorlegte, war eine Zeichnung, die Opa Émile zeigte. Ein Mitgefangener hatte sie im Lager in Gürs angefertigt und auf der Rückseite ein Datum angebracht. Sie befindet sich immer noch in der Wohnung unserer Mutter. Jetzt, wo wir dieses Buch schreiben, haben wir keinerlei Zutritt zu irgendeinem Gegenstand der Erinnerung unserer Mutter. Die Wohnung ist für einen noch unbekannten Zeitraum versiegelt. Das gehört zu den schwierigen Dingen, wenn auch nicht zu den allerschwierigsten. Es wäre wunderbar, wenn unsere Mutter noch am Leben wäre, denn dann hätten wir ihr die Dinge zeigen können, die wir in der Zwischenzeit gefunden haben: ein Foto ihres Vaters aus seiner Zeit in Gürs, seine Papiere, einen handgeschriebenen Brief, in dem er die Freilassung aus dem Lager forderte — Antworten auf Fragen, die sie selbst wohl nie zu stellen gewagt hatte.
Diese Kindheit hatte unsere Mutter zu jener Persönlichkeit gemacht, als die wir sie gekannt haben. Sie hatte das Reisen immer geliebt, solange ihre Gesundheit es ihr erlaubte, selbst ohne Geld, denn sie nahm an den von der Stadt Paris organisierten Reisen teil. Sie mochte Menschen, die von woanders kamen, immer gerne — angefangen von ihrem Mann, unserem Vater, der frisch aus Österreich angekommen war. Sie schloss alle Frauen, die ich nach Hause brachte, in ihr Herz, und viele von ihnen waren keine Französinnen. Sie ermutigte Allan und mich dazu, die Welt zu erkunden, als wir erwachsen waren, und klagte niemals darüber, dass wir lange verreist waren oder uns im Ausland niedergelassen hatten, weit weg von ihr und von Paris, manchmal für Monate oder Jahre. Mit jemandem, den sie liebte, hätte sie am anderen Ende der Welt wohnen können und hatte es auch eine Zeit lang getan. Für sie war Reisen wohl gleichbedeutend mit Leben, wenn nicht sogar mit Überleben. Sie hatte erfahren, dass man sein Heil nicht findet, indem man an der Scholle klebt. Sie wusste, dass das Glück und das Wesentliche nicht im Äußeren liegen, sondern darin, dass man im Kreise der Seinen lebt. Die zahlreichen Irrfahrten und die bedingungslose Liebe ihrer Eltern prägten eine gewisse Geisteshaltung: Sie wurde allem gegenüber aufgeschlossen und vertrauensselig.
Die Geschichte Portugals zeigt, warum die Familie Kerbel dorthin gefahren war: Dieses Land diente als Sprungbrett ins Exil. In Portugal herrschte seit 1932 ein autoritäres und katholisches Regime, das ebenso antikommunistisch wie antifaschistisch und republikanisch war — zumindest zu Beginn. Während des Krieges blieb Portugal neutral, und die portugiesische Botschaft in Deutschland schaffte es sogar, 245 Juden mit dem Argument ihrer portugiesischen Staatsbürgerschaft aus Deutschland herauszuholen und nach Portugal bringen zu lassen. Das Gleiche machte die portugiesische Botschaft mit tausend Juden in Ungarn, obwohl diese keine portugiesische Staatsbürgerschaft hatten. Die Juden, die in den 1930er Jahren vor den faschistischen Regimen, insbesondere dem deutschen, flohen, waren zu Beginn in Portugal willkommen.*6 1933 ließ Salazar sogar eine Kommission für die Unterstützung geflüchteter Juden in Portugal gründen, die sogenannte Commassis, die von der amerikanischen jüdischen Hilfsorganisation Joint finanziert wurde. Die Juden, die bereits eine lange Geschichte der Verfolgung hinter sich hatten, zählten auf niemandes Hilfe und begannen, eigene Selbsthilfenetzwerke aufzubauen. Jüdische Organisationen taten während des Krieges so viel sie konnten und wie ihre Mittel es ihnen erlaubten, denn immerhin sahen sie sich massiver Waffengewalt gegenüber. Schnell wurde bekannt, dass ein Fluchtweg über Portugal existierte, und ab dem Jahr 1936 schloss Portugal seine Grenzen, um nicht von Juden aus ganz Europa überschwemmt zu werden, auch wenn es sich nur um einen Transit handelte. Diese Maßnahme wurde 1940 noch verschärft: Die Portugiesen fürchteten, dass die allernächsten Nachbarn, die Franzosen, seien es Juden oder keine Juden, durch den Sieg des Deutschen Reichs in ihr Land strömen würden.
In diesem Augenblick widerfuhr unserer Familie bei ihrer Ankunft im portugiesischen Konsulat in Bordeaux eine wunderbare Geschichte.
Das Konsulat wurde von Asylsuchenden buchstäblich belagert, aber aus Lissabon waren eindeutige und strenge Befehle gekommen, sie abzulehnen. Das wäre wohl auch passiert, wenn nicht ein gläubiger Christ, Aristides de Sousa Mendes*7, der Ansicht gewesen wäre, dass Rassismus mit Christentum wenig zu tun hatte. Er hatte Chaim Krueger, einen Rabbiner aus Antwerpen, der selbst auf der Flucht war, getroffen und ihm Schutz gewährt. Er beschloss, sich »lieber auf Gottes Seite gegen die Menschen als mit den Menschen gegen Gott« zu stellen. Am 17. Juni 1940 ordnete er die Ausstellung von mehreren Tausend portugiesischen Visa für alle Antragsteller ohne Unterschied an. Salazar enthob ihn seines Amtes und versuchte vergeblich, ihn festnehmen zu lassen. Elf Tage vor der Ankunft der Deutschen drückte der »Engel von Bordeaux«, wie man ihn in der Folge nannte, einen Stempel auf 30.000 Asylanträge, von denen zehntausend von Juden kamen, die so nach Portugal einreisen und ihre Reise nach Amerika fortsetzen konnten.*8
Unsere Mutter und ihre Eltern wurden mit vielen anderen in einem Tourismuszentrum in Caldas da Rainha interniert, das die Behörden zu einer »permanenten Aufenthaltszone« umfunktioniert hatten und das sich in einem Hafen sechzig Kilometer nördlich von Lissabon befand. Sie wurden zwar interniert, aber nicht misshandelt. Sie durften sich nicht frei bewegen, und man kann sich ihre Ungeduld beim Warten auf einen Platz auf einem Boot vorstellen. Die jüdische Hilfsorganisation Joint hatte drei mögliche Ziele vorgeschlagen: Kanada, Brasilien und Palästina. Die Familie entschied sich für Kanada, vielleicht, weil mein Großvater nicht nach Brasilien zurückkehren wollte und weder zionistisch noch religiös war. Israel existierte damals noch nicht, und Émile fühlte sich als Pariser Bürger und hatte Erfolge im Geschäft mit Regenmänteln vorzuweisen. Er sah sich nicht als Pionier oder Landarbeiter in einem Land, wo man alles von Grund auf neu aufbauen würde müssen — und wo es nicht regnete. Das Gelobte Land war für ihn jenes, wo er frei und ungestört mit seiner Familie leben würde können. Dies war im Übrigen die Einstellung der meisten Juden. In Caldas da Rainha machte unsere Mutter Portugiesischkurse, bis sie die Sprache gut beherrschte. Es war ihre dritte Sprache nach Jiddisch und Französisch. Ernährt wurden die Juden vor Ort 1941 von der Nachfolgeorganisation der Comassis. Normalerweise dauerte der Aufenthalt nicht länger als einige Monate, aber die Schiffe der Companhia Colonial de Navegaçao*9 waren voll beladen mit Passagieren und fuhren immer häufiger zwischen den verschiedenen Destinationen hin und her. Schätzungen zufolge rettete Portugal während des Krieges 40.000 bis 50.000 oder vielleicht sogar mehr Juden das Leben.
Es ist uns gelungen, an die Passagierliste der Serpa Sinto zu gelangen, jenes Schiffs, das unserer Mutter und ihrer Familie das Leben rettete und sie nach Brasilien führte. Auf ihr sind Émile und Sarah Kerbel, Mireille, dreizehn Jahre, und Jacques, 17 Jahre, verzeichnet. Der Atlantik war ein Kriegsschauplatz, und die Serpa Sinto wurde einige Zeit danach durch eine Bombe zerstört, doch die Familie erreichte heil Brasilien, wo sie Zwischenstation machte. Émile hatte keine Familienangehörigen mehr dort: Seine Mutter war verstorben, und sein Bruder hatte das Land anscheinend 1939 verlassen, um nach Deutschland zu fahren. Schließlich landeten die Kerbels am 6. April 1944 in Kanada, einige Monate vor der Befreiung von Paris. Unser Großvater dürfte sofort begonnen haben zu arbeiten, denn die Familie blieb bis 1947 in Montreal. Wahrscheinlich war in der Puppe kein einziger Diamant mehr übrig, von dem man untätig leben hätte können. Innerhalb dieser dreieinhalb Jahre wurde unsere Mutter in einer englischsprachigen Schule eingeschult. Bald sprach sie fließend Englisch, was ihre vierte Sprache war, und sie zog es ihr ganzes Leben lang vor, englische Filme im Original zu sehen. Als treue Freundin verlor Mutter ihre Klassenkolleginnen, ganz besonders Annie Schwartz, niemals aus den Augen. Mindestens einmal alle zwei Wochen telefonierten die beiden miteinander, bis an ihr Lebensende. Und bevor es Mode wurde zu telefonieren, schrieben sie einander oft. Manchmal erhielten wir sogar Besuch von Annie in Paris, eine Remineszenz aus der Vergangenheit aus Kanada, worüber unsere Mutter sich sehr freute.
Im Juni 1947 beschlossen unsere Mutter und ihre Familie, nach Paris zurückzukehren, das sie fünf Jahre zuvor verlassen hatten. Nun würden sie mit eigenen Augen sehen, was noch von ihrer Vergangenheit übrig war. Und vor allen Dingen — wer. Mutter sprach niemals über die kleinen Mädchen, die in ihrem Haus gewohnt hatten und in Auschwitz gestorben waren. Sie hatte den Krieg nicht von seiner schlimmsten Seite kennengelernt, und vielleicht vermied sie es deshalb, darüber zu sprechen, weil sie Schuldgefühle hatte, dass ihre Eltern es geschafft hatten, dem Regime zu entkommen. Das war nicht allen gelungen. Ihre Cousine Huguette hatte ihren Vater verloren und musste mit ihrer Trauer fertigwerden, mit der Tatsache, seinen Körper nicht bestatten zu können. Der zukünftige Mann unserer Mutter, unser Vater, hatte die Hölle der Konzentrationslager kennengelernt. Unsere Mutter aber hatte diese Zeit im friedlichen Kanada verbracht und schöne Erinnerungen daran, selbst wenn es sich um ein erzwungenes Exil handelte. Letzten Endes schwiegen die Juden in der Nachkriegszeit alle: die einen, weil sie zu viel, die anderen, weil sie nicht oder nur so gelitten hatten, dass es in keinem Verhältnis zu den anderen stand. Eine Szene, die unsere Mutter uns oft erzählt hatte, spielte sich an dem Tag ab, an dem die Familie in die Wohnung in der Rue de Turenne 41 zurückkehrte, zu der unser Großvater den Schlüssel nie weggeworfen hatte.
Die meisten Wohnungen deportierter Juden hatte die Stadtverwaltung ohne mit der Wimper zu zucken an Franzosen vergeben, die zufälligerweise keine Juden waren. Alle Güter, ob sie nun von Wert waren oder nicht, wurden sorgfältig verpackt und in Lager gebracht, wo man sie sortierte und entsprechend der Gesetzgebung nach Deutschland verschickte. Selbst Kleinigkeiten wie Schaukelpferde für Kinder und andere Gegenstände ohne Wert, die auf den Fotos zu sehen sind, die damals in den Lagerhallen aufgenommen worden waren, bildeten keine Ausnahme. Doch fast alle Juden waren so arm, dass das deutsche Reich sich schließlich beschwerte und fragte, warum man denn morsche Möbel und durchgewetzte Leintücher nach Deutschland schicke. In den Zeitungen liest man immer nur von Raubkunst in Form von Picasso-Bildern oder anderen Kunstwerken einer winzigen Anzahl von extrem reichen jüdischen Kunstsammlern, doch niemals liest man etwas über die Juden, die nicht so betucht waren. Dieser »legale« Umgang mit den Wohnungen, deren Mieter oder Eigentümer deportiert worden waren, brachte ein anderes Übel mit sich: die illegale »Besetzung« der Wohnungen der Juden, die in letzter Sekunde unter chaotischen Umständen geflohen waren und alles an seinem Platz gelassen hatten. Das war eine Freude für wenig zimperliche Nachbarn, in erster Linie für die Concierges, die in einem Haus jeweils die schlechteste Wohnung zugeteilt bekommen, wie allgemein bekannt ist.
Émile steckte also, im Beisein seiner Familie, die Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür, die sich öffnete. Da standen sie dem Concierge gegenüber, der mit seiner Familie bei Tisch war und es sich inmitten der Möbel und Dinge der Familie meiner Großeltern schmecken ließ. Wahrscheinlich blieb ihm vor Überraschung der Bissen im Hals stecken. Die neuen Bewohner dachten, sie sähen Gespenster: »Ach so! Wir dachten, Sie seien tot!« Für unsere damals fünfzehnjährige Mutter war das ein einschneidendes Erlebnis. Doch damit waren die Dinge keineswegs geregelt. Denn der Concierge, der Gefallen an dieser Wohnung gefunden hatte, hatte keineswegs die Absicht, aus ihr auszuziehen. Vielleicht zahlte er sogar Miete dafür: Bekanntlich stinkt Geld nicht, und die Eigentümer der Wohnung nahmen eben das Geld des neuen Bewohners, ohne sich weiter um den früheren zu kümmern. Unsere Mutter und ihre Familie mussten schließlich bei Freunden im Viertel von Belleville Unterschlupf suchen, bis nach mehreren Monaten ein Urteil in einem Gerichtsprozess erging und sie wieder in ihre Wohnung einziehen konnten.
Unser Großvater nahm seine Arbeit in der Werkstatt in der Rue d’Aboukir wieder auf und begann, seine schönen Regenmäntel und Blousons zu produzieren. Er erinnerte sich an das Geld, das er vor seiner Abfahrt im Keller versteckt, und an jene Summen, die er in Portugal bei einer Bank eingezahlt hatte. Ohne allzu große Hoffnung ging er in den Keller, um nachzusehen, ob es noch da war … Und ein Wunder war geschehen! Er fand die Geldscheine, sorgfältig in Tücher gewickelt, noch so vor, wie er sie verlassen hatte. Diese Summe bildete das Startkapital. Dann stellte er Nachforschungen nach dem Geld in Portugal an. Émile hatte es bei der Banco Espírito Santo e Comercial in Lissabon eingezahlt. Der Betrag belief sich auf 900.000 Goldfranken, was schwierig in Euro umzurechnen ist, aber es handelte sich um eine große Summe: Es entsprach dem Preis, den er für den Verkauf seines Unternehmens erhalten hatte. Nathan Finkel, der verstorbene Bruder von Großmutter Sarah, hatte noch seine eigenen Ersparnisse in der Höhe von 100.000 Goldfranken dazugelegt — insgesamt rund eine Million. Huguette, Nathans Tochter, hat auch heute noch die gesamte Korrespondenz und die Dokumente der verschiedenen Prozesse, mittels derer man versucht hatte, das Geld wiederzubekommen. Auch Mutter hat alle diese Unterlagen, die Zeugen der Wiederaufbaujahre, aufgehoben. Doch alles war vergeblich. Mitte der 1950er Jahre wurde Opa Émile krank und gab auf. Manche Menschen empfehlen uns, diesen Kampf wieder aufzunehmen, aber offensichtlich sind wir nicht die Einzigen, die von den Banken, insbesondere den portugiesischen, beraubt wurden, bei denen die Juden vor ihrer Abfahrt Geld hinterlegten, damit sie ein Startkapital hätten, wenn sie wieder nach Europa kämen.
1948 arbeitete Jacques, der ältere Bruder unserer Mutter, natürlich bei seinem Vater Émile, und unsere Mutter sicherlich auch, denn soviel wir wissen, ist sie nie mehr zur Schule gegangen, nachdem sie nach Frankreich zurückgekehrt war. In einer benachbarten Schneiderei lernte Jacques Kurt Knoll kennen, der bald sein bester Freund wurde und den er einlud, die ausgezeichnete Küche seiner Mutter zu probieren. Das war natürlich sehr unvorsichtig. Unsere Mutter war damals sechzehneinhalb Jahre alt, ein hübsches junges Mädchen mit braunem Haar, schlank, kokett und fröhlich. Unser zukünftiger Vater war 23 Jahre und sehr hübsch. Seine blauen Augen hatten es mehr als einem Mädchen angetan, er war ausgehungert nach Glück und strahlte ständig gute Laune aus.