Mireille heiratet Kurt Knoll

Unsere Mutter verliebte sich bis über beide Ohren — sehr zum Ungemach ihres Bruders Jacques, der nicht gedacht hatte, dass dieser Schuss nach hinten losgehen könnte. Sein bester Freund und seine Schwester, die doch noch gar nicht richtig erwachsen war! Auch Émile war alles andere als begeistert, und das aus mehreren Gründen. Erstens war es ihm gar nicht recht, seine Tochter schon so früh zu »verlieren«, denn er hatte eine sehr enge Beziehung zu ihr. Das bestärkte ihn noch im zweiten Grund seiner Ablehnung: Selbst ein König wäre nicht gut genug für seine Tochter gewesen, daher kam Kurt Knoll, der keine gute Partie war, keinesfalls in Frage. Erstens kam er nicht aus guten Kreisen, denn seine Familie war sehr arm, aber, und das wog für Opa Émile noch schwerer, er war auch kein »richtiger Franzose«. Gut, auch er selbst war als Russe auf die Welt gekommen und dann Brasilianer geworden, aber die Familie lebte seit mehreren Jahrzehnten in Paris und war patriotischer als alle Franzosen. Dieser Kurt Knoll, selbst wenn er noch so hübsch aussah, war gebürtiger Österreicher und hatte nur wenige Jahre in Frankreich gelebt, nämlich zu Beginn des Krieges, von 1940 bis 1942, und nach dem Krieg von 1945 bis 1947. Er war seinem Wesen nach durch und durch Österreicher und würde es auch bleiben. Französisch sprach er mit einem ganz starken Akzent. Wenn er las, dann las er deutschsprachige Zeitungen und ab und zu ein Buch. Deutsch war ihm viel näher als Französisch. Er war zwar Jude, aber er sah aus wie ein richtiger Österreicher: blond, mit einem kantigen Unterkiefer. Dass seine Tochter ihn verführerisch fand, verstand Émile zwar, aber was hatte der junge Mann ihr zu bieten? Er war gerade einmal 23 Jahre alt, Arbeiter, einer von fünf Brüdern, von denen noch keiner irgendeinen Erfolg vorzuweisen hatte. Sein Vater war Maler und Anstreicher, der in Wien auf dem Bau gearbeitet hatte, und seine Mutter war eine gläubige Jüdin.

Aber unsere Mutter war verliebt. Sie erzählte ihren Freundinnen und wiederholte bis an ihr Lebensende: »Was habe ich ihn geliebt!« Wenn unsere Mutter jemanden liebte, dann dachte sie nur an die Liebe und sah nichts anderes. Unser zukünftiger Vater war ein Mann von grenzenloser Güte — niemals wurde er laut, er war von Natur aus ein ruhiger Mensch. Er entwickelte unserer Mutter gegenüber einen richtigen Beschützerinstinkt. Er hatte zwar noch kein Geld, aber das konnte noch kommen. Er achtete sorgsam auf die Wünsche seiner zukünftigen Frau und erfüllte sie nach Maßgabe seiner Möglichkeiten, ebenso, wie Émile es zuvor getan hatte. Unsere Mutter war felsenfest davon überzeugt, dass sie den Mann ihres Lebens kennengelernt hatte. Sie war zwar erst sechzehneinhalb Jahre alt, aber dagegen konnte niemand etwas sagen, denn genau in dem Alter hatte ihre eigene Mutter ihren Vater kennengelernt. Und ihre Mutter war glücklich, das genügte doch wohl als Beweis. Mireille fuhr also fort, mit klopfendem Herzen ihren Kurt zu küssen, so oft sie konnte, bis passierte, was passieren musste … Eines Tages warf sie sich ihrer Tante Lola weinend in die Arme und gestand ihr: »Ich bin schwanger!« Das Entsetzen Tante Lolas war unbeschreiblich. Schwanger vor der Hochzeit?! Das würde man schnell regeln und die Zustimmung der Familie zur Hochzeit schleunigst einholen müssen. Was würde Émile sagen, wenn man ihn vor vollendete Tatsachen stellte, was damals undenkbar war? Man wartete ja nicht unbedingt bis zur Hochzeit, aber die Eltern wurden in dieses Thema nicht einbezogen. Nachdem Tante Lola einige etwas detailliertere technische Fragen gestellt hatte, stellte sich heraus, was die beiden jungen Menschen getan hatten: Sie hatten einander auf den Mund geküsst! Diese Geschichte zeigt, wie unschuldig — und unaufgeklärt — unsere Mutter war.

Schnell waren sich die Verliebten einig: Sie wollten heiraten. Émile war ein intelligenter Mann, der seiner Tochter nichts abschlagen konnte, und da sie so überzeugt von ihrem Glück war, konnte er auch hier nicht nein sagen. Sicher hatte er versucht, seine Tochter von diesem Schritt abzubringen — von solchen Versuchen nahmen wir später immer Abstand, weil wir den Dickkopf unserer Mutter kannten. Sie konnte sich gut auf andere einstellen, aber sie wusste sehr genau, was sie wollte, und darüber gab es keine Diskussion. Mutter und Vater verlobten sich also 1949 im Rahmen eines kleinen Fests in der Wohnung der Familie in der Rue de Turenne. Am 21. Januar 1951 heirateten Kurt Knoll und Mireille Kerbel in Paris. Unsere Mutter war neunzehn Jahre alt und unser Vater 27. Großvater Émile wollte die Hochzeit seiner Tochter in allem Prunk feiern und wählte für die Feier das berühmte Restaurant Ledoyen auf den Champs-Élysées. Auf den Aufnahmen, die bei der Feier gemacht wurden, strahlen die beiden. Er trug einen Anzug, ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen, eine Fliege und hatte den Körperbau eines Kennedy. Sie hatte das dunkle Haar um ihr Gesicht herum hochgesteckt, aus dem das Rundliche der Kindheit noch nicht ganz verschwunden war. Die beiden stehen inmitten von riesigen Blumenarrangements, sie hält ein Bouquet mit Lilien in ihren Armen, mit ihrem Kleid aus weißem Satin, das brav bis oben hin zugeknöpft ist. Auf dem kleinen weißen Hütchen prangt ein großer Schleier. Sie heiratete einen wundervollen Mann, der ihr Glück wollte und dem seinen hinterherlief. Denn unser Vater war ein traumatisierter Mann. Seine Geschichte schockierte mit Sicherheit unsere Mutter, die warmherzig und bereit war, die ganze Welt in ihre Arme zu schließen. Er war ein Vertriebener, ein Verfolgter, ein Auschwitz-Opfer, ein Überlebender. Wie sie selbst kam auch er von woanders, letzten Endes wohl aus dem Nichts, von jenem Ort, wo die Hälfte der europäischen Juden in Rauch aufgegangen war.

Kurt wurde am 10. März 1924 in Wien geboren. Er war der Sohn von Joseph Knoll, geboren in Zurawica in Galizien am 8. Juli 1894, und Yetti Jacker, geboren am 15. Mai 1893 ebenfalls in Galizien, einer Gegend in Polen, die einige Hundert Kilometer von Wien entfernt ist.

1918 hatte man am Ende des Ersten Weltkriegs die Bevölkerung dieses Gebiets, das geteilt wurde, gefragt, ob sie lieber die polnische oder die österreichische Staatsbürgerschaft annehmen wollten. Diese Entscheidung war nicht schwer. Die polnischen Pogrome und die Einschränkung aller Rechte für die Juden machten das Alltagsleben schwierig, wenn nicht sogar gefährlich. Das Leben der Juden unter dem österreichischen Kaiser war nicht bedroht, und das Land erschien neben den anderen Möglichkeiten wie ein Hafen des Friedens. Die Atmosphäre im Wien der Zwischenkriegszeit und die Dynamik des intellektuellen Lebens wurden von Stefan Zweig*10 und vielen anderen sehr gut geschildert. Die Wiener Juden stellten die Elite des Landes dar: Zweig, Schnitzler, Freud, Buber, Wittgenstein und viele andere zählten zu ihnen. Diese Künstler, Ärzte und Professoren wohnten in schönen Gegenden inmitten von nichtjüdischen Mitbürgern. Sie waren gut integriert und merkten sehr schnell, dass die Dinge in Deutschland eine schlechte Wendung nahmen, besonders nach dem »Anschluss« im Jahr 1938. Stefan Zweig, der oft in Deutschland war, und viele andere gut integrierte Bürger beschlossen, das Land zu verlassen. Bereits 1934 fuhr dieser Schriftsteller nach London, bevor er dann im Sommer 1940 noch viel weiter floh, nämlich nach Brasilien. Dort nahm er sich im Februar 1942 aus lauter Verzweiflung darüber, wozu Menschen fähig sind, das Leben. Dabei kannte er noch nicht die volle Wahrheit, denn die industrielle Auslöschung von sechseinhalb Millionen Juden in den Konzentrationslagern hatte eben erst begonnen. Die Österreicher stellten keine Ausreisegenehmigungen mehr aus oder nur noch gegen exorbitant hohe Summen. Da zahlreiche Juden deshalb oder aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr ausreisen konnten, beschlossen viele von ihnen, in Wien Selbstmord zu begehen. Es war ihnen lieber, ihren eigenen Tod herbeizuführen, als an einen Ort gebracht zu werden, von dem sie wussten, dass sie dort nichts Gutes erwartete. Aber die Eltern unseres Vaters gehörten niemals zu jenen Wiener Intellektuellen, deren Auslöschung großen Humanisten das Herz brach. Lange Zeit war ihnen die Gefahr nicht bewusst.

Unser Vater wurde in der Tandelmarktgasse 11 in der Leopoldstadt geboren, einem Bezirk, der zum Großteil von Juden bewohnt war, nachdem er im 17. Jahrhundert als Ghetto gedient hatte. Damals schien es angebracht, die Juden weit weg vom Stadtzentrum, auf der anderen Seite der Donau bzw. des Donaukanals, anzusiedeln. Auf Fotos aus Archiven sieht man kleine Geschäfte mit koscheren Waren im Erdgeschoss von bescheidenen Gebäuden. In der Nähe gab es einen weiträumigen Park und die größte Synagoge Wiens, die über zweitausend Plätze verfügte. Die Familie Knoll ähnelte Tausenden anderen armen, jüdischen Familien. Opa Joseph war ein guter österreichischer Bürger, stolz auf die Wunden und Verletzungen, die er für die österreichisch-ungarische Monarchie erlitten hatte. Im Ersten Weltkrieg hatte er Stiche mit einem Bajonett erlitten und eine Kugel in die Hand geschossen bekommen. Seit er im Juni 1918 geheiratet hatte, war, wie damals so üblich, ein Kind nach dem anderen gekommen: Max war 1919 geboren, Leo 1920, Robert 1921, »Papa« Kurt 1924 und Erwin im Jahr 1930. Von all diesen Brüdern ist heute nur noch Erwin am Leben, und er stellt für uns die einzige Quelle an Erinnerungen dar. Wir wissen, dass er der Liebling unseres sechs Jahre älteren Vaters war. Papa beschützte ihn, und Erwin bewunderte ihn grenzenlos. Er folgte unserem Vater auf Schritt und Tritt, bis sogar seine Eltern ihm sagten: »So lass ihn doch in Ruhe, lass ihn doch sein eigenes Leben leben!« Papa hatte eine sehr schöne Stimme und sang gern im Chor der Synagoge, so wie wir ihn später Joe Dassin singen hörten. Erwin ging sogar so weit, dass er sich eines Tages in den Chor schummelte, um bei seinem geliebten Bruder zu sein — aber er wurde sofort entdeckt, weil er falsch sang. Oma Yetti zog die ganze Bande auf, während ihr Mann sich als Arbeiter verdingte. Er war Maler am Bau, aber sicherlich übernahm er auch andere Arbeiten als Handwerker. Immerhin hatte er eine Familie zu ernähren, und unser Vater erzählte uns nüchtern von seinen Erinnerungen an eine Kindheit in Armut. Unser Großvater, der das Oberhaupt einer Familie von fünf Buben war, die im Jahr 1938 zwischen acht und neunzehn Jahre alt waren, trug eine schwere Last auf seinen Schultern. Die Zukunft sah sehr ungewiss aus, während die braune Pest, wie man den Nationalsozialismus nannte, immer näherkam.

Ende 1938 warnte ein katholischer, österreichischer Nachbar meinen Großvater: »Gehen Sie weg. Egal, wohin. Mit nichts, aber gehen Sie weg. Es wird etwas Schlimmes passieren.« So brach die Familie ohne irgendwelche Habseligkeiten auf und durchquerte im August 1938 das Land, bis sie in Belgien eintraf, wo es damals ruhiger war. Sie mussten auf ihrer Flucht durch Deutschland durchgekommen sein und somit Angst gehabt haben. Aber diese mühselige Reise war nichts im Vergleich zu dem, was sich in Wien in der Nacht vom 9. auf den 10. November abspielte: In dieser »Reichskristallnacht« wurden in den Städten in Deutschland und in Österreich Tausende Juden verprügelt und getötet, ihre Läden geplündert, ihre Häuser verwüstet und die Synagogen angezündet. Die große Synagoge in der Nähe der Wohnung meiner Verwandten war die erste. Zurück blieb nur Asche. Wer als Nazi etwas auf sich hielt, machte hier mit, und man begann in jenen Vierteln, wo es einen hohen Anteil an Juden gab. Unser Vater und seine Familie wären dem sicher nicht entronnen. Unser Vater erzählte uns nie irgendwelche Details über seine Kindheit in Wien, ebenso wenig wie über den Krieg, als hätten die Konzentrationslager die gesamte Vergangenheit ausgelöscht. Das, was wir über die weitere Geschichte wissen, verdanken wir unserem Onkel Erwin.

Papa kam schließlich mit seiner Familie in Köln, unweit der belgischen Grenze, an. Dort wurden sie von einem deutschen Ehepaar namens Tutter aufgenommen, an deren Vornamen sich Erwin jedoch nicht mehr erinnert. Sie waren keine Juden und hatten der Familie ohne zu zögern eine Meldebescheinigung ausgestellt, auf der schwarz auf weiß zu lesen war, dass die Familie bereits seit einiger Zeit in der Stadt wohnte, was dieser das Leben erleichtern und den Verdacht von ihr ablenken sollte.

Erwin erzählte uns, dass es eine Zeit war, wo man sich durchschlagen musste, wo man von Mundpropaganda und Tipps lebte, die die Runde machten. Das galt für die jüdische Gemeinschaft, aber während des Krieges in allen Kreisen, für Freunde, Vereine und andere Glaubensgemeinschaften. Nach drei Wochen Wartezeit erhielt unser Großvater einen Kontakt zu einem Beamten der deutschen Polizei, der falsche Papiere ausstellte, auch für Juden. Das mag verrückt erscheinen, aber letzten Endes sind es die Menschen, die verrückt sind. Wahrscheinlich wusste der Beamte sehr gut, was da im Busch war, und hatte ein mitfühlendes Herz. Jedenfalls erhielt die Familie Knoll auf diese Weise ein Touristenvisum für Belgien, das ordnungsgemäß mit dem Hakenkreuz abgestempelt worden war. Trotz strenger Kontrollen durch die Polizei schafften sie es, auf die andere Seite der Grenze zu gelangen. Später erfuhren sie, dass der aufrechte Beamte, der falsche Pässe ausgestellt hatte, erschossen worden war.

Eineinhalb Jahre lang lebten die Knolls in Brüssel, wo Erwin eingeschult wurde. Dadurch lernte er Französisch, was sich in der Folge als sehr wertvoll erweisen sollte, als die deutschsprachige Familie durch Frankreich zog. Um etwas zu verdienen, machte unser Vater Auslieferungen mit dem Rad für den koscheren Fleischhauer, der sich im Erdgeschoss befand. Die anderen Brüder verrichteten schwarz Gelegenheitsarbeiten, sobald jemand sie brauchen konnte. Im Mai 1940 änderte sich alles: Belgien wurde ebenfalls besetzt. Die Belgier verlangten von allen österreichischen jüdischen Männern über sechzehn Jahren, mit einer Decke zum Bahnhof in Brüssel zu kommen — Reiseziel unbekannt. Sie hatten keine andere Wahl, als dieser Aufforderung nachzukommen. Manchmal hört man die Leute etwas abfällig sagen, die Juden hätten »gehorcht wie Schafe«. Doch man darf nicht vergessen, dass viele Juden der Landessprache nicht mächtig waren und einen Akzent hatten, den man zehn Meter gegen den Wind hörte, wenn sie überhaupt Französisch sprachen. In ihrer zerfetzten Kleidung hatten sie keinerlei Chance, für Touristen gehalten zu werden, noch dazu in einer Zeit, wo die Menschen viel weniger reisten als heute, und überdies war noch Krieg. Es war fast so, als würde man versuchen, als Europäer in Indien unerkannt unterzutauchen und dem Gesetz zu entkommen. Die französischen Juden hingegen hatten Vertrauen in ihre Regierung, und dies seit mehreren Generationen. Deshalb reisten die Kerbels erst so spät ab, und dieses Vertrauen kostete viele andere ihr Leben.

Papas Brüder und sein Vater kamen also der Anordnung nach und fuhren zum Bahnhof in Brüssel. Unser Onkel Erwin erinnert sich an fürchterliche Szenen. Die Menschen waren gekommen, um sich einen Spaß daraus zu machen, die Juden zu bespucken und zu beschimpfen. Oma Yetti blieb mit ihren beiden Kindern Kurt und Erwin, die noch nicht sechzehn Jahre alt waren, allein zurück. Sie hatte gerüchteweise erfahren, dass die Juden zu einer Zwischenstation nach Frankreich geschickt wurden. Vor 1942 existierte die Vernichtungspolitik der Juden noch nicht. Es gab zwar schon die ersten Konzentrationslager, aber noch nicht Vernichtungslager wie Auschwitz, wo die Juden mit einer industriellen Maschinerie ermordet wurden. Das Wort »Deportation« war noch kein Synonym für »Trauer«, aber es war natürlich eine Ursache großer Angst, besonders für eine alleinstehende Frau in einem fremden Land.

Oma Yetti, unser Vater und Erwin beschlossen also, nach Frankreich zu fliehen. Unsere Großeltern hatten Verwandte in Paris, die Familie Stumpler, die in der Rue d’Hauteville im 10. Pariser Gemeindebezirk wohnte. Dorthin floh unsere Großmutter mit ihren beiden Kindern. Alle nahmen in diesen schwierigen Zeiten irgendwen bei sich auf, Juden wie Nichtjuden. Doch die Stumplers hatten bereits sieben Kinder! Schon einen Monat später kam der Vormarsch der Deutschen nach Paris, das am 14. Juni 1940 besetzt wurde. Oma Yetti, Papa und Erwin flohen daher in den Westen bis nach Vannes, wo die Bewohner des Dorfes in der Schule ein behelfsmäßiges Lager aufgebaut hatten. Die Besetzung Frankreichs begann, und alle brachen auf, um aus der Hauptstadt auf das Land zu fliehen. Mehrere Familien, von denen die meisten keine Juden waren, lebten so recht und schlecht in diesem Lager, wo alle sich zusammenzwängen mussten. Erwin erinnert sich, dass die Alten in der Nacht ständig husteten und die Jungen miteinander schliefen. Er hatte niemals eine unschuldige Kindheit genossen. Die Kindheit unseres Vaters, die gerade zu Ende ging, war sehr schnell vorbei, wenn man bedenkt, welche Zukunft ihm im Krieg bevorstand. Die örtliche Bevölkerung war ihnen niemals feindlich gesonnen, doch niemand wusste über die anderen Bescheid. Von heute auf morgen konnten Dummköpfe im Dorf in die Miliz eintreten. Dann wurde am 18. Juni der Waffenstillstand unterzeichnet, und die Freunde von gestern wurden zu Feinden. Manche Franzosen wurden gefangen genommen, unter anderem ein Offizier, der die Familie Knoll ins Herz geschlossen hatte. Die ersten antisemitischen Gesetze wurden bereits im Monat Juli erlassen.

Das Problem der Knolls bestand darin, dass sie doppelt unerwünscht und schuldig waren: Für die Franzosen waren sie Deutsche, und für die Deutschen waren sie Juden.

Oma Yetti war eine Frau mit Hausverstand, keine Intellektuelle, aber sehr klug und mutig. Sie packte den Stier bei den Hörnern und ging auf die Deutschen zu. Dieser Schritt hätte sie das Leben kosten können, doch untätig bleiben hätte zum gleichen Resultat führen können. Also begann sie eine Diskussion mit einem deutschen Soldaten. Sie fragte ihn mit unschuldiger Miene, fast als wäre sie eine gute Deutsche: »Na, wie ist das jetzt mit den Juden in Deutschland und in Österreich?« Der Nazi antwortete ihr: »Na, die werden festgenommen, und dann verlieren sie alle ihre Rechte, damit wir sie loswerden!« Somit war klar, dass es ausgeschlossen war, nach Hause zurückzukehren, selbst wenn die physische Vernichtung der Juden noch nicht geplant war. Oma Yetti war klar, dass es nichts Gutes bedeuten würde, wenn sie bliebe, wo sie war. Also beschloss sie, die Demarkationslinie zu überschreiten, um in die freie Zone zu kommen, wo irgendwo im Süden ihre drei Söhne und ihr Mann interniert waren. Doch dafür brauchte man einen offiziellen, von den Franzosen unterzeichneten Passierschein. Die Beamten verweigerten ihn ihr. Deshalb ging sie, ohne viel Federlesens zu machen, zur deutschen Kommandantur. Offensichtlich hatte die Tatsache, dass sie in Köln auf einen hilfreichen Beamten bei der deutschen Polizei gestoßen war, ihr Mut gemacht. Bei der Kommandantur erklärte sie mit selbstsicherer Stimme: »Hören Sie, ich weiß nicht, was mit diesen Franzosen los ist, die wollen uns keinen Passierschein in die freie Zone ausstellen!« Der Beamte war entsetzt, dass brave deutsche Bürger — denn das waren sie laut ihren Ausweisen — in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden. Also gab er den französischen Beamten entsprechende Anweisungen, und Oma Yetti erhielt ihren Passierschein, mit allen Stempeln, die dafür nötig waren. Erwin hat ihn heute noch, er ließ ihn in Plastik einschweißen. Für ihn ist dieses Dokument ein historischer Schatz.

Oma Yetti, Papa und Erwin fuhren also nach Toulouse, wo sie hofften, von der lokalen jüdischen Gemeinde zu erfahren, wo sich der Rest der Familie befand. Die Gerüchte in der Gemeinde waren zwar vielleicht weniger schnell als Mobiltelefone, aber mindestens ebenso effizient. Die Neuigkeiten, die sie erwarteten, waren beunruhigend: Opa Joseph, Robert, Max und Leo wurden in Saint-Cyprien Plage festgehalten, einem Lager, das wie Gürs zuerst für die Internierung spanischer Republikaner verwendet worden war. Die Lager unterstanden der französischen, nicht der deutschen Armee und waren einfache Baracken, die auf Sand gebaut waren. Es gab keinerlei Hygieneeinrichtungen und sehr wenig Essen. 7500 meist deutsche und österreichische Juden, die aus Belgien geflohen waren, waren dort gestrandet. Es war eine Zeit der Verwirrung, wo die antijüdische Politik der Deutschen genauso unklar war wie die grundlegenden Überzeugungen der Franzosen. Manche Häftlinge schafften es, freigelassen zu werden, unter anderem die Mitglieder unserer Familie, einer nach dem anderen. Im November 1940 wurden die offiziellen Maßnahmen verschärft, und das Lager wurde zu einer Zwischenstation auf einem Weg ohne Wiederkehr. Wenn man es schaffte, in Frankreich während des Krieges als Jude zu überleben, dann nur mit Glück, durch Zufall und dank Begegnungen im richtigen Augenblick. Robert kam am Bahnhof in Perpignan gerade noch einmal davon. Es wurde eine offene Barrikade errichtet und wie bei einer Treibjagd alle paar Meter ein Gendarm postiert, der die Reisenden kontrollierte. Robert setzte alles auf eine Karte: Er holte eine Zigarette heraus, ging direkt auf einen Gendarmen zu, anstatt zu versuchen, sich an ihm vorbeizumogeln, und bat ihn um Feuer, wobei er so wenig wie möglich sprach, um seinen Akzent zu verbergen, der ihn unweigerlich als deutschsprachigen Juden verraten hätte, denn alle, die deutsch sprachen, waren Juden. Er kam durch. Oma Yetti, Papa und Erwin, zu denen bald auch Opa Joseph stieß, der als Erster aus dem Lager freigekommen war, wohnten in der Zwischenzeit in einem kleinen Hotel in Toulouse, dem Le Riquet, das von Italienern geführt wurde. Wir wissen nicht, wie sich das finanziell ausging, aber alle Franzosen hatten das gleiche Problem, insofern improvisierten alle. Man überlebte wohl, indem man kleine Arbeiten und Dienstleistungen übernahm. Die Eigentümer des Hotels hatten sehr schnell verstanden, dass die drei Knolls Juden waren. Eines Tages fürchteten sie, dass ihre letzte Stunde gekommen sei, als ein ganz besonders pflichtbewusster Beamter der Vichy-Polizei eine Kontrolle durchführte. Die Italiener spielten das Spiel mit und zeigten das Zimmer her, in dem sich an diesem Tag nur Oma Yetti und Erwin befanden. Sie erklärte, Österreicherin zu sein, und gab keine weiteren Details an. Sie behauptete, allein mit ihrem kleinen Sohn in diesem Hotel zu wohnen. Erwin übersetzte, denn seit dem Aufenthalt in Belgien war er vollkommen zweisprachig. Damals begann er diese Rolle eines Dolmetschers zu spielen, die er den ganzen Krieg über innehaben sollte. Leider fand der Polizist Opa Josephs Pfeife in einem Aschenbecher. Oma Yetti reagierte blitzschnell, vergaß ihre Tugendhaftigkeit und erfand eine Lüge: Ja, sie hätte eine Beziehung zu einem Mann … Erwin ließ sich nichts anmerken. Glücklicherweise stellte sich bei näherer Kontrolle heraus, dass der Nachbar ein Pfeifenraucher war — und schon war der Liebhaber gefunden. Fallen gab es überall. Eines Tages waren Oma Yetti und Erwin in den Park gegangen, der voller Polizisten war, als sie sahen, wie Opa Joseph in ihre Richtung kam. Erwin stellte seinen Fuß auf eine Parkbank und tat so, als müsse er sich den Schuh binden, um seinem Vater zu bedeuten, dass er nicht zu ihnen kommen solle, um nicht eine weitere Kontrolle der beiden, die angeblich nur zu zweit waren, auszulösen.

Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde erzählten den Knolls schließlich, dass es, weil es in Toulouse keine Wohnungen gab, die man für längere Zeit mieten konnte, und da die Sicherheitssituation sehr angespannt war, besser sei, nach Gaillac zu fahren, das sich in einer Entfernung von etwa fünfzig Kilometern von Toulouse befand. Dort fanden sie ein Lager, das voller Juden und anderer Flüchtlinge war, denn ganz Frankreich war auf der Straße. Dieses Lager befand sich am Rande eines Sees. Die Unterkunft war mickrig und der Alltag schwierig, doch Erwin war zwölf Jahre alt und wurde trotz allem in die Schule eingeschrieben. Dort verbesserte er sein Französisch noch weiter und schnappte nebenbei einen leichten südfranzösischen Akzent auf, wie er für Toulouse typisch ist. Der Rest der Familie radebrechte nur auf Französisch. Wie man sich leicht vorstellen kann, war es für Erwin manchmal schwierig, dem Unterricht, besonders in Geschichte, zu folgen, denn er wusste zwar, wer Sisi war, kannte aber Ludwig XIV. zum Beispiel nicht. Im Laufe des Krieges sollte er immer wieder einige Wochen hier, einige Monate dort eingeschult werden, manchmal in der Volksschule, manchmal im Lycée. Es kam vor, dass er in Schulfächern mitkommen musste, von denen er nie gehört hatte, wie in Chemie etwa, das ihm in lebhafter Erinnerung blieb. Erwin wusste nie, ob er am nächsten Tag noch in die Schule gehen würde. Man lebte von einem Tag zum nächsten. Und tatsächlich standen eines Tages Gendarmen da, umzingelten das mit Stacheldraht eingezäunte Lager und kündigten eine Erfassung der Bewohner an. Die Familie verstand, was das bedeutete: Wenn man entdeckte, dass sie Juden waren, dann war es vorbei mit ihnen, dann wartete der Viehwaggon auf sie. Denn nun schrieb man 1942, und da wusste man Bescheid — zumindest, was die Viehwaggons betraf. Die Knolls hatten es offensichtlich geschafft, sich mit ihrer falschen deutschen Staatsbürgerschaft auszuweisen, und flohen in Richtung Lyon, wo sie Bekannte hatten, dann weiter nach Grenoble, wo sie sich während des gesamten Krieges versteckten — aber nicht alle. Unser Vater und Robert, die sich aufgrund ihres geringen Altersunterschieds von zwei Jahren sehr nahestanden, beschlossen, die Flucht in die Schweiz zu versuchen. Vielleicht würde es ihnen gelingen, einen sicheren Ort zu finden, wohin sie die ganze Familie nachkommen lassen konnten. Die offiziell neutrale Schweiz erschien vielen Juden als begehrenswertes Ziel.

Unser Vater hatte schon einmal, im Jahr 1940, zu Beginn der Flucht nach Frankreich, den Kundschafter gespielt. Er hatte mit nur sechzehn Jahren die Möglichkeiten einer Ausreise über Dünkirchen ausgeforscht. Er hatte sich mit zwei Jugendlichen seines Alters zusammengetan, und sie hatten tatsächlich eine Fluchtroute nach England gefunden. Einer der beiden hieß Hirt. Unser Vater weigerte sich jedoch, mit ihnen weiterzureisen, denn er wollte seine Mutter und seinen kleinen Bruder, die bereits vom Vater und den älteren Brüdern getrennt waren, nicht allein zurücklassen. So war er — die nahe Zukunft sollte ihm zeigen, was diese Haltung ihm einbrachte.

Dreißig Jahre nach dem Krieg kam Hirt nach Frankreich zurück und nahm wieder Kontakt mit den Brüdern Knoll auf. Unser Vater hatte natürlich niemals über all diese Ereignisse gesprochen — wir erfuhren sie von Erwin. Hirt war also tatsächlich nach England und von dort weiter in die Vereinigten Staaten gereist. Er hatte in San Francisco einen Spirituosenhandel eröffnet, der sehr gut ging. Er plante daher, in Frankreich eine Bar mit einem gewissen Feingold zu eröffnen.

Wie aus den höchst genauen Unterlagen der französischen Verwaltung hervorgeht, wurden Papa und sein zwei Jahre älterer Bruder Robert am 8. September 1942 in Ambilly in Obersavoyen verhaftet, als sie im Zug saßen, der sie zur schweizerischen Grenze bringen sollte. Später gelang es ihrem Bruder Max, der verheiratet und dessen Frau schwanger war, Morzin zu erreichen, wo der wohlwollende Besitzer eines Bierlokals sie im Auto über die Grenze brachte und im Schnee absetzte. Sie verbrachten den Krieg in Sicherheit in der Schweiz. Onkel Erwin sagt oft, dass hinter jedem Juden, der den Krieg in Frankreich überlebte, einer oder mehrere Gerechte standen, die ihn geschützt hatten. Alle wurden nicht mit einer Medaille ausgezeichnet — und manche mussten ihr Leben dafür lassen.

Papa und Robert wurden in das Lager von Rivesaltes gebracht, wo sie am 8. September 1942 ankamen, was wir dank der Recherchen von Serge Klarsfeld*11 wissen.

Rivesaltes ist ein Internierungslager von sechshundert Hektar in der Nähe von Perpignan, das dazu diente, abwechselnd alle von der Geschichte Ausgeschlossenen einzuschließen: in den Jahren 1935/36 die spanischen Republikaner, die Harkis in den 1960er Jahren und die Juden während des Krieges. Man nannte das Lager sogar das »Drancy der freien Zone«. Sechstausend Juden wurden von hier in das Transitlager Drancy geschickt, von wo die Züge meist in die Vernichtungslager oder Konzentrationslager fuhren. Die Lebensbedingungen in Rivesaltes waren schrecklich, die Überlebenden berichteten davon — nie jedoch unser Vater. Läuse, Ratten und Wanzen setzten den Menschen zu, die Nacht mussten sie in Baracken ohne Betten und ohne elektrischen Strom verbringen; es gab keine Latrinen, keine Hygiene und kaum Nahrung, abgesehen von einer dünnen Suppe, die man ihnen in eine Konservenbüchse füllte. Als Papa und Robert am 16. September 1942 Drancy verließen, stand ihnen jedoch noch weit Schlimmeres bevor.

Unser Vater wurde mit seinem Bruder Robert mit dem Konvoi n° 33 nach Auschwitz gebracht.

Insgesamt gab es 79 Konvois in drei Jahren — tausend Personen pro Konvoi. Die Nazis gingen sehr methodisch vor und verlangten das Gleiche von der Regierung von Vichy. Man weiß, dass sich im Konvoi n° 33 1003 Personen befanden, davon 147 Frauen und 173 Kinder. 859 von ihnen, darunter alle Kinder, wurden sofort bei ihrer Ankunft vergast und dann in den Krematorien verbrannt. 1945 gab es noch 33 Überlebende, darunter war eine Frau. Das war noch einer der Konvois mit den meisten Überlebenden …

Unser Vater und Onkel Robert hatten das Glück, nicht sofort getötet zu werden. Sie wurden nach Auschwitz III-Monowitz, das »Arbeitslager«, gebracht, wo sich auch Primo Levi befand, der über dieses Erlebnis berichtete*12, bevor er sich, 42 Jahre nach seiner Befreiung, das Leben nahm. Zu behaupten, dass die Internierten »arbeiteten«, war natürlich ein Euphemismus, weil es sich meist um ein Todeskommando handelte. Normalerweise starb man dabei vor Erschöpfung oder an den Folgen von Durchfall, oder aber auch an einer Kugel, die einem ein Kapo durch den Kopf jagte, wenn es ihm gerade passte. Dennoch war es eines der wenigen Lager, wo man eine winzige Chance hatte, zu überleben, weil es sich nicht um ein Tötungslager handelte. Auschwitz II-Birkenau war ein Tötungslager im wahrsten Sinne des Wortes, mit Gaskammern und Krematorien. Auschwitz I war das Hauptlager, das einige Kilometer weit entfernt und größer war und verschiedenen Zwecken diente: Es war ein Konzentrationslager, ein Arbeitslager, es diente wissenschaftlichen Experimenten und endete damit, dass die Menschen aus Erschöpfung oder durch eine Kugel im Kopf starben. Es ist das Lager, das am häufigsten in den Filmen gezeigt wird. Heute ist es eine Gedenkstätte, an deren Eingang der zynische Spruch Arbeit macht frei prangt. Robert und Kurt überlebten, weil sie jung und kräftig waren und das Glück hatten, Deutsch zu sprechen. Das war ein entscheidender Vorteil, weil sie Anweisungen verstanden, dem folgen konnten, was sich abspielte, und dem verhängnisvollen Vorurteil Nicht meine Sprache, nicht meine Kultur = kein Mitglied der Menschheit entgehen konnten. Sie entsprachen auch nicht den nationalsozialistischen Stereotypen über das »jüdische Aussehen«. Unser Vater sah aus wie sie oder vielmehr wie einer ihrer Söhne: Er hatte das gleiche Alter, die gleiche Statur, war nicht sehr groß, aber kräftig und sah aus wie ein Arier — blond und blauäugig. Diese Ähnlichkeit rief bei den KZ-Wärtern wenn schon nicht wirkliches Mitgefühl, so doch immerhin eine gewisse Nachsicht hervor. So kam Papa manchmal in den Genuss eines zusätzlichen Stücks Brot, auch wenn es ihm nicht die Stockhiebe ersparte, die seine Nasenscheidewand zertrümmerten, was ihm sein ganzes weiteres Leben Probleme bereitete. Und trotzdem war er schrecklich unterernährt: Papa und Robert wogen gegen Ende des Krieges nur noch etwa dreißig Kilogramm.

Ganz zum Schluss mussten die beiden dann noch am Todesmarsch teilnehmen. Als die Deutschen feststellten, dass im Osten die Russen vorrückten, und verstanden, dass nun alles verloren war, wollten sie keine Zeugen zurücklassen, die erzählen würden, was sich abgespielt hatte. Sie ließen jene Deportierten zurück, von denen klar war, dass sie in den nächsten Stunden sterben würden. Nur in ganz seltenen Fällen täuschten sie sich in dieser Annahme. Die anderen wurden von dem in Polen liegenden Auschwitz auf einen Marsch in Richtung von Lagern gedrängt, die sich weiter im Westen in Deutschland befanden. Im Januar 1945 marschierten unser Vater und Robert, die bis auf die Knochen abgemagert waren und keinerlei Kraft mehr hatten, bei minus 25 Grad sechzig Kilometer, ohne auch nur einmal stehen zu bleiben. Wer stehen blieb, wurde mit einer Kugel in den Kopf beseitigt, denn kein Überlebender sollte Zeugnis ablegen können. In diesem Punkt waren die Nazis weitaus erfolgreicher, als sie sich je vorstellen hätten können. Die Gefangenen waren derart traumatisiert und so tief in ihrem Menschsein getroffen, dass sie nie mehr sprechen würden. Irgendetwas in ihnen war gestorben, noch bevor der physische Tod sie ereilte. Wir erfuhren alle diese Dinge aus Büchern — nicht von unserem Vater.

Wir erhielten auch niemals eine Erklärung von unserem Vater zu dem, was er nicht verbergen konnte: die in seinen Arm eintätowierte Nummer, die davon zeugte, dass er KZ-Gefangener war, die Probleme mit seiner Nase, weil er geschlagen worden war. Lager waren für uns eine große Unbekannte, ein Ort, an dem er mit anderen gelitten hatte. Die Tatsache, dass das jüdische Volk ausgelöscht werden sollte, wurde uns nicht erklärt. Unser Vater litt oft unter Albträumen. Wenn wir ihn nach dem Grund fragten, dann sagte er nur: »Die Lager. Wenn ich die Augen schließe, dann sind die Bilder wieder da.« Welche Bilder? Sehr viel später erklärte uns unsere Mutter, dass Vater in den ersten Jahren oft schreiend in der Nacht aufgewacht war. Nach und nach erfuhren wir von unserer Mutter ein paar Dinge: Die Nase hatten ihm die Kapos gebrochen. Er hatte Leichen wegtragen und sie unter Kalk begraben müssen. Erst als wir schon in der Pubertät waren, wollte Vater uns etwas weitergeben, aber er drückte sich so verkürzt und unverständlich aus, dass wir den Sinn nicht erfassen konnten. Ich erinnere mich, dass er uns ein Buch mit vielen Fotos und Berichten hinstreckte, das wohl eines der ersten war, die zu diesem Thema veröffentlicht wurden. Dazu sagte er: »Da, seht euch das an, ich kann das nicht lesen, aber da wird erklärt, was Konzentrationslager waren.« Wir sahen kurz hinein, doch angesichts der Fotos von bis auf die Knochen abgemagerten und zu Haufen aufgeschichteten Leichen, Bergen von Haaren und Zähnen machten wir das Buch schleunigst wieder zu, ohne es zu lesen. Wir wussten, dass es unerträglich für Papa war, wenn wir Fragen stellten, und wir hatten das Gefühl, ihn zu verletzen, wenn wir in ihn dringen würden, denn er wollte diese Erinnerungen, so gut es ging, verdrängen. Als wir einmal in Deutschland auf Urlaub (nicht auf einem Schüleraustausch) waren, fuhr er mit uns nach Dachau, das gleich in der Nähe war. Jeder von uns besichtigte dieses Lager, Allan, als er etwa fünfzehn war, und ich, als ich achtzehn Jahre alt war. Papa sagte kaum etwas, zeigte auch keinerlei Gefühle. Sein einziger Kommentar war: »Da war ich.« Das Lager war nichtssagend, das Einzige, was man sehen konnte, war, dass es sich nicht um einen fröhlichen Ort gehandelt hatte. Das bleierne Schweigen in Bezug auf die Shoah in den Medien wurde erst in den 1970er Jahren gelüftet. Sobald es im Fernsehen auch nur eine Anspielung auf diese Zeit gab, rief unser Vater: »Aber nein! Ich halte das nicht aus!« Sofort stürzte unsere Mutter zum Fernseher und drehte ihn ab. Ein einziges Mal und sehr spät im Leben unseres Vaters, als er schon siebzig Jahre alt war und nicht mehr bei uns wohnte, sah er sich einen Film über die Lager an, weil man ihm gesagt hatte, dass er gut gemacht sei. Es handelte sich um Schindlers Liste. Sein nüchterner Kommentar war: »Das entspricht bei weitem nicht der Wirklichkeit.«

Als wir noch klein waren, war manchmal ein Freund der Familie, ein österreichischer Jude namens Heini Fenster, bei uns zu Besuch. Er war ein wunderbarer Mann, der viel ehrenamtliche Arbeit, besonders in Spitälern, leistete, und Papa betrachtete ihn als einen seiner Brüder. Unser Vater stellte ihn folgendermaßen vor: »Ich habe ihn in Wien kennengelernt und im KZ wieder getroffen. Er war eine große Stütze für Robert und mich auf dem Todesmarsch.« Aber was war der Todesmarsch? Zu Zeiten, in denen es kein Internet gab, waren wir auf Vermutungen angewiesen. Offensichtlich handelte es sich um etwas Furchtbares, wo man besser nicht nachfragte.

Während der zweieinhalb Jahre, in denen Papa und Robert deportiert waren, versteckten ihr Vater, ihre Mutter und ihr jüngster Bruder Erwin sich in Grenoble, während Leo in den Untergrund gegangen war und in der Résistance kämpfte. Sie lebten von dem, was Opa Joseph mit Schwarzarbeit verdiente, aber auch von der Heilsarmee, die sehr wohl wusste, dass es sich um Juden handelte. Auch Armenier unterstützten sie und waren solidarisch mit ihnen, weil sie 25 Jahre zuvor Opfer eines Genozids geworden waren. Oma Yetti hatte es geschafft, von einer protestantischen Organisation, die wie so oft sehr aktiv Juden unterstützte, in Erfahrung zu bringen, dass Kurt und Robert nach Drancy überstellt worden waren. Unsere Großeltern konnten sich leicht vorstellen, wohin man ihre Söhne in weiterer Folge gebracht hatte, denn zu diesem Zeitpunkt gab es bereits erste Informationen. Niemals sprachen Opa Joseph und Oma Yetti darüber, wie sehr sie darunter gelitten haben mussten, zwei ihrer Söhne in Auschwitz zu wissen. Als die Konzentrationslager im Januar 1945 befreit wurden, trafen immer wieder Deportierte und Kriegsgefangene auf den Bahnhöfen der verschiedenen Städte in Frankreich ein. Papas Familie ging, ebenso wie die anderen Familien von Deportierten, mit Fotos auf den Bahnhof in Grenoble und hoffte, einer der Heimkehrer würde die Person erkennen und über ihren Verbleib Auskunft erteilen können, wie das im Hotel Lutétia, dem ehemaligen Hauptquartier der Kommandantur, in Paris geschah, das mittlerweile zu einem Ort des Wiedersehens der Deportierten geworden war. Papa und Robert tauchten nicht auf. Irgendwann hielt Oma Yetti ein Telegramm von Papa in den Händen, der die Adresse seiner Familie wieder einmal über eine protestantische Organisation ausfindig gemacht hatte, die sich bemühte, Familien, in den wenigen Fällen, wo das möglich war, zusammenzuführen. Erwin erinnert sich sehr gut an die Situation, als Oma Yetti das Telegramm öffnete, und an seinen Inhalt: Sind gut nach Frankreich zurückgekehrt. Gesund. Gezeichnet Kurt. Nach der ersten Freude zeigten sich sofort Zweifel auf Omas Gesicht, und sie erklärte: »Das stimmt nicht. Er schreibt zwar wir, aber er ist allein zurückgekommen. Wenn Robert bei ihm gewesen wäre, dann hätte auch er unterschrieben.« Ihr Gefühl trog sie nicht. Papa und Robert waren tatsächlich getrennt worden, und Robert war nicht in Paris.

Bei der Ankunft in Dachau wäre Papa, der Durchfall hatte, fast gestorben und wurde in den Krankentrakt eingewiesen. Robert wurde in ein anderes Lager evakuiert, wo er einen Cousin aus der Zeit in Wien traf, seiner Geburtsstadt, die er sieben Jahre zuvor verlassen hatte. Die Nachrichten erstaunten ihn nicht: Die Mutter des Cousins war sofort bei ihrer Ankunft im KZ vergast worden, sein Vater war durch die Arbeit gestorben. Robert hatte es geschafft, mit einem tschechischen Bekannten, den er zufällig kennengelernt hatte, im Zuge der Panik, die die Nazis erfasste, aus Dachau zu fliehen. Die beiden waren in Richtung Wien unterwegs und versteckten sich vor den Deutschen, als die Lager befreit wurden. Die Feinde vom Vortag wurden zu Freunden, doch das unglaubliche Chaos machte ihre Reise äußerst gefährlich: Nun mussten sie als Deutschsprachige schwören, Juden zu sein! Glücklicherweise sagte ihr körperlicher Zustand genug über ihre Vergangenheit aus. Robert wollte nicht nach Frankreich zurückkehren. Er weigerte sich, seinen Eltern in diesem psychischen wie physischen Zustand unter die Augen zu treten. In Wien wurde er von der französischen Armee angestellt, um Arbeitskräfte zu finden, die den Schutt aus der zerstörten Stadt wegräumen könnten, die er kaum wiedererkannte. Er konnte es sich nicht verkneifen, in die ehemalige Wohnung der Familie zu gehen, in der mittlerweile eine Frau wohnte, deren Mann eingesperrt war, weil er ein Nazi war. Bei dieser Gelegenheit warf Robert alles aus dem Fenster. Er erkundigte sich nach einigen jüdischen Nachbarn, Freunden oder Bekannten, die größtenteils tot waren, und nach einigen Österreichern mit unterschiedlichen ideologischen Einstellungen. Aus diesem Grund bestürmte ihn Opa Joseph bei seiner Rückkehr mit Fragen wie: »Also, war der oder der ein Nazi? Und der?«

Papa fuhr also allein nach Paris zurück. Er kam am Bahnhof Gare d’Orsay an. Dort warteten jüdische Familien auf Deportierte, boten ihnen Unterkunft und Verpflegung an und päppelten sie etwas auf, denn die meisten waren in einem so schlechten Zustand, dass sie es nicht wagten, direkt zu ihren Familien zurückzukehren. Sie waren wie betäubt von dem Unterschied zwischen der Hölle, der sie entkommen waren, und dem rauschenden Leben, das in Paris herrschte. Paris feierte, Paris war befreit! Papa hatte das unglaubliche Glück, auf eine sehr reiche Frau aus dem französischen Adel zu treffen, die mit ihren beiden Töchtern in der Rue de Rennes über dem Kino L’Arlequin, ganz in der Nähe des Hotels Lutétia, wohnte. Eine solche riesige, luxuriöse Wohnung, zu der man direkt mit dem Aufzug fahren konnte, ohne Treppen steigen zu müssen, hatte Papa noch nie gesehen. Einige Monate später kam er zurück, um sich bei diesen wunderbaren Menschen zu bedanken, und konnte es sich nicht verkneifen, Erwin mitzunehmen, um ihm diese Pracht zu zeigen. Papa ging jeden Tag ins Lutétia, um zu sehen, ob er helfen könnte, eine Geschichte über ein Leben zu einem Foto zu erzählen, das man ihm zeigte. Doch das war nur selten möglich, und in den meisten Fällen musste er vom Tod der betreffenden Person berichten. Nur 2600 Menschen von 73.853 Deportierten, unter denen sich elftausend Kinder befanden, waren zurückgekommen. Man fragte die Heimkehrer, welches die letzte bekannte Adresse ihrer Familie in Frankreich gewesen war. Sie wussten nicht, wer von ihnen noch am Leben war und wer nicht und wo sie sich befanden. Oft waren langwierige Nachforschungen notwendig, die häufig ins Leere gingen. Die Vergangenheit war in den meisten Fällen in Rauch aufgegangen.

Papa traf in Paris den Cousin aus Wien wieder und nahm ihn einige Wochen später nach Grenoble mit. Dieser junge Mann, der keinerlei nahe Angehörige mehr hatte, wollte nicht mehr von meines Vaters Seite weichen. Nach einer Nacht, in der eine Familie in Grenoble ihn beherbergt hatte, klopfte er an die Tür unserer Großeltern. Opa Joseph und Oma Yetti hatten zwar kein Geld, dafür aber ein umso größeres Herz und nahmen ihn auf. Beim Pessachfest im April 1945 war Robert aus Wien zurückgekehrt und Leo aus dem Untergrund aufgetaucht. Somit war die ganze Familie wieder vereint. Alle waren sehr mitgenommen, aber keiner fehlte, was ein großes Glück war.

Einige Monate danach gingen die Knolls wieder nach Paris zurück. Papa und Robert fuhren in der Zwischenzeit einmal quer durch Frankreich, weil in Vincennes ein Ball zu Ehren der Deportierten veranstaltet wurde. Alle waren jung, weil die Älteren auf der Stelle vergast worden waren. Und jene, die mehr als dreißig Jahre zählten, starben schnell an der Überlastung durch die Arbeit. Man hatte zwar ein schönes Fest versprochen, vielleicht hofften manche, jemanden kennenzulernen, aber man hatte nicht mit dem Zustand gerechnet, in dem sich die Überlebenden befanden. Papa und Robert kehrten mit düsterer Miene nach Grenoble zurück. Niemand hatte getanzt auf diesem Ball. Die Tanzfläche war leer geblieben, und die jungen Menschen, die rundherum saßen, hielten Fotos in der Hand und waren damit beschäftigt, herauszufinden, ob jemand die entsprechende Person in einem Lager gesehen habe und was mit ihr passiert sei.

Unsere Großeltern ließen sich in Paris in jener Wohnung nieder, die auch wir später noch kannten. Sie bestand aus zwei Zimmern, Bad gab es keines, und die Toiletten befanden sich am Gang. Robert und Papa, die vollkommen unterernährt waren, wurden mehrere Monate lang in einem Therapiezentrum in Beauvais »aufgepäppelt«, das sich auf die Pflege ehemaliger Deportierter, die alle unterernährt oder krank waren, spezialisiert hatte. Ihre Brüder statteten ihnen Kurzbesuche ab. Ein Jahr später lernte Kurt unsere Mutter kennen, die er 1951 heiratete. Die Lebenslust unserer Mutter war für einen Mann, der der Hölle entkommen war, unwiderstehlich. Das Gleiche galt für ihre Gutgläubigkeit — sie war felsenfest davon überzeugt, dass die Welt gut und voller netter Menschen sei.

Veigele — so nannte unser Vater unsere Mutter. Auf Jiddisch bedeutet das Vögelchen. Sie gab ihm den liebevollen Spitznamen »Kuti«. Wir, die wir unsere Mutter später kennenlernten, und zwar aus der Sicht von Kindern und nicht der eines Partners, wir können uns nur versuchen vorzustellen, welcher Sonnenschein unsere Mutter gewesen sein muss, als sie jung und bis über beide Ohren verliebt war.

Unser Vater hatte die feste Absicht, sie so zu verwöhnen, wie sie das verdiente, daher beschlossen die beiden, ihr Glück in Kanada zu versuchen, einem Land, an das unsere Mutter gute Erinnerungen hatte. Vielleicht hatte sogar Opa Émile ihnen die Idee in den Kopf gesetzt. Er hatte sicherlich noch einige Kontakte von früher. Unser Vater war Vertreter — zu Beginn für alles Mögliche: Taschen, Hosen, Autoabdeckungen, er versuchte es mit allem. 1952 erschien Kanada wie ein Eldorado. Es war — und ist immer noch — ein angenehmes und offenes Land. Viele Juden hatten dort während des Krieges Zuflucht und Arbeit gefunden, und manche waren dann endgültig dortgeblieben. Mutter traf ihre Freundinnen, unter anderem Annie, wieder und fühlte sich wie zu Hause, weil sie von 1942 bis 1947 dort gelebt hatte. In Montreal kam am 1. September 1952 Allan, das erste Kind des Paares, zur Welt.

Unsere Eltern hatten überlegt, ihn David zu nennen, aber unsere traumatisierten Großeltern hatten entsetzt ausgerufen: »Und warum malt ihr ihm nicht gleich einen gelben Stern auf die Stirn?«

Allan wurde beschnitten, wie auch ich später. Wenn nicht mehr viel von der religiösen Praxis bei Juden bleibt, dann wird immerhin noch die Beschneidung beibehalten. Die Großeltern Knoll hätten kein Verständnis dafür gehabt, wenn unsere Eltern das nicht gemacht hätten. Sie beabsichtigten nicht, nach der Shoah die Brücken zum Judentum abzubrechen. Sie sorgten dafür, dass Juden sich ihrer Identität wieder bewusst wurden, auch wenn sie nicht gläubig waren. Aber unsere Großeltern hatten beiderseits beschlossen, sich möglichst unauffällig zu verhalten und so wenig wie möglich über ihr Judentum zu sprechen. Wenn wir dieses Thema unvorsichtigerweise bei den Großeltern Knoll aufs Tapet brachten, dann bedeutete Oma Yetti uns, leiser zu sprechen. Da wir in unserer Jugend und Unwissenheit das dumm fanden, sagten wir: »Aber die Eingangstür ist doch zu, keiner kann uns hören!« Darauf antwortete die Großmutter uns: »Ja, aber wenn jemand sein Ohr an die Tür legt, dann kann er uns doch hören!« Das war die Devise: nicht auffallen. Niemals. Nur für den Fall. Genauso verhielten sich auch die Kerbels — sie hatten weniger Angst, waren aber ebenso vorsichtig.

Nach dreieinhalb Jahren kehrten unsere Eltern aus Kanada zurück, weil mein Großvater mütterlicherseits, mein geliebter Opa Émile, große gesundheitliche Probleme hatte. Seit dem Jahr 1955 schlug er sich mit einem Dickdarmkrebs herum. Die Geschäfte unseres Vaters hatten sich in Montreal nicht so entwickelt, wie er es sich erhofft hatte, aber in Wirklichkeit sollte er nie richtig erfolgreich sein, auch wenn er uns, manchmal mit sehr beschränkten Mitteln, in ordentlichen Verhältnissen aufzog. Unsere Eltern ließen sich in der Avenue Philippe-Auguste 36 nieder, wo ich am 10. September 1956 auf die Welt kam. Oder vielmehr im Spital in Neuilly-sur-Seine, in einem schicken, grünen Vorort, wo Opa Émile, der die Geburt des ersten Sprösslings seiner geliebten Tochter verpasst hatte, beschloss, seiner Tochter einen Platz in der damals beliebtesten Geburtsklinik zu verschaffen. Doch meine ersten Schritte machte ich in der Avenue Philippe-Auguste 36, einer Wohnung, aus der wir auszogen, als ich sechs Jahre alt war, um in der gleichen Straße in die Nummer 26 zu übersiedeln, weil dort ein Gemeindebau errichtet wurde, der moderner und komfortabler war, drei Zimmer und einen kleinen Balkon hatte. In diesem Gebäude mit der Nummer 26, die man später auf 30 änderte, wurde unsere Mutter 56 Jahre später mit elf Messerstichen ermordet, ihr wurde die Kehle durchgeschnitten, und sie wurde verbrannt. Sie, die dort so glücklich gewesen war …

Für unsere Mutter war das Leben ein Fest. Und wenn es das nicht war, dann machte sie es zu einem. Sie lachte und tanzte gerne, ging gerne aus und hörte Musik, fühlte sich wohl, wenn sie vor allem ihren Mann, aber auch ihre Freunde um sich hatte oder im Kreise der Familie am Wochenende bei den einen oder anderen Großeltern ein gemeinsames Essen genoss. Sie war nie so gut aufgelegt wie dann, wenn sie sich schick machte, um mit Papa auszugehen. Sie war immer geschminkt, trug Wimperntusche und Lippenstift, war sorgfältig frisiert und gekleidet. Die Kleidung immer Ton in Ton, dazu trug sie passenden Modeschmuck. Sie schaffte es, wie eine feine Dame auszusehen, obwohl die Mittel zu Hause sehr beschränkt waren, sosehr sich unser Vater auch abmühte. Um ihn zu unterstützen, arbeitete sie manchmal für kurze Zeit als Gesellschaftsdame oder Sekretärin für einen Schriftsteller. Was sie traurig machte, war nicht die Tatsache, dass das Geld im Haushalt fehlte, sondern dass unser Vater, damit wir über die Runden kamen, alles Mögliche unternahm und dadurch oft längere Zeit nicht zu Hause war. Er übte den Beruf eines Vertreters zuerst weit weg von der Stadt und später in Deutschland aus. Er bekam eine Kommission für das, was er verkaufte — manchmal Wäsche, manchmal Möbel, er wechselte öfter die Sparte. Wenn er dann am Freitagabend heimkam, war unsere Mutter im siebten Himmel. Manchmal brachte er ihr kleine Geschenke mit. Sie bereitete ihm Mahlzeiten aus der aschkenasischen Küche zu, die er mochte, wie die berühmte polnische Kneidlersuppe, eines seiner Lieblingsgerichte, am besten noch mit Hase in Senfsauce. Das zeigt schon, wie genau sie die Regeln der koscheren Ernährung nahmen, denn eigentlich ist Hase nach den Nahrungsvorschriften des Judentums ein unreines Tier. Unser Vater kannte ebenfalls einige Rezepte und stellte sich manchmal selbst an den Herd, was damals für einen Mann selten war. Er konnte Latkes zubereiten, die berühmten Kartoffelpuffer mit Karotten, Zwiebeln und Eiern, die er in der Pfanne herausbriet. Doch mehr noch als das Kochen zu Hause liebte meine Mutter es, wenn er sie, die sich herausgeputzt hatte, ins Kino, ins Restaurant oder zum Tanzen ausführte.

Wenn unsere Mutter die Wahl gehabt hätte, dann hätte sie ihr Leben mit Ausgehen, Tanzen und Singen verbracht, hätte Menschen getroffen, sich vergnügt und gut gegessen, auch wenn sie auf ihre schlanke Linie achtete, weil sie elegant bleiben wollte. Unsere Eltern gewannen Preise für Walzertanzen. In den 1950er und 1960er Jahren war das Leben in Paris prickelnd und fröhlich, die Menschen wollten den Krieg vergessen. Es wurden Bälle in den Bezirken veranstaltet, Theatercafés schossen aus dem Boden wie Pilze, die Theater waren voll, die Kinofilme strotzten nur so vor Kreativität. Unsere Mutter liebte Filme — vor allen Dingen solche, in denen schöne Schauspieler wie Gabin, Belmondo oder Delon auftraten. Sie ging viel mit uns ins Kino, und wir sahen uns alle möglichen Filme an: jene von Costa-Gavras, Komödien mit Bourvil und Louis de Funès, denn sie lachte gerne, Liebesdramen mit Annie Girardot, bei denen sie mitlitt, und vor allen Dingen Filme mit Romy Schneider, einer Österreicherin, wie unser Vater einer war. Damals wusste man noch nichts über die Vergangenheit der Familie der Schauspielerin im Umfeld von Hitler. Wir sahen mit unserer Mutter romantische Filme wie die von ihr geliebte Love Story und Komödien mit amerikanischen Liebesgeschichten. Ich bin auch ziemlich sentimental, und mittlerweile frage ich mich, ob ich nicht durch die Filme geprägt wurde, die unsere Mutter mit uns ansah. Sie hörte von früh bis spät Musik, auch, als sie schon älter war: Claude François, Piaf, Aznavour, Ferrat, Brel, Bécaud, Joe Dassin, Sardou. Sie kannte die Texte auswendig und sang aus vollem Hals mit. Noch bis kurz vor ihrem Tod sang sie und forderte die Pflegehilfen auf, doch dazu zu tanzen, wenn es ihnen Spaß machte. Und dann war da noch Mike Brant, der nicht unerwähnt bleiben darf.

Unsere Mutter verehrte Mike Brant, nicht, weil er aus Israel kam, das damals ein winzig kleines Land war, das noch nicht die Emotionen hochgehen ließ, sondern weil sie den Mann unglaublich schön fand. Er hatte volle Lippen und jenes strahlende Lächeln, das auch unseren Vater auszeichnete, nach dem sich ebenfalls viele Frauen umdrehten, wenn auch nicht so viele wie nach Mike Brant. Unsere Mutter liebte Männer, wenn sie höflich waren — und obendrein schön. Um sich eine Vorstellung davon zu machen, welchen Stellenwert Mike Brant in unserem Leben einnahm, musste man sich nur die Bilder ansehen, die bei unserer Mutter an der Wand hingen — auch mit achtzig Jahren noch. Da prangten die Bilder aller Männer, die in ihrem Leben eine Bedeutung für sie gehabt hatten, angefangen von ihrem Vater über ihre beiden Söhne, bis zu ihren Enkeln, und dann war da noch ein Eindringling, der kein Verwandter war — Mike Brant. Für sie gehörte er zur Familie. Papa und sein Veigele hatten einen großen Kreis an Freunden, mit denen sie ausgingen, meist jüdischer Abstammung, obwohl wir zu Hause nicht den Glaubensvorschriften folgten und die Freunde ebenso wenig. Man könnte sich fragen, warum es zu diesen Bekanntschaften kam, doch man muss sich der Tatsache bewusst sein, dass das Judentum eine Kultur ist, genauso wie es mehr Gemeinsamkeiten zwischen einem Bretonen und anderen Bretonen als mit jemandem aus Nizza gibt. Im Übrigen kamen alle aus der gleichen Gegend, nämlich aus Osteuropa. Somit ist dieser Zusammenhalt durch die gemeinsame Geschichte erklärbar. Die meisten hatten im Exil gelebt oder waren in Lagern interniert gewesen, waren von ihren Familien getrennt worden, hatten voller Angst im Untergrund gelebt und viele Angehörige verloren. Das ist eine unauflösliche Verbindung, umso mehr, als die Überlebenden wussten, dass sie nicht gehört wurden, nicht einmal von den Angehörigen. Was sie zu erzählen hatten, überstieg alle Möglichkeiten des Begreiflichen und zerstörte alles innerhalb von fünf Minuten. Die Haltung aller Franzosen, jüdisch oder nicht, bestand darin, den Krieg vergessen zu wollen. Die Juden, und insbesondere jene, die Konzentrationslager überlebt hatten, waren durch ihr Schweigen miteinander verbunden. Sie wussten, dass der andere Bescheid wusste. Und das war absolut ausreichend.

Die Geschichte von Jacques und Dolly B., die wir bei einem Ferienaufenthalt in Italien kennengelernt hatten und die sich nicht als Juden fühlten, zeigt, wie komplex Judentum ist. Trotz dieser Abkehr vom Judentum verkehrten sie viel in jüdischen Kreisen. Dolly behauptete von sich, dem Judentum und Israel gegenüber sehr negativ eingestellt zu sein. Sobald wir als Jugendliche verstanden, dass wir Juden waren, fanden wir das einigermaßen seltsam und sehr einseitig. Die B.s hatten ein Wäschegeschäft in der Rue Lafayette im 9. Bezirk, und Allan freundete sich mit ihrem Sohn an. Gleich daneben befand sich ein Modesalon des Ehepaars Suzy und Jacques. Er war ein Überlebender der Shoah und schwieg ebenso wie alle anderen. Mehr als zwanzig Jahre danach beging er Selbstmord. Thérèse und Georges arbeiteten ebenfalls im schmattes, der Konfektionsbranche. Thérèse, Suzy und Mutter waren in der gleichen Klinik unseres Bezirks zur Welt gekommen, eine Gemeinsamkeit, die sie einander näherbrachte. Oft sahen wir auch die »kleine Paulette« und Gérard, die mit Schuhen handelten. Und dann waren da noch Simone und Albert J., die ebenfalls Modekonfektion machten. Simone war eine Jugendfreundin unserer Mutter, die beiden hatten einander kennengelernt, als sie fünfzehn Jahre alt waren. Die J.s hatten einen Sohn und zwei Töchter, von denen ich mit derjenigen befreundet war, die das gleiche Alter hatte wie ich. Mit denjenigen, die Kinder in unserem Alter hatten, gingen wir sonntags in den Park von Saint-Cloud picknicken. Manchmal fuhren wir auch zusammen in die Ferien. Die Freundschaften zwischen den Ehepaaren dauerten oft Jahrzehnte an, die Lebensfreude unserer Eltern wirkte sehr anziehend. Unser Vater war stets zum Scherzen aufgelegt, unsere Mutter kehrte das Veigele hervor. Sie schlossen so schnell Freundschaft, dass Simone, mit der wir immer noch in Kontakt sind, sich erinnert, manchmal einfach kaum zueinanderpassende Paare an einem Tisch gesehen zu haben, die sich erst am Vorabend oder wenig früher getroffen hatten. Alle sagten: »Diese Leute saufen ja wie Löcher« oder »Die sind unglaublich unhöflich!« Aber unsere Eltern sahen nur die guten Seiten an Menschen und versuchten sogar, sie eine Zeit lang zu verteidigen. Auf Bemerkungen wie diese sagten sie nur: »Wirklich? Glauben Sie?«, bevor sie den anderen dann manchmal recht geben mussten.

Sehr oft luden unsere Eltern Freunde zu sich nach Hause ein. Allan und ich hörten sie aus unserem gemeinsamen Zimmer lachen, tanzen und Rummy spielen. Man organisierte sogar Abende in Verkleidung, wie es damals Mode war. Alles war voller Leben, ein wenig Wein und viel Lärm waren auch dabei. Unsere Mutter war im siebten Himmel, sie posierte für Fotos und lächelte ihr reizendstes Lächeln in die Kamera. Man drehte kilometerweise Super-8-Filme — Mutter liebte das. Wir wussten, dass am nächsten Tag ein Festessen auf uns wartete, denn die Frauen sprachen sich untereinander ab und brachten jede etwas zu essen mit. Und irgendwann kam dann der Sonntagabend, und die Laune unserer Mutter verdüsterte sich … Auf dem Sofa sitzend drückte sie sich noch enger in die Arme unseres Vaters und sah in den Schwarz-Weiß-Fernseher, den wir sehr bald erstanden hatten. Sie wusste, dass ihr Kurt am nächsten Tag wieder unterwegs sein würde, während fast alle anderen Frauen aus dem Freundeskreis mit ihrem Mann arbeiteten. Unsere Mutter hielt das kaum aus — und wir auch nicht.

Wir litten sehr unter der häufigen Abwesenheit unseres Vaters, auch wenn Mutter uns sehr liebevoll erzog, kaum je die Stimme erhob und uns mehr oder weniger machen ließ, was wir wollten, wodurch wir in der Pubertät keinerlei Dummheiten machten. Wogegen hätten wir uns denn auflehnen sollen, wo doch ohnehin alles erlaubt war? Wir waren sehr brav. Sie begleitete uns zur Schule unseres Bezirks, bog in der Rue de Montreuil ab, um zur Volksschule in der Rue de Bouvines zu gehen, bis Allan groß genug war, dass er mich hinbringen konnte. Er selbst war im katholischen Kindergarten in der Rue Fabre-d’Églantine gewesen, weil es keinen öffentlichen Kindergarten gab. Es gab keinen Religionsunterricht, dafür aber eine gute Erziehung, auf die unsere Eltern großen Wert legten. Höflichkeit und Achtung waren unverzichtbare Elemente. Unsere Mutter ließ nicht zu, dass wir uns am Abend zu Tisch setzten, wenn wir nicht Hände gewaschen hatten und frisiert waren: »Wenn du dich nicht gewaschen hast, dann gibt’s nichts zu essen!« Sie musste nicht erst ihre Stimme erheben — wir hatten schnell verstanden, wie das Leben in unserer Familie funktionierte. Unsere Noten waren mehr oder weniger in Ordnung, und niemand verlangte mehr von uns. Doch die Präsenz des Vaters fehlte uns.

Allerdings war die Autorität unseres Vaters ungefähr wie die unserer Mutter — gegen null. Ich erinnere mich, dass er uns eines Tages — ein einziges Mal? — bestrafen wollte, wahrscheinlich, weil wir spätabends noch im Zimmer herumtollten. Er versohlte uns den Hintern — allerdings nicht, ohne vorher eine dicke Decke untergelegt zu haben … mit dem Ergebnis, dass wir nichts spürten und vor allem unbändige Lust hatten, über den Zorn unseres Vaters zu lachen, der es nicht einmal schaffte, zu schreien, sondern einfach immer nur wiederholte: »Das gefällt mir gar nicht!« Ich glaube, er hatte sein Leben lang genug von Gewalt und Autoritarismus. Er war extrem nett. Auch wenn er sich nicht alles gefallen ließ, ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Wenn er am Ende der Woche von seinen Reisen zurückkam, dann verspürten wir so etwas wie ein Sicherheitsgefühl, vielleicht deshalb, weil wir verstanden, dass unsere Mutter immer noch wie ein junges Mädchen war, das niemals erwachsen werden würde. Seine Gelassenheit und Reife vermittelten uns Ruhe. Deshalb waren wir unserer Mutter oft böse, weil sie ihn, oft von dem Augenblick an, an dem er die Schwelle übertrat, für sich haben wollte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sich ein Glas guten Weins eingeschenkt, seinen Pyjama angezogen und wäre bald zu Bett gegangen. Er war keiner, der immer zu Hause hockte, in den Ferien ging er gern aus. Aber da er die ganze Woche weit weg von zu Hause war, musste er am Wochenende seine Eltern oder Schwiegereltern besuchen, etwas Zeit mit seinen Kindern verbringen, und die zwei Tage vergingen im Nu, ohne dass er auch nur zum Durchatmen gekommen wäre. Ich glaube, dass sein Veigele ihn manchmal ermüdete. Mit der Ungerechtigkeit eines Jugendlichen sagte ich damals oft voller Überzeugung, dass mir unser Vater lieber war als unsere Mutter. Wir vergötterten ihn, weil er nie da war. Ich wusste nicht, welches Glück es sein kann, einen fröhlichen Vogel um sich zu haben.

Unsere Großeltern mütterlicherseits und väterlicherseits waren von Grund auf verschieden. Doch wir mochten beide Haushalte, denn überall kamen wir auf unsere Rechnung — sowohl, was die Zuneigung, als auch, was das Essen betraf. An den Sonntagen und hohen jüdischen Feiertagen Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, Jom Kippur, Pessach, zum Sabbatessen am Freitagabend oder, bei den Großeltern väterlicherseits, manchmal am Samstag zu Mittag, gingen wir entweder zu den einen oder den anderen Großeltern. Der Unterschied war augenscheinlich: Die Knolls waren traditionalistisch, aßen koscher, gingen jede Woche in die Synagoge, während die Kerbels nur einmal, an Jom Kippur, die Synagogue Tournelles ganz in ihrer Nähe besuchten. Unsere Großmutter väterlicherseits zündete am Freitagabend die Sabbatkerzen an, ohne das Ritual jedoch so weit zu treiben, dass sie das Licht nicht aufgedreht oder keinen elektrischen Strom verwendet hätte. Sie hatte gerne einen oder mehrere ihrer Söhne in Begleitung von Kindern und Ehefrauen um sich, die alle Jüdinnen waren, zumindest zur Zeit der ersten Ehen. Die Familien der Brüder unseres Vaters, unsere Onkel und ihre Ehefrauen, waren keineswegs religiös, ebenso wenig wie wir. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass den Kindern unseres Onkels Leo bewusst ist, dass sie Juden sind. Nach der Shoah ließen viele Juden die Religion, den Glauben und / oder die Rituale hinter sich.

Ganz besonders liebte ich Onkel Max, der für mich noch immer vom Glanz seiner Vergangenheit als Boxer überstrahlt war und den wir am häufigsten zu Gesicht bekamen, weil er ganz bei uns in der Nähe wohnte, ebenso wie Onkel Erwin, der Papa emotional am nächsten stand. Onkel Robert und Onkel Erwin waren die Intellektuellen der Familie unseres Vaters. Papa und Robert waren zwar gemeinsam durch die Hölle gegangen, doch das hatte sie einander keineswegs nähergebracht. Sie hielten immer einen Sicherheitsabstand zueinander, vielleicht um nicht an die schlimmen Dinge erinnert zu werden, die sie durchgemacht hatten. Die anderen Knoll-Brüder übten im Laufe ihres Lebens mehrere Berufe aus, meist in Paris, doch sie trafen einander nur selten, außer bei ihren Eltern. Manchmal erzählte Papa nur, dass er mit diesem oder jenem seiner Brüder ein Glas Wein getrunken habe. Das Leben hatte sie schlecht auf enge Familienbande vorbereitet. Väterlicherseits hatten wir somit mit unseren Cousins ein eher lockeres Verhältnis.

Bis zum Tod von Großvater Joseph in den 1970er Jahren und Großmutter Yetti, die in den 1980er Jahren starb, gab es bei den Knolls immer ein Ritual. Solange wir uns erinnern können, und selbst, als wir schon groß waren, lief unsere Großmutter, sobald sie uns die Tür geöffnet hatte und egal, wie spät es war, sofort in die Küche. Dort bereitete sie uns unser Lieblingsgericht Zwiebeles mit Eier, wie sie auf Jiddisch sagte, zu. So lernten wir die Grundlagen der Sprache — Allan viel besser als ich, weil er vier Jahre älter war. Oma Yetti hackte mit einer beeindruckenden Geschicklichkeit die Zwiebel und die harten Eier in ihrer Handfläche, gab Salz, Pfeffer und etwas Öl dazu, vermischte alles, und schon war unser Lieblingsgericht fertig. Wir genossen es! Die Großeltern Knoll hatten keinen Groschen, sie waren mit leeren Händen ins Exil gegangen und lebten nun als Pensionisten ohne Pension. Sie verreisten nicht, gaben kein Geld aus, und doch waren sie unglaublich warmherzig. Sie hatten sich trotz vieler schwieriger Umstände immer gut um ihre Kinder gekümmert, und nun unterstützten ihre Kinder sie finanziell, zumindest jene, die sich das leisten konnten. Unser Vater gehörte wohl kaum zu jenen, die viel zu ihrem Unterhalt beitrugen. Opa Joseph sprach den Kiddusch und Ha-Mozi lechem, die Segnung von Wein und Brot, beim Sabbatmahl. Er kannte auswendig die Haggada, die Erzählung der Geschichte der Juden und ihres Exils in Ägypten, die man am Vorabend des Pessachfestes zur Erinnerung rezitiert und die, weiß »Gott«, lang ist. Die jüdischen Feste feierten wir oft bei ihnen. Die Frömmigkeit der Knolls hatte etwas Sentimentales. Sie waren einfache Menschen, die nicht viel mehr vom Leben verlangten, als nicht leiden zu müssen. Sie hatten keine Vorstellung von Politik und schrieben niemandem irgendetwas vor. Sie gaben uns hauptsächlich die menschliche Wärme des Judentums weiter. Ich glaube nicht, dass sie eine genaue Vorstellung davon hatten, wo sich Israel befand, und sie kommentierten in keiner Weise die geopolitische Lage. Sie waren wie Papa tief in ihrem Herzen nach wie vor Österreicher. Ihr ganzes Leben war in diesem Land geblieben, und sie wussten, dass sie es sich nicht noch einmal aufbauen würden können.

Bei den Kerbels sah es ganz anders aus — sowohl, was den Alltag, als auch, was das religiöse Leben betraf. Es war ungefähr wie bei uns zu Hause, wo unsere Mutter an Jom Kippur fastete — so lange, bis sie am Nachmittag einfach zu hungrig war … Was allerdings die kulinarische jüdische Tradition betraf, so konnten die Kerbels es sehr wohl mit den Knolls aufnehmen, und sie hatten auch andere finanzielle Möglichkeiten. Daher gab es bei jeder Mahlzeit Fleisch, weshalb unsere Mutter uns, wenn zu Hause Schmalhans Küchenmeister war, zu unseren Großeltern schickte, damit wir uns ordentlich sattessen konnten. Ich erinnere mich, wie der »große« Allan mich von der Metro-Station Nation zu ihnen in die Rue de Turenne 41 führte, die sie immer noch mieteten. Dort diskutierten wir gerne mit Oma Sarah, die eine kluge Psychologin mit viel Hausverstand war und die Fähigkeit hatte, einem gute Ratschläge zu erteilen. Von Zeit zu Zeit trafen wir dort Jacques, den Bruder unserer Mutter, Allans Lieblingsonkel, und unsere Cousine Patricia, die etwas jünger war als wir. Unser Vater verstand sich gut mit Jacques. Er war nicht nur sein Schwager, sondern auch sein alter Jugendfreund, dem er die Bekanntschaft mit unserer Mutter und die Heirat verdankte. Von Zeit zu Zeit trafen die beiden einander auf ein Gläschen, denn beide hatten eine Vorliebe für guten Wein. Manchmal nahmen wir Patricia in die Ferien mit, denn sie lebte nun mit ihren Eltern bei Oma Sarah. In der Tat wollten Onkel Jacques und seine Frau unsere Großmutter nicht allein lassen, nachdem Opa Émile seine Frau zurücklassen und sich in medizinische Behandlung begeben hatte müssen. So lautete zumindest die offizielle Version …

Allan hatte seine Bar-Mizwa mit dreizehn Jahren bereits hinter sich, als ich mich auf die meine vorbereitete. Ich hatte mitbekommen, wie er die Thora auf Hebräisch in der Synagoge de la Victoire vortrug, wo der Rabbiner, der ihn instruierte, auch heute noch tätig ist. Allan war sehr beeindruckt, ebenso wie ich. Ich begann meine eigene Parasche zu studieren, jene Passage des biblischen Textes, die sich jede Woche ändert und die man an dem vorher bestimmten Tag vor der gesamten in der Synagoge versammelten Gemeinde lesen und analysieren muss. Es ist eine frühe Lektion in Ethik und Philosophie. Ich hatte natürlich Lampenfieber. Einige Zeit vor dieser »Prüfung« waren wir, wie so oft, mit Oma Sarah in den Ferien, die wir häufig mitnahmen, seit Opa Émile krank war. Ich lag also still in meinem Bett, hatte mich im kalten Winter in den Bergen an meine Oma geschmiegt und flüsterte ihr zu: »Ich hätte gerne, dass Opa Émile zu meiner Bar-Mizwa kommt.« Schon seit Jahren hatte er sein Altersheim nicht mehr verlassen. Da begann meine Großmutter zu weinen — und ich verstand auf der Stelle, dass er tot war.

Bevor ich Trauer verspürte, wurde ich sehr zornig, dass man mir etwas so Wichtiges verheimlicht hatte. Ich hatte Großvater Émile sehr geliebt. Er war 1962 gestorben, und man hatte mich sieben Jahre lang belogen! Die ganze Zeit über hatte man mir falsche Nachrichten überbracht. Meine Großmutter rechtfertigte sich damit, dass sie mir nicht wehtun habe wollen. Es war eine typische Haltung, nicht nur gegenüber dem Tod, sondern selbst gegenüber der Vorstellung vom Tod: nichts sagen, nicht darüber sprechen, ein Geheimnis daraus machen. Nur nichts tun, was zornig oder traurig macht. Seit dieser Erfahrung habe ich einen Horror vor Geheimnissen: Ich habe meinen Kindern nie irgendetwas verheimlicht.

Der Tod meines Großvaters war die Erklärung dafür, warum Onkel Jacques, seine Frau und Patricia bei Oma Sarah in die große Dreizimmerwohnung in der Rue de Turenne 41 eingezogen waren, die sie dann, dank der finanziellen Hilfe von Oma Sarah, kaufen konnten. Auch mein Bruder Allan hatte dichtgehalten. Zum Zeitpunkt des Todes unseres Großvaters Émile war er zwar auch nicht informiert worden, erfuhr aber zwei Jahre danach ebenfalls unbeabsichtigt davon. Oma Sarah und Mutter waren wie jeden Donnerstagnachmittag mit ihm zu den weitläufigen Grünflächen am Place des Vosges gefahren und hatten dort leise Jiddisch miteinander gesprochen, als Mutter Oma zugeflüstert hatte: »Pst! Er weiß es nicht!« Sofort hatte Allan gefragt, was er nicht wisse, und da verriet man ihm die traurige Wahrheit. Obwohl er seinen Großvater im Spital besucht hatte, hatte man ihn, jedes Mal, wenn er nach ihm fragte, belogen: »Es geht ihm gut, es geht ihm gut.« Allan hatte mir gegenüber geschwiegen, weil er sehr an Opa Émile gehangen hatte und mir den Schmerz ersparen wollte, den er empfand. Ich hatte einen sehr netten älteren Bruder, und das ist bis heute so geblieben.

Später erzählte uns unsere Mutter, wie sehr sie unter dem Tod ihres Vaters gelitten habe, was ich damals nicht bemerkt hatte. Er war ihr Vater, aber auch ihr Held, die sichere Stütze der Familie. Sie war dreißig Jahre alt, als er starb, und bis zu seinem Ende verwöhnte und behandelte er sie, als sei sie noch ein Kind. Ich erinnere mich, wie Opa Émile, als wir einmal die Großeltern in der Avenue Philippe-Auguste besuchten, furchtbar zornig auf Mutter wurde. Als Kind war ich äußerst verwundert darüber, dass unsere Mutter auf viel heftigere Weise zurechtgewiesen wurde als wir. Ich weiß nicht, was sie falsch gemacht hatte, aber Dummheiten waren ihr durchaus zuzutrauen. Unsere Mutter behielt ihr ganzes Leben etwas Kindliches, Naives bei, sie weigerte sich, die Verantwortung des Erwachsenenalters auf sich zu nehmen, und schaffte es nie, richtig zu kalkulieren. Oder genauer gesagt, sie konnte gar nicht kalkulieren. Diese mangelnde Fähigkeit, vorauszuplanen, verursachte einige Jahre später einen großen finanziellen Verlust — aus Liebe, natürlich. Da unsere Mutter sehr unter der Abwesenheit unseres Vaters litt, hatte sie sich in den Kopf gesetzt, dass er ein Geschäft eröffnen sollte. Schließlich machten das fast alle in ihrem Umfeld. Dadurch würden sie ein Leben wie jedes andere Ehepaar führen können, so wie unsere Mutter es sich wünschte, mit einem Mann, der nie von ihrer Seite wich, sie mit Liebe überhäufte und ihr Sicherheit vermittelte. Zu Beginn der 1970er Jahre, in unserer frühen Pubertät, fand unser Vater eine Damenmodenboutique in der Rue Louise-Michel. Aber man musste eine Garantie hinterlegen, und unser Vater hatte keinen Groschen. Mutter hatte von ihrem Vater das Werkstattlokal in der Rue d’Aboukir 71 geerbt, das vermietet war und Oma Sarah ein wenig Geld einbrachte. Jacques hatte wiederum das Wohnrecht in der Wohnung in der Rue de Turenne geerbt und lebte dafür mit seiner Mutter. Natürlich zögerte unsere Mutter keine Sekunde, als sie eine Hypothek auf die Rue d’Aboukir aufnahm. Was würde man nicht alles machen, um seinen Mann an der Seite zu haben, wenn man Mireille Knoll hieß? Doch unser Vater war zwar ein guter Vertreter, aber absolut kein Unternehmer. Er musste Bestellungen aufgeben, die Buchhaltung machen, sich um Kunden kümmern — was einerseits zu viel für eine Person war und ihm andererseits nicht lag. Vielleicht hätte unsere Mutter ihn unterstützen müssen. Er hatte auch den Eindruck, dass das Lokal auf der falschen Straßenseite lag. Jedenfalls musste unser Vater nach einem Zeitraum von nur zwei Jahren, in dem bei uns manchmal sogar schon die Gerichtsvollzieher vor der Tür gestanden hatten, die Firma zusperren. Dadurch verlor unsere Mutter ihr Erbe und Oma Sarah ihre karge Einnahmequelle. Unser Vater versuchte, das nach besten Kräften wiedergutzumachen und auszugleichen. Bereits in diesem frühen Jugendalter lernten wir den Wert von Geld kennen, weil wir sehr oft keines hatten.

Unser Vater musste mit seinem Geschäft einen Misserfolg einstecken, aber ich glaube, dass es ihm auch keine Freude machte. Er war nicht für Sesshaftigkeit gemacht, es langweilte ihn, jeden Abend zur gleichen Stunde heimzukommen. Der Beruf eines Vertreters war zwar anstrengend, bedeutete für ihn aber eine gewisse Form von Freiheit, und er wollte sich nicht mehr einsperren lassen. Also kehrte er wieder zu seinem alten Beruf zurück und verkaufte französische Weine auf Messen, zuerst im Osten von Frankreich, dann in der Schweiz und schließlich längerfristig in Deutschland, wo französische Weine sehr geschätzt werden. Außerdem fühlte unser Vater sich dort wohl.

Dort sprach man seine eigene Sprache, jene Sprache, in der er die Zeitung las. Unser Vater assoziierte Deutschland keineswegs mit dem Land der ehemaligen Nazis, im Gegensatz zu vielen Juden, die die Shoah durchgemacht hatten. Er machte zu Recht einen Unterschied zwischen dem Volk der Deutschen und den Nazis, die dieses regiert hatten, auch wenn manche Deutsche sie an die Macht gebracht hatten, zumindest die Vorfahren der Deutschen. Kinder sind nicht für die Verbrechen ihrer Eltern verantwortlich.

Wir mochten Deutschland, weil wir regelmäßig die Urlaube mit unserer Familie dort verbrachten, auf die unser Vater niemals verzichtete und für die er sich finanziell ausblutete. Wir lernten Deutsch als erste Fremdsprache in der Schule, und nach einigen Ferienlagern und Urlauben konnten wir uns auch in dieser Sprache verständigen. Nun versuchten wir auch zu verstehen, was unsere Eltern sagten, wenn sie Jiddisch miteinander sprachen, was sie immer dann taten, wenn sie nicht wollten, dass wir sie verstanden — mit mehr oder weniger Erfolg. Mutter sprach selbst bald gut Deutsch. Es war ihre fünfte Sprache, die sie aktiv beherrschte, nach Jiddisch, Französisch, Portugiesisch und Englisch. Mich zog es später nie mehr nach Deutschland, während Allan weiterhin mit seiner Frau hinfuhr und sich am Zauber der Musik und der Gedichte erfreute.

Allerdings hörte ich bei einem Ferienlager in einem Bus voller nichtjüdischer Jugendlicher, wie jemand rief: »Du bist verrückt wie ein Jude!« Natürlich war es nur ein Witz, aber diese Beschimpfung verletzte mich dennoch. Ich war sehr erstaunt darüber, denn in der Schule im 11. Pariser Gemeindebezirk verkehrten Juden, die bereits seit langer Zeit ansässig waren, mit Arabern aus Nordafrika, die erst vor kurzem eingewandert waren, und mit anderen Personen, die keine Juden waren, ohne dass jemals irgendeine Beschimpfung laut geworden wäre. Als Einziger gegen alle sagte ich nichts. Aber wie hätte ich mich danach nicht als einer fühlen sollen, der »anders« ist? Klarerweise dachte ich mir, dass es vorsichtiger wäre, wenn ich schwiege. Damit der Blick der anderen sich nicht änderte. Dabei litten weder Allan noch unsere Eltern, noch ich weder zum damaligen Zeitpunkt noch später unter Antisemitismus. Unser Äußeres entspricht nicht den rassistischen Stereotypen. Wie alle wissen, hat ein polnischer Jude oder ein algerischer Jude viel mehr mit der lokalen, nichtjüdischen Bevölkerung gemeinsam als die Juden untereinander, was schon genug über gemischte Verbindungen aussagt, die offiziell oder inoffiziell immer existierten, auch wenn einige das gar nicht gerne hören.

In Deutschland besichtigten wir Schlösser, Kirchen, Synagogen, Museen, und manchmal nahmen unsere Eltern an Tanzwettbewerben teil. In der Zwischenzeit ließen sie uns im Kinderheim, wo die Kinder beaufsichtigt wurden. Es kam vor, dass die Aufsichtspersonen uns in die Kirche mitnahmen und uns nur baten, nicht zur Kommunion zu gehen. Einmal pro Jahr fuhren wir nach Bad Reichenhall, eine Therme in der Nähe von München, wo unser Vater eine Kur machte, um seine Atemwegsprobleme zu lindern, unter denen er litt, seit die Kapos ihm seine Nasenscheidewand zertrümmert hatten. Es mag verrückt erscheinen, nach Deutschland zu fahren, um eine Therapie für gesundheitliche Schäden zu machen, die von den Nazis verursacht worden waren, aber unser Vater sah die Dinge nicht so. Für ihn war es, als hätte die Kultur, aus der er kam, einen Bürgerkrieg durchgemacht: Es gab Ungeheuer, aber nicht alle waren solche Monster, und es war und blieb seine Welt. Wir spürten, dass er sich zwischen den Bergen und Wäldern, die einen idealen Hintergrund für Sissi abgegeben hätten, wohlfühlte.

Wir hingegen hatten eine Vorliebe für den Süden. Wir machten im Opel unseres Vaters weite Reisen. Unsere Mutter hatte keinen Führerschein, sie zog es selbstverständlich vor, sich chauffieren zu lassen. Sie liebte es, wenn wir auf Reisen gingen, egal wohin, solange wir nur eine andere Umgebung, andere Menschen und eine andere Art zu leben kennenlernten. Wenn Papa am Steuer saß, sang er mit Vorliebe fröhliche Tiroler Lieder. Wir waren oft in Italien, in Jugoslawien, in der Schweiz und sogar in Österreich, alles Länder, die wir mit dem Auto erreichen konnten, weil uns für das Flugzeug das Geld fehlte. Wir machten Ferien in Wintersportorten und am Meer, besonders in Trouville, wo unser Vater des Öfteren eine Wohnung für einen ruhigen Urlaub mietete und Schlauchboot fuhr. Mutter mochte alles — das Meer, das Gebirge —, solange wir nur hinauskamen und Papa bei uns war. Von ihr lernten wir, Reisen und andere Menschen zu schätzen, uns für andere zu interessieren und sie zu mögen. Sie war eine sehr zärtliche Mutter und zeigte offen ihre Zuneigung zu Papa, aber ihre Familie allein wäre ihr nicht genug gewesen, auch wenn sie ihre Grundlage war, von der aus sie sich anderen gegenüber öffnete. Immer unterhielt sie sich mit den Menschen am Nachbartisch im Restaurant, machte Bekanntschaft mit den Nachbarn am Strand und schlug vor, gemeinsam zu einem Konzert oder Volksfest zu gehen. Alles war recht, wenn sie sich nur richtig unterhalten konnte. Papa folgte ihr, angesteckt von der Freude seines Veigele, die alle mit sich riss, die um sie herum waren.

Erst heute, wo wir einen gewissen Abstand haben und andere Erziehungsmethoden kennen, wissen wir, wie offen und großzügig unsere Eltern waren. Bei uns stand die Liebe im Mittelpunkt, sie war ein geheiligter Wert. Unsere Mutter war sehr liebevoll und bereitete uns unsere Lieblingsmahlzeiten zu, ohne deshalb jedoch zur Karikatur einer jüdischen Mutter zu werden, die ständig wiederholt: »Iss, mein Sohn!« Viel lieber aß sie im Restaurant bei Kerzenlicht. Wir konnten tun und lassen, was wir wollten. Im Lycée machte ich meine Pubertätskrise durch, fühlte mich einsam, die Noten wurden schlecht, und ich wechselte in eine Privatschule. Rückblickend schäme ich mich dafür, weil diese zusätzlichen Ausgaben ein Luxus waren, den meine Eltern sich eigentlich nicht leisten konnten. Allan war ruhiger, das war er sich als Älterer schuldig. Da Allan und ich ein Zimmer teilten, aber jeder Raum für sich brauchte, waren unsere Eltern sogar bereit, uns ihr Schlafzimmer zu überlassen, und begnügten sich mit dem Sofa im Wohnzimmer. Jahrelang nahmen sie dieses Opfer auf sich, so lange, bis wir den elterlichen Haushalt verließen. Selbst wenn man bedachte, dass unser Vater — zum Leidwesen unserer Mutter — manchmal zwei oder drei Wochen in Folge nicht zu Hause war, während derer sie ihn dann manchmal, mit oder ohne uns, in Deutschland besuchte, war das sehr großzügig. Im Gegenzug dafür machten wir keinerlei Dummheiten. Wir spielten Schach, Allan hörte klassische Musik in ohrenbetäubender Lautstärke, und ich machte Kampfsport.

Wir wurden nicht gefragt, was wir taten, und auch nicht, welche Bekanntschaften wir hatten. Wir durften Freunde und Klassenkollegen mit nach Hause bringen, ohne dass man uns über sie ausfragte, später dann auch Mädchen. Mutter nahm jeden und jede auf, ohne irgendeine Bemerkung zu machen, sogar dann, wenn Mädchen bei mir übernachteten. Ich muss gestehen, dass ich ihr nicht wenige junge Damen jeder Art und Nationalität vorstellte. Muss ich noch dazusagen, dass es ihr gleichgültig war, ob es sich um Jüdinnen handelte oder nicht? In der Tat waren eher wenig jüdische Freundinnen darunter, was einfach statistische Gründe hat: Die jüdische Bevölkerung Frankreichs beläuft sich nur auf ein Prozent, weshalb wir es gerne hätten, wenn wir weniger oft das Gesprächsthema wären und nicht gezwungen wären, uns zu tragischen Themen zu äußern. Unsere Mutter verhehlte nicht, dass sie Jüdin war, und setzte damit der Familientradition des Schweigens ein Ende, aber sie war auch nicht missionarisch. Solange wir glücklich waren, reichte ihr das. Sie versuchte in keiner Weise, uns zu verheiraten, und im Übrigen hätte sie damit auch keinen Erfolg gehabt, denn sie hatte uns so sehr beigebracht, wie wichtig Freiheit ist, dass wir ihr nicht gehorcht hätten. Dass wir unser Leben in vollen Zügen genossen, störte sie natürlich nicht, denn das war genau das, was auch sie tat, selbst wenn sie sich dabei auf einen einzigen Mann beschränkte. Das einzige Mal, als ich meine Mutter beunruhigt sah, war während der Ereignisse von Mai 1968, als Allan, der noch im Gymnasium war, aber schon eine ausgeprägte soziale Ader hatte, Mitglied des Französischen Roten Kreuzes wurde und bei den Barrikaden zum Einsatz kam. Sie hatte Angst, dass ihm in einer Auseinandersetzung mit den Einsatzkräften etwas zustoßen könnte. Im Grunde war sie eine nicht allzu besorgte Mutter, ebenso wenig wie Papa, außer dass die Geschichte ihn gezeichnet hatte. Als er die Ausschreitungen auf der Straße und die Unentschlossenheit der Regierung sah, beschloss er aus Vorsicht, dass wir nach Mondorf-les-Bains in Luxemburg ziehen würden, bis die Lage sich wieder beruhigt hätte. Im September begannen wir mit der Schule in dieser kleinen Thermalstation, bevor wir im Laufe des Herbstes wieder in unsere Wohnung in der Avenue Philippe-Auguste zurückkehrten. Ein Trauma in der Größenordnung einer Deportation kann man wohl nie zur Gänze überwinden.

Juden haben die Angewohnheit, nach vorne zu schauen, um nicht voller Verbitterung und mit Rachegelüsten zu leben, die man ohnehin kaum angemessen befriedigen könnte, wenn man sich für die Shoah revanchieren wollte. Die Gründung von Israel im Jahre 1948 wurde zu Hause kaum kommentiert. In den Augen vieler europäischer Juden, unter anderem meiner Eltern, handelte es sich um eine von den Vereinten Nationen gefundene Lösung, die darauf abzielte, einen neuen Anfang zu setzen: Von nun an würden die Juden ein Land haben, wo sie in Frieden und Sicherheit leben könnten, ein Land, dessen offizielle Religion der Bevölkerungsmehrheit das Judentum wäre und wo diejenigen, die sehr orthodox waren, sich nicht fühlen würden, als stünden sie im Widerspruch zum Rest der Welt: Samstag war der offizielle Ruhetag, die Nahrung war koscher etc. Ich war nie der Ansicht, dass Gott den Juden ein Land gab, ebenso wenig wie die Entscheidungsträger in den Vereinten Nationen dies dachten. Ganz einfach deshalb, weil ich nicht an Gott glaubte.

Auch für Allan, der ein religiöser Mensch ist, ist die Gründung Israels keine Sache des Glaubens. Im Übrigen hat der ursprüngliche Zionismus sozialistische Wurzeln und ist links angesiedelt. Sein Ideal sind Gleichheitsbestrebungen und soziale Gerechtigkeit. Die Mehrheit der Israelis war nicht religiös, heute gilt das etwa noch für die Hälfte der Bevölkerung. Bis 1967 gab es in Israel Zusammenstöße, Massaker und Gewalttaten. Gleich bei der Staatsgründung im Jahr 1948 kam es zu einem ersten Krieg mit den ursprünglichen Einwohnern Palästinas, die von Anfang an, und im Gegensatz zu der von den Vereinten Nationen vertretenen Meinung, die Teilung nie akzeptieren wollten. Die UNO dachte wohl, dass die jüdischen und arabischen Bewohner Palästinas sich schon arrangieren würden … Unsere Eltern interessierten sich für das Geschehen in diesem Land etwas mehr als für Nachrichten aus anderen Ländern, aber wir waren Kinder, und es kam nicht in Frage, dass wir in den Ferien hinfuhren, schon deshalb nicht, weil unsere Mittel es uns nicht erlaubten, mit dem Flugzeug in ferne Länder zu fliegen.

Als Israel 1967 angegriffen wurde und der Krieg in allen Medien kommentiert wurde, war es für mich daher das erste Mal, dass ich mich als Jude fühlte. Ich wusste, dass die »Unseren« attackiert wurden. Diese Gefühlsregung hatte natürlich nichts mit einem politischen Standpunkt zu tun. Ich war elf Jahre alt, aber trotzdem erklärte ich meinen Eltern, dass ich in den Kampf ziehen wollte, was diese erheiterte. Gegen alle Erwartungen gewann Israel, ein junges und alleinstehendes Land, gegen mehrere arabische Armeen und errichtete neue Grenzen rund um die eroberten Gebiete. Darauf folgten die Proteste, die wir alle kennen und die sich seither nur noch ausweiteten.

Wir fuhren auf Ferienlager — manchmal auf jüdische, manchmal auf solche, die mit unserem Glauben nichts zu tun hatten. Unsere Eltern weigerten sich, uns abgeschottet vom Rest der Gesellschaft zu erziehen, denn auch sie lebten nicht so. Allan stand zu seinem Judentum. Kollegen hatten ihn gefragt: »Bist du vielleicht Jude?«, und diese Frage hatte nicht wirklich nett geklungen. In einem Alter, wo mein Bewusstsein erst zu erwachen begann, war er bereits fünfzehn Jahre alt — ein Alter, in dem man sich die großen ethischen Fragen stellt. Als Gymnasiast und später als Student nahm er an Debatten und philosophischen Gesprächen teil und beteiligte sich am Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus. Insgesamt war er viel ernsthafter als ich. Allerdings lehrten unsere Eltern uns nicht, ein Leben zu führen, das von der jüdischen Identität durchdrungen war, und noch weniger brachten sie uns Angst vor Antisemitismus bei. Sie fürchteten sich nicht mehr. Niemand hatte mehr Angst.

Man fühlt sich als Jude, wenn man spürt, dass es gefährlich ist, Jude zu sein, oder wenn man versteht, dass dies zu einer bestimmten Zeit in der Vergangenheit der Fall war. Das Bewusstsein meines Judentums wurde konkreter, als ich die Geschichte klarer verstand, als das im Unterricht in der Schule der Fall war. Meine Eltern nahmen das Angebot einer jüdischen Vereinigung an, die für die Information und die Förderung der Alija*13 in Frankreich arbeitete, und schickten mich nach Israel, wo sie selbst noch nicht gewesen waren. Damals war ich vierzehn Jahre alt. Unsere Gruppe fuhr gemeinsam nach Yad Vashem*14, einem gigantischen Dokumentationszentrum und einer Gedenkstätte der Shoah auf einem Hügel im Westen Jerusalems. Der Name des im Jahr 1953 erbauten Zentrums stammt aus einem Satz aus der Bibel aus dem Buch Jesaja: »Ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal (Yad), ich gebe ihnen einen Namen (Vashem), der niemals getilgt wird.« Das Prinzip ist dasselbe wie jenes der Kriegerdenkmäler, die man in jedem französischen Dorf findet und wo die Namen der Opfer in Stein gemeißelt sind, um ihr Andenken zu bewahren. In diesem Fall ging es darum, den Menschen eine Identität zu verleihen und damit eine symbolische Beerdigung zu geben. Im Falle mehrerer Hundert Menschen kam noch ein Gesicht und eine kurze biographische Anmerkung hinzu, um uns an die konkrete Existenz dieser Menschen als Beispiele unter vielen anderen zu erinnern. Eines Tages gingen wir zu den Mauern dieses Saals, wo der Name von zweieinhalb Millionen Deportierten eingetragen ist. In Registern sind alle Namen zu finden, nämlich 6.500.000 Namen.

Da geschah etwas, was ich nicht erwartet hatte: Ich weinte. Und während der nächsten zwei Tage passierte mir das noch öfter. Ich wusste, dass sich unter diesen Namen auch der unseres Vaters und Onkel Roberts befanden, die überlebten, sowie jener von Nathan Finkel, dem Bruder von Oma Sarah und dem Vater von Cousine Huguette, der niemals wieder zurückkam.

Später, als ich schon erwachsen war, führte ich meinen Vater zu dieser Gedenkstätte. Ich zeigte ihm ebenfalls den Garten der Gerechten, wo jeder Baum zur Ehrung eines der Gerechten gepflanzt wurde, der Juden im Zweiten Weltkrieg geschützt hatte. Es gab allerdings mehr Gerechte als Bäume. Die Namen von etwa 30.000 Personen sind auf einer Gedenktafel eingraviert, und ein weiteres Denkmal wurde für all jene errichtet, die anonym geblieben waren. Da sah ich, dass auch mein Vater sehr betroffen war, ebenso wie ich beim ersten Mal. Er dachte sicherlich an jene, die ihm geholfen hatten, seine Familie in Grenoble wiederzufinden. An diesem Tag, an dem ich zum ersten Mal Yad Vashem besichtigte, verstand ich, dass es ein Wunder war, dass die Namen aller meiner Großeltern und unserer Mutter nicht auf diesem Denkmal standen, dass mein Vater nicht gestorben war und ich dadurch geboren wurde. An diesem Tag verstand ich, dass mein Leben an sich an ein Wunder grenzte, wenn schon nicht des Himmels, so zumindest an ein Wunder des Schicksals.

Meine Verbundenheit mit Israel entstand zu dieser Zeit, bei diesem ersten Besuch im Alter von vierzehn Jahren. Diese Tatsache hatte konkrete Folgen, führte zu bestimmten Entscheidungen im Leben, wohingegen die Dinge für Allan ganz anders aussahen. Er war während seines ganzen Lebens ein religiöser Mensch und in seiner Glaubensgemeinschaft Beth ’Habad verankert, deren Offenherzigkeit und Großzügigkeit in Bezug auf die Genauigkeit der Einhaltung — oder Nichteinhaltung — der Glaubensvorschriften er sehr schätzte. Mein Bruder war dreimal in Israel, ohne sich dort jemals zu Hause zu fühlen. Er ist in seinem tiefsten Herzen Franzose, während ich mich überall daheim fühle, sogar auf den Philippinen, dem Land, aus dem meine jetzige Frau kommt.

Bei einem späteren Aufenthalt im Kibbuz meines Großonkels Isaac, dem sagenumwobenen Bruder Opa Émiles, jenem Brasilianer, der seinen Regenmantel verschenkt hatte, verstand ich, was eine jüdische Identität im Zusammenhang mit einem ungewöhnlichen Lebensverlauf sein kann.

Gleich nach meinem Gymnasialabschluss beschloss ich, mit einem Freund eine große Reise per Autostopp durch den Mittelmeerraum zu machen, die uns zuerst nach Israel und später in die Türkei, nach Bulgarien etc. führen würde. Mein Freund sollte einige Tage später zu mir stoßen. Mutter hatte die Idee, mich bei dieser völlig unorganisierten Reise zu Großonkel Isaac, dem Bruder von Opa Kerbel, zu schicken. Sicherlich war es für sie eine Art, sich in Gedanken ihrem geliebten Vater, der sieben Jahre zuvor verstorben war, anzunähern, und deshalb wollte sie, dass ich den Kontakt zu diesem Zweig der Familie aufrechterhalten möge. Onkel Isaac hatte sehr unstet gelebt, sodass wir nichts von ihm wussten, als dass er sich viele Jahre zuvor im Kibbuz Yagour in der Nähe von Haifa niedergelassen hatte. Ich war siebzehn Jahre alt, als ich mich mit der Adresse in der Tasche aufmachte, einen alten Herrn von siebzig Jahren zu besuchen, den ich noch nie gesehen hatte. Ich kann nicht behaupten, dass ich begeistert darüber war, die drei freien Tage vor dem Beginn meiner abenteuerlichen Reise mit einem unbekannten Alten zu verbringen. Die Gesellschaft großartiger Mädchen aus aller Herren Länder, die in diesem Land lebten, erschien mir weitaus spannender — aber ich wollte Mutter eine Freude machen. Als ich vor der kleinen Hütte in der Mitte des Kibbuz stand, hörte ich klassische Musik in ohrenbetäubender Lautstärke herausschallen, sodass ich lange klopfen musste, bevor mir jemand öffnete. Ich dachte mir: »Mutter hatte recht, ich bin beim Original der Familie angekommen.« Er brauchte eine gewisse Zeit, bis er mir öffnete, und sah mich groß mit seinen durchdringenden blauen Augen an, als ich mich vorstellte: »Ich bin Mireilles Sohn Daniel, einer der Enkelsöhne von Émile.« Er bat mich herein und löcherte mich eineinhalb Stunden lang mit philosophischen Fragen. Ich saß einem Mann gegenüber, der unglaublich gebildet war. Glücklicherweise war Philosophie eines meiner Abschlussfächer gewesen, und so konnte ich halbwegs mit ihm mithalten. Er sah sehr russisch aus, strahlte die Entschlossenheit eines jungen Mannes aus und zeigte mir seine Büchersammlung, die aus allen Nähten platzte. Ich hatte noch nie so viele Bücher im Besitz einer einzelnen Person gesehen! Er erzählte mir, sein Leben mit Büchern verbracht zu haben, insbesondere, seit er in Israel war, also seit mehreren Jahrzehnten, wie es schien. Davor hatte er sich, wie er erzählte, als militanter Kommunist an Revolutionen beteiligt — in Spanien, Südamerika und Asien. Er konnte sogar Chinesisch, und ich denke, er war der einzige Mensch in Israel, der eine chinesische Zeitung abonniert hatte. Er sprach zehn oder zwölf Sprachen, und als ich ihn fragte, ob er verheiratet gewesen sei oder Kinder habe, antwortete er mir: »Nein. Dazu habe ich keine Zeit gehabt.« Ich, ein junger Mensch, war bei dieser Antwort völlig perplex. Keine Zeit für eine Ehe! Am nächsten Tag sah ich, wie sein Zeitplan aussah. Auch mit seinen siebzig Jahren war er noch jeden Morgen um sechs Uhr auf den Beinen, um im Kibbuz zu arbeiten — an diesem Tag mit Rohrleitungen. Man hatte ihm angeboten, sich in den Ruhestand zu begeben, denn das Gemeinschaftsleben sichert den Älteren aus Solidarität ab einem bestimmten Alter ein Leben ohne Arbeit zu, aber er hatte abgelehnt: »Das Leben ist zum Arbeiten da!« Aus diesem Grund schickte er mich bereits am frühen Morgen Trauben pflücken, obwohl ich mich weder in der Landwirtschaft noch mit Pflanzen auskannte. Ich war eine richtige Null. Aber im Kibbuz ging es darum, vielseitig zu sein. Großonkel Isaac schien sehr glücklich, gelassen und zufrieden, diese Art von Leben gelebt zu haben. Ich war sehr beeindruckt von diesem charmanten Großonkel, und der Satz, den er mir zum Abschied sagte, klingt mir immer noch in den Ohren nach: »Ich habe in meinem Leben immer das gemacht, was ich wollte!« Mein ganzes Leben erinnerte ich mich dieses Satzes und versuchte, seinem Beispiel zu folgen. Ich hoffe, dass mir das annähernd gelungen ist.

Den tatsächlichen Lebensweg meines Großonkels Isaac erfuhren wir erst nach Mutters Tod, jenem Drama, das es für uns notwendig machte, nach unseren Wurzeln zu suchen, um nicht ins Wanken zu geraten. Von unserer wunderbaren brasilianischen Informantin kamen die ersten Angaben, die sie in einem lokalen Archiv recherchiert hatte.*15 »Isaac Kerbel wurde 1904 oder 1905 geboren. Er galt als kommunistischer Jude und nahm an mehreren Streikbewegungen teil, weshalb die Polizei ihn immer im Auge behielt. Im September 1929 wurde er ins Gefängnis geworfen, weil er an einer antizionistischen Demonstration teilgenommen hatte. Am 2. November 1929 wurde er aus Brasilien ausgewiesen und fuhr mit dem Schiff Baden nach Hamburg (Deutschland).« Diese Informationen schockierten uns, gelinde gesagt: ein militanter Antizionist, der seinen Lebensabend in Israel verbringt, das war wirklich stark, sehr jüdisch und ein klares Beispiel für die Kunst der Infragestellung, die eine unabdingbare Grundvoraussetzung darstellt. Doch das war noch nicht das Ende unserer Überraschungen. Wir holten auch Informationen aus dem Kibbuz Yagour ein.

Großonkel Isaac starb am 14. Mai 1976, was heißt, dass ich viel Glück hatte, ihn kennengelernt zu haben. »Er hatte gelebt wie ein einsamer Wolf, mit linken Ideen, er war ein Kämpfer. Er kam im Jahr 1949 nach Israel und 1950 in den Kibbuz Yagour. Keine Information über eine Frau oder Kinder. Er lebte allein. Im Kibbuz galt er als guter und mutiger Arbeiter, er war in der Verpackungsfabrik tätig. Angeblich nahm er am Spanischen Bürgerkrieg, natürlich auf Seiten der Republikaner, teil, vielleicht war er auch in den Internationalen Brigaden. Er beherrschte Hebräisch niemals vollkommen, sprach aber mehrere andere Sprachen.«

Shanghai war ein Ort, der viele Juden anzog, das ist nicht weiter erstaunlich — aber mit zehn Jahren? War das ein Irrtum oder hieß das, dass Opa Émile und Isaac von der Ukraine nach Asien ausgewandert waren, bevor sie zahlreiche Jahre in Brasilien verbrachten? Und was tat er in Hamburg, als er Rio im Jahr 1929 verließ? Wie lange kämpfte er auf Seiten der spanischen Republikaner? Wie sah sein Leben bis 1949 aus? Wahrscheinlich werden wir auf all diese Fragen keine Antwort finden, zumindest nicht über offizielle Kanäle. Da der Weg der Familie nach und nach durch die Kontakte mit wertvollen unbekannten Personen klarer wird, wird uns vielleicht jemand, der diese Passage liest, eines Tages mehr über meinen Großonkel mitteilen können. Das bleibt zu hoffen.