Mutter war immer bei ihren Nachbarn beliebt. Ihre Tür stand offen, sie hatte immer ein freundliches Wort für alle, und selbstverständlich war die kulturelle Veränderung in ihrem Haus im Laufe der Jahrzehnte für sie ein Grund zur Freude. In ihrem Gemeindebau, der auch jener unserer Kindheit war, wohnten im Laufe der Zeit Menschen, die aus Nordafrika, später aus Schwarzafrika und schließlich aus China stammten. Ihr Ursprungsland war nie für irgendjemanden ein Problem und verursachte auch keine Spannungen zwischen den Nachbarn. Solange die Menschen respektvolle Mieter waren, nahm das Leben seinen gewöhnlichen Lauf. In der Etage über unserer Mutter wohnte eine Frau, die Alleinerzieherin war, unter anderem hatte sie einen Sohn namens Y, den unsere Mutter ab seinem siebten Lebensjahr kannte. Obwohl er seit etwa zwanzig Jahren in dem Haus wohnte und später dann regelmäßig seine Mutter besuchte, hatten wir ihn nie mit eigenen Augen gesehen. Wir wussten nur von seiner Existenz, weil wir unsere Mutter von ihm erzählen hörten oder weil seine Mutter ihr von ihm erzählte. Alle Kinder wurden im Laufe der Zeit erwachsen, und es gab keinerlei besondere Vorkommnisse. Schließlich begann der junge Mann, unserer Mutter ab und zu einen Besuch abzustatten, Brot für sie zu holen und fünf Minuten mit ihr zu sprechen. Er kannte sie gut und wusste, dass sie ein sehr bescheidenes Leben führte. Dieses Wissen sollte in den Augen der Justiz ein entscheidendes Element darstellen, als der junge Mann Diebstahl als ursprüngliches Motiv für den Mord angab.
Mutter lebte im gleichen Wohnhaus wie Ys Mutter, weil ihr Einkommen äußerst bescheiden war. Y sah, dass Mutter sehr einfach lebte und keine anderen Ausgaben machte als Lebensmitteleinkäufe. Mutter öffnete sogar ihre Geldbörse vor seinen Augen, in der sich immer ungefähr zwanzig Euro befanden, nie mehr. Wir wollten, dass sie immer etwas Geld für kleinere Ausgaben hätte, die die Haushaltshilfe oder, auf ihre Bitte hin, einer ihrer Besucher für sie machte. Mutter öffnete ihre Geldbörse vor seinen Augen, um ihm manchmal eine Münze als Dank für seine Hilfe zuzustecken.
Mit ihrer unglaublichen Dankbarkeit für alle, die sich ihr gegenüber liebenswürdig verhielten, sagte Mutter am Telefon manchmal Dinge wie: »Der Sohn der Nachbarin ist nett, er hat mir das Fernsehprogramm gekauft, ihr braucht es mir nicht mehr mitzubringen.« Wir fanden das auch nett. Was hätten wir sagen sollen? Manchmal bot sie ihm eine Tasse Kaffee oder ein Glas Porto an, so wie sie ihm Süßigkeiten zugesteckt hatte, als er zehn Jahre alt war. Zu meiner Gattin Jovita hatte Mutter gesagt: »Y ist mein Freund. Er hilft mir und ist sehr freundlich, er hat für alte Menschen gearbeitet.« Das rührte sie. Der junge Mann, der bald dreißig Jahre alt war, lebte natürlich nicht mehr bei seiner Mutter und kam manchmal monatelang nicht zu Besuch. Mutter fragte sich, was aus ihm geworden sein mochte. Man kann es Ys Mutter nicht verdenken, dass sie nicht im ganzen Haus ausposaunte, warum ihr Sohn nicht auftauchte: Er verschwand oft lange, weil er im Gefängnis saß. Mutter wusste nicht, dass er zuerst mit zwanzig Jahren eine Strafe auf Bewährung für sexuelle Belästigung mit Körperverletzung erhalten hatte, und später Gefängnisstrafen für Diebstahl, Eindringen in eine Schule und Drohungen mit Erpressung. Sie wusste auch nicht, dass er das Kaufhaus Monoprix in der Nähe damit bedroht hatte, »es in Flammen aufgehen zu lassen«. Monoprix war Ys Arbeitgeber, er war als Lieferpersonal tätig gewesen. Offensichtlich war Y in der Lage, in die Hand zu beißen, die ihn ernährte, wie viele desorientierte Menschen, denn offensichtlich setzte er mit einem Komplizen den toten Körper unserer Mutter in Brand, zündete anscheinend ihr Nachthemd an und legte danach an drei anderen Stellen in der Wohnung Feuer, vielleicht weil er sichergehen wollte, dass sie wirklich verbrennen würde, nachdem er sie ermordet hatte.
In der Angelegenheit mit dem Kaufhaus Monoprix hatte Y behauptet, mit der Brandlegung gedroht zu haben, weil er sich ungerecht behandelt fühlte, nachdem er entlassen worden war. In Wirklichkeit handelte es sich nicht um eine Ungerechtigkeit, sondern er war alkoholisiert gewesen, wie wir im Nachhinein erfuhren. Was mochte unsere 81-jährige Mutter getan haben, um so viel Hass auf sich zu ziehen? Das wirkliche Gesicht ihres Besuchers kannte sie nicht. Wie hätte sie auf die Idee kommen können, dass ihr »Freund«, der Brot für sie holte und für betagte Menschen gearbeitet hatte, bereits neun Verurteilungen in seinem Strafregister für Vergehen wie Angriff auf Personen, Bedrohung, illegaler Waffenbesitz, Drogenbesitz etc. angesammelt hatte? Daher öffnete sie ihm ohne irgendwelche Hintergedanken ihre Tür, und auch bei uns rief diese Tatsache keinerlei Argwohn hervor, wenn sie uns davon erzählte.
Mutter war kaum mehr mobil, sie schaffte es nur noch mit Mühe, aus ihrem Lehnstuhl aufzustehen und zur Tür zu gehen, um sie zu öffnen. Aus diesem Grund hatten wir einige Jahre zuvor einen elektronischen Schlüsselkasten mit einem Zahlenschloss installieren lassen. Er wurde mit einem Zugangscode geöffnet, damit wir oder Pflege- und Hilfspersonal Zutritt zur Wohnung bekamen, ohne dass Mutter aufstehen musste. Anscheinend hatte Mutter eine ihrer Hilfskräfte nach dem Code gefragt, aber sie hatte die Anweisung, nicht wahllos irgendwelchen Unbekannten die Tür zu öffnen. Diese Empfehlung wäre jedoch im Fall von Y ganz sinnlos gewesen, weil er für sie kein Unbekannter war. Sie hatte zu einer ihrer Heimhilfen gesagt: »Y ist wie ein Sohn für mich.« Wie soll man nicht schon beim Schreiben solcher Worte zu zittern beginnen?
Die Wohnung unserer Mutter hatte 55 Quadratmeter und befand sich in der zweiten Etage des Gemeindebaus. Wenn man in die Wohnung kam, befand sich links die Küche und rechts ein Wohnzimmer mit einem Balkon, der sich über einer Krippe befand. Mutter hatte sich natürlich mit der Leiterin angefreundet. An den schönen Tagen machte Mutter einmal pro Woche mit ihrem Physiotherapeuten ihre Mobilitätsübungen und winkte der Leiterin der Krippe dabei zu. Gegenüber von der Eingangstür befand sich ihr Schlafzimmer mit einem großen Kleiderschrank, ein zweites Schlafzimmer lag neben dem Wohnzimmer. Dort schliefen Valentine und ihre Tochter. Mutter mochte ihre Wohnung sehr, und es war ihr lieber, dort besucht zu werden, als mit dem Auto zu uns gebracht zu werden, was ziemlich kompliziert war, seit sie im Rollstuhl saß. Ihre Wohnung war ausgestattet wie die jeder alten Dame: Im Wohnzimmer stand das Buffet, das noch von ihrer Mutter stammte, die Teller hatten einen altmodischen Charme, dann standen da noch ein runder Tisch und ein komfortabler Lehnstuhl, um fernzusehen. Als Ersatz für ihre ursprüngliche Küche aus Resopalplatten aus den 1960er Jahren hatte ich ihr Teile meiner Kücheneinrichtung gegeben, als ich sie austauschte. Der Herd wurde zur Hälfte mit Strom, zur Hälfte mit Gas betrieben. Doch seit einigen Jahren kochte sie nicht mehr selbst. Wir achteten darauf, dass alle ihre Geräte gut funktionierten, und ersetzten sie zu gegebener Zeit, weil sie nicht wirklich die Mittel hatte, Elektrogeräte zu kaufen. Wenn wir gehört hätten, dass unsere Familienwohnung brennt, dann wäre unser erster Gedanke gewesen: Welches Elektrogerät mag hier einen Brand verursacht haben? Wir achteten klarerweise auf ihre Sicherheit. Ich hatte ihr einen zweiten Fernseher geschenkt, sodass sie auch im Bett fernsehen konnte, und vor dem sie — wie immer sehr spät — einschlief.
Vor diesem Fernseher passierten im Februar 2017 jene schwerwiegenden und alarmierenden Ereignisse, an einem Tag, an dem Y kurz vorbeigekommen war. Mutter rief Allan und mich etwas verlegen an und erzählte uns, dass ihr Schützling Y kurz zu Besuch gekommen sei und ein Glas Porto getrunken habe. Das war nichts weiter Ungewöhnliches. Er sah im angrenzenden Zimmer, in dem sich die kleine, zwölfjährige Margaux befand, etwas fern. Bis dahin hatte Mutter nichts Besonderes bemerkt. Y bewegte sich frei in der Wohnung, und natürlich konnte man nicht auf Mutter zählen, wenn es darum ging, ihn zurückzuhalten, eine scharfe Bemerkung zu machen, oder ihm nachzugehen, denn sie war in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Valentine, die Mutter des Mädchens, war ausgegangen, um Einkäufe zu machen. Das zeigt, wie vertrauenserweckend Y gewirkt haben muss. Doch als Valentine zurückkam, stürzte die Tochter in Panik zu ihr und erzählte ihr, dass Y ihr unsittliche Dinge gesagt und mit ihr gemacht habe. Mutter wusste nicht, mit welchen Worten sie uns auf anständige Weise beschreiben sollte, was in der Sprache der Justiz als »sexueller Übergriff auf Minderjährige unter fünfzehn Jahren« bezeichnet wird. Valentine war angesichts ihrer Tochter, die unter Schock stand, außer sich. Während Y floh, ging Valentine mit ihrer Tochter zur Polizeistation, um Anzeige zu erstatten.
Natürlich wollte Valentine nicht mehr im gleichen Gebäude wohnen bleiben wie die Person, die ihre Tochter sexuell belästigt hatte. Wir waren entsetzt, dass dieser Typ, den unsere Mutter für vertrauenswürdig hielt, in ihre Wohnung eingedrungen war und dort ein junges Mädchen von zwölf Jahren missbraucht hatte. Unsere Mutter machte achtzehn Jahre daraus und versuchte, die Sache herunterzuspielen: Wir hatten den Eindruck, dass sie sehr schwammig in ihrem Urteil war, fast als wäre die Sache nicht sonnenklar. Mutter erklärte weiterhin, dass die ganze Sache vielleicht gar nicht so schlimm gewesen sei, wie Valentine, die sich furchtbar aufgeregt hatte, meinte. Mehrmals sagten wir zu unserer Mutter, besonders nachdem die Justiz festgestellt hatte, dass die Tatsachen unzweideutig waren: »Aber Maman! Stell dir das vor! Was hättest du gesagt, wenn es deine Enkeltochter betroffen hätte?!«
War es ihre legendäre Nachsicht oder ihre Zuneigung zu Y, die sie die Sache so nachsichtig hinnehmen ließ? Oder waren es vielleicht die Sitten einer früheren Zeit, wo eine sexuelle Belästigung oft einfach als »unglückseliges Ereignis« heruntergespielt wurde? Wir waren geschockt — sowohl durch das, was passiert war, als auch durch die Haltung unserer Mutter. Immer noch war sie nicht bereit, sich zu einer negativen Aussage über Y hinreißen zu lassen, selbst nach seiner Verurteilung durch das Gericht. Nach dem Tod unserer Mutter erfuhren wir, dass Y auch wegen Morddrohungen verurteilt worden war, weil Valentine es gewagt hatte, die Sache anzuzeigen. Aufgrund dieser Tat wurde er zu zehn Monaten Gefängnisstrafe, gefolgt von vierzehn Monaten Bewährungsstrafe und bedingter Entlassung, verurteilt. Nach Ys Entlassung aus dem Gefängnis im September 2017 hatten wir Gelegenheit, die Effizienz dieser Bewährungsstrafe einzuschätzen: Obwohl es ihm verboten war, das Haus zu betreten, sahen die Nachbarn ihn regelmäßig, insbesondere an jenem Tag, an dem er mutmaßlich unsere Mutter getötet hatte. Wahrscheinlich wusste niemand, dass man ihm dieses Aufenthaltsverbot im Haus auferlegt hatte, und die Justiz kann ja nicht allen auf Schritt und Tritt folgen. Leider.
Mutters Leben änderte sich. Valentine und ihre Tochter erhielten angesichts der Dringlichkeit ihrer Anfrage sehr schnell eine Sozialwohnung. Immerhin hatte Valentine eine Morddrohung erhalten! Allan und ich waren so entsetzt, dass wir beschlossen, das Betreuungssystem für unsere Mutter abzuändern. Die Verbindung ihres Privatlebens mit dem eines Vollzeitangestellten hatte ein so schlechtes Ende genommen, dass wir es nicht noch einmal versuchen wollten. Wir führten einen Betreuungszyklus von einander ablösenden Heimhilfen ein, die sich zu bestimmten Zeiten um Mutter kümmerten. Am Morgen kam jemand, um ihr bei der Morgentoilette und beim Anziehen zu helfen. Am Abend half ihr jemand, das Nachthemd anzuziehen und sich hinzulegen. Seit einiger Zeit hatte sie ein medizinisches Bett, aber sie konnte nun nicht mehr allein in der Nacht aufstehen. Wenn irgendjemand ausfiel, dann sprang Allan ein, der sich durch die Intimsphäre unserer Mutter weniger peinlich berührt fühlte und etwas beherzter bei Hygienepflege war, wie man das etwas schamhaft nennt.
Mutter schlief spät in der der Nacht ein, nach und viel öfter auch während des Fernsehens, und sie schlief so lange, wie die Heimhilfe sie schlafen ließ. Sie hatte ihr Telefon immer in der Nähe, außerdem hatte sie ein Funkmeldegerät um den Hals, mit dem sie ein Bereitschaftszentrum anrufen konnte, falls sie hinfiel. Zumindest einmal am Tag kam jemand aus der Familie bei ihr vorbei, zum Beispiel Jovita oder meist Allan, weil ihr Zeitplan ihnen die Möglichkeit gab, ein oder zwei Stunden bei ihr zu verbringen. Mit der Zeit hörte Mutter schlechter, was sie sehr ärgerte, und sie sah auch weniger gut. Wir hatten eine Staroperation auf einem Auge machen lassen, und sie wartete mit Ungeduld auf die zweite.
Mutter ermüdete nun schneller, und sie hatte nicht mehr die Energie, physische Anstrengungen zu machen, die sie in Form gehalten hätten. Der Physiotherapeut kam dreimal pro Woche, um mit ihr zu arbeiten, aber sie empfand es eher als eine Qual denn als vielversprechendes Training. Sie hätte am liebsten weiterhin getanzt, es erschien ihr sehr lästig, dass sie sich nun schon anstrengen musste, um in ihrer Wohnung gehen zu können. Mittwochs kam eine Dame, um mit ihr spazieren zu gehen, aber es passierte, dass sie schon vor dem Aufzug kapitulierte und nach ihrem Rollstuhl verlangte. Sie aß weniger, außer wenn die Heimhilfe, die zwischen 11 und 15 Uhr kam, ihr eine Speise nach ihrem Geschmack zubereitete wie Spinat oder Püree. Manchmal war ihre Stimmung auf dem Nullpunkt. Aus diesem Grund fügte der Arzt zu der Unmenge an Tabletten, die sie bereits schluckte, noch ein Antidepressivum hinzu. Manchmal sagte unsere Mutter niedergeschlagen zu uns: »Ich glaube, in einem Altersheim wäre ich besser aufgehoben!« Wenn ich dann wieder einen Ausflug mit ihr zum Plateau de Gravelles machte, Allan ihr ein Paris-Brest brachte oder Jovita ihren Rollstuhl bis zum Kaufhaus Printemps Nation schob, wo die beiden schöne Kleider bewunderten, von denen sie wussten, dass sie sie aufgrund der Preise nie kaufen können würden, dann sagte Mutter sehr zufrieden: »Um nichts in der Welt ginge ich in ein Altersheim!«
Nach dem Drama tat es uns leid, sie nicht in ein Heim gegeben zu haben. Aber wie hätten wir ahnen sollen, was passieren würde?
Die Heimhilfe unserer Mutter zwischen April 2017 und Januar 2018 hieß Leila. Die Organisation, mit der wir zusammenarbeiteten, achtete darauf, die Angestellten regelmäßig rotieren zu lassen, um jegliche persönliche Bindung zu vermeiden, aber das war schade: Mutter liebte sie. Sie fand, dass sie eine gute Köchin sei, was für uns ein Wunder und für sie ein toller Beginn war. Leila kochte ihr hausgemachtes Püree, Ratatouille, Lachs, würzige Gerichte und zerkleinerte das bisschen Fleisch, das unsere Mutter noch aß, sorgfältig. Manchmal ließ Leila sich sogar dazu überreden, Mutter zu füttern, was Mutter unter dem Vorwand, dass sie zitterte (womit sie recht hatte), verlangte, aber vor allen Dingen wollte, weil es sie freute. Sie hatte es einfach so gerne, wenn sie umsorgt wurde … Die Beine taten ihr mittlerweile so weh, und sie war so schwach geworden, dass sie in ihrer Wohnung nur noch mit dem Rollator gehen konnte und sogar vor Spaziergängen mit dem Rollstuhl Angst hatte. Sie wartete sehnsüchtig auf Besuch von uns, von Freunden und nun auch auf Leila. Sie sagte uns: »Was mir an ihr gefällt, ist, dass wir Spaß zusammen haben!«
Leila erzählte uns im Nachhinein, dass Mutter und sie manchmal sehr schöne Augenblicke verbracht hatten, in denen sie zusammen lachten. Sie sangen im Chor zu den Liedern von Mike Brant, und Leila spielte unserer Mutter modernere Lieder wie We Are the World auf ihrem Mobiltelefon vor. Mutter zeigte Leila sogar Walzerschritte! Wie das mit einem Rollator ging, wagten wir uns gar nicht vorzustellen … Sie holte die Fotoalben heraus, erzählte ihr aus ihrem Leben, unterstützt von Freundinnen, wenn sie auf Besuch waren, und man erinnerte sich an die vielen Erlebnisse aus einer Zeit, in der Ausgehen weder für die eine noch für die andere eine Expedition war. Mutter zeigte ihr Fotos von uns in jedem Alter, Bilder der Enkel- und Urenkelkinder, Fotos von Freunden aus der Zeit, als sie noch verheiratet war, und Bilder von Männern, die eine Rolle in ihrem Leben gespielt hatten. »Sie sind mir eine!«, scherzte Leila, als Mutter von dem Australier erzählte, der zehn Jahre jünger war als sie. Mutter kicherte darüber, als sei sie fünfzehn Jahre alt. Sie erzählte, wie sehr sie David geliebt hatte, den letzten Mann ihres Lebens, dessen Foto neben ihrem Bett stand, und unseren Vater, lange Zeit davor … Leila zog sie ihrerseits ins Vertrauen, und Mutter gab ihr gute Ratschläge in Liebesdingen. Wenn Leila am Wochenende kam, dann nahm Mutter ihr Gesicht in die Hände und fragte sie: »Na, wie geht es meinem Mädchen?« Sie wollte sie sogar unbedingt mit einem Krankenpfleger verkuppeln, von dem sie fand, dass er perfekt für sie sei, und den sie sehr hübsch fand. »Sie flirten ja mit den Krankenpflegern!«, scherzte die junge Frau mit unserer 85-jährigen Mutter. Sehr kokett antwortete sie: »Was wollen Sie? Mir ist es lieber, wenn Männer mich pflegen, und ich bevorzuge die Jugend. Ich will nie in ein Altersheim, da sind ja lauter alte Knacker!« Sobald der Besuch von jemandem bevorstand, verdoppelte sie die Aufmerksamkeit, die sie ihrem Aussehen widmete, und erklärte: »Ich muss mich hübsch machen! Huguette kommt auf einen Tee!« Feuchtigkeitscreme und Kölnischwasser — Mutter vergaß nichts. Leila konnte ihr noch so oft erklären, dass ihre Lippen nun zu dünn für Lippenstift waren, Mutter bestand darauf, wie auf so vielen anderen Dingen. Sie war nach wie vor kapriziös, wollte Leila die ganze Zeit um sich haben, auch wenn diese in der Küche zu tun hatte. Aber Leila konnte gut damit umgehen und erklärte ihr, dass es eine Zeit für alles gäbe. Sobald wir aus dem Haus waren, lobte Mutter Allan, Jovita und mich offensichtlich über den grünen Klee, nannte uns ihre »Lieblinge« und Jovita ihre »neue Tochter«. Mutter sprach nie über den Tod mit Leila, ebenso wenig, wie sie ihn uns gegenüber erwähnte, sie sagte auch nicht, dass sie Angst davor hätte. Mutter sprach nur vom Leben. Es war, als rechnete sie mit ihrer Unsterblichkeit, wenn sie schon hinnehmen musste, dass sie gealtert war.
Mutter sprach mit Leila aber über etwas anderes, das sie uns gegenüber tunlichst nicht erwähnte, nämlich über Y und die Tatsache, dass sie ihm in keiner Weise böse sei. Wir hatten zu Mutter gesagt: »Es ist ausgeschlossen, dass du noch irgendeinen Kontakt zu diesem Typen hast, wenn er aus dem Gefängnis kommt. Hast du verstanden?« Mutter antwortete nichts und schmollte, wie ein kleines Mädchen. Leila gegenüber sagte sie nur Gutes über ihn. Als das Drama am 23. März 2018 passierte, erklärten die Nachbarn einhellig, dass Y sich seit Monaten im Gebäude aufgehalten habe. Wir wissen nicht, ob Mutter ihn bereits vor diesem Tag wiedergesehen hatte, aber es sieht nicht so aus, zumindest ist uns nichts bekannt. Y wusste jedenfalls, dass Mutter ihm nicht böse war, ja, ihn sogar in gewisser Weise verteidigt hatte. Später erfuhren wir, dass Mutter sogar eine Sammlung im Wohnhaus initiiert hatte, um die Familie von Y zu unterstützen, als seine Schwester, die an einer Überdosis Drogen gestorben war, in Algerien bestattet wurde. Natürlich führte sie sie nicht selbst durch, aber sie hatte sie initiiert, und das wusste Y. Ys Mutter war unserer Mutter sehr dankbar dafür, die beiden hatten ein sehr gutes Verhältnis. Wie hatte diese Frau die Tatwaffe reinigen können, als ihr Sohn sich zu ihr flüchtete, nachdem er Mutter ermordet hatte? Aufgrund dessen, was man Blutsbande nennt?
Mutter war so vertrauensselig, dass sie, als sie erfuhr, dass Y wieder im Haus war, öfter zu Leila sagte, bevor sie einkaufen ging: »Wenn Sie ihn sehen, dann sagen Sie ihm, er möge vorbeikommen, ich würde mich darüber freuen.« Doch Leila hatte, als sie Valentine ablöste, Gelegenheit gehabt, mit dieser zu sprechen, und hatte als junge, moderne Frau keinerlei Verständnis für diese Art von Vergehen. Daher hütete Leila sich, wenn sie ihm begegnete, Mutters Botschaften auszurichten. Sie sagte auch oft zu Mutter, dass sie niemandem den Code für das elektronische Schloss geben dürfe. Aber Mutter hatte ganz allgemein keinerlei Bedenken in Bezug auf ihre Sicherheit, und noch weniger erwartete sie irgendetwas Böses vonseiten dieses Mannes. Kurz hatte Leila gestutzt, als Mutter sie an einem Montag bat, eine Flasche Porto zu besorgen, obwohl sie erst am Freitag eine gekauft hatte. Sie wusste, dass wir in der Familie kaum tranken, wenn man von dem Glas Aperitif, das wir am Sonntag mit Mutter nahmen, absah. War Y schon vor dem schicksalshaften Tag wieder bei ihr gewesen? Das ist die Frage, die aber letzten Endes nicht von großer Bedeutung ist. Wichtig ist, dass zwischen den beiden ein Vertrauensverhältnis bestand, ob man das gutheißen mag oder nicht.
Mutter hatte keine Angst. Seit dem Krieg hatte sie keine Angst mehr gehabt. Weder als alte Dame noch als Jüdin, noch als jüdische alte Dame fühlte sie sich bedroht. Alte Damen und auch Juden werden Opfer von Raubüberfällen, weil man einem Vorurteil zufolge annimmt, dass sie begütert sind. Doch bei Mutter konnte Y diesem Irrtum nicht aufgesessen sein, denn er war oft in der Wohnung. Mutters gesamtes Hab und Gut bestand aus zwanzig Euro, ihrer Kreditkarte und Modeschmuck. Das Teuerste in ihrer Wohnung waren die beiden Fernseher, und auch die waren kein Heimkino! Sie hatte ein paar Ritualobjekte wie einen neunarmigen Kerzenleuchter für das Lichterfest und eine Hand der Fatima, die sie nie versteckt hätte, denn sie aß auch die Süßigkeiten zum Fest des Fastenbrechens mit den Nachbarn und feierte Weihnachten beim Weihnachtsbaum des Gebäudes. Jedem seine Kultur, und im Grunde können alle Kulturen zusammen existieren, zumindest was die überwiegende Mehrheit der Franzosen angeht.
Als der Weihnachtsbaum des Gebäudes im Jahr zuvor einem anonymen Vandalenakt zum Opfer gefallen war, tippten die meisten auf einen bestimmten Schuldigen, was wir erst im Nachhinein erfuhren. Mutter hatte uns von der ganzen Sache gar nichts erzählt. Sie hatte im Januar das Dreikönigsfest würdig mit den Nachbarn gefeiert und sogar die im Kuchen versteckte Bohne bekommen.*18 Mutter hatte weder das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, noch in ein übertriebenes Gemeinschaftsleben zu verfallen.
Natürlich stellte auch sie seit einigen Jahren ein Wiederaufleben des Antisemitismus fest. Sie war ganz besonders über die Morde von Mohamed Merah geschockt, der 2012 Kinder kaltblütig erschossen hatte. Sie war entsetzt, dass »das jetzt wieder beginnt«, wie sie traurig sagte. Doch sie hätte nie damit gerechnet, dass auch sie Opfer eines solchen Verbrechens werden würde. Sie war nicht »paranoid«, wie man das manchmal Juden vorwirft. Wer weiß schon, dass antisemitische Gewaltakte 38 Prozent*19 aller rassistisch motivierten Verbrechen in Frankreich ausmachen, obwohl der Anteil der Juden nur bei etwa einem Prozent der Gesamtbevölkerung liegt? Aber Mutter las die Verlautbarungen des Innenministeriums nicht, ebenso wenig wie wir, und immerhin ist das Leben keine Sache der Statistik.
Der 11. Pariser Gemeindebezirk war in den letzten Jahren ganz besonders von antisemitischen Verbrechen betroffen: Hier wurde 2006 der Telefonverkäufer Ilan Halimi am Boulevard Voltaire 229, ganz in der Nähe der Wohnung unserer Mutter, ermordet, danach Sarah Halimi im Jahr 2017, zu der es kein Verwandschaftsverhältnis gab, in der Rue de Vaucouleurs 30, die ebenfalls nicht weit weg ist. Der eine war 24 Jahre alt, die andere 65. Auch der Angriff auf den Supermarkt Hypercacher bei der Porte de Vincennes im Januar 2015 nach den Attacken auf Charlie Hebdo fand in unserem näheren Umkreis statt. Doch Mutter wusste, dass dieses gehäufte Vorkommen von Delikten tatsächlich ein Zufall war bzw. mit der Bevölkerungsstruktur zusammenhing: In diesem Bezirk leben traditionell viele Juden. Es handelt sich auch um jenen Bezirk, in dem während des Krieges die meisten Juden bei Razzien festgenommen worden waren. Leider ist dieser Bezirk auch die Zielscheibe von stupiden Kleinkriminellen, die versuchen, etwas bei den »Reichen« zu erbeuten, die sich aber in Wirklichkeit einfach bei allen bedienen. Die Erfahrung zeigt, dass Juden nicht reicher sind als die Durchschnittsbevölkerung, und in Mutters Fall waren sogar sehr viel weniger Mittel vorhanden. Mutter war jedoch überzeugt davon, dass sie in einem sicheren Viertel lebte, und im Prinzip hatte sie damit nicht unrecht. Außerdem bekam sie täglich so viel Besuch, dass sie das Gefühl hatte, gut geschützt zu sein.
Wir schrieben Freitag, den 23. März 2018. Mutter war zufrieden, weil sie zwei Tage zuvor beim Friseur gewesen war, begleitet von ihrer neuen Heimhilfe, die Leila zu ihrem großen Bedauern im Januar 2018 abgelöst hatte. Der Besuch beim Friseur war ihre letzte kleine Freude, während sie ansonsten nicht mehr gerne die Wohnung verließ. Dieser Freitag hatte für ganz Frankreich sehr schlecht begonnen. Am Morgen wurde bekannt, dass ein Terrorist bei der Öffnung eines Supermarktes in Trèbes in der Nähe von Carcassonne vier Personen getötet hatte. Unter ihnen war auch Oberst Beltrame, der von allen Kollegen für sein moralisches Rückgrat gelobt wurde und der spontan beschlossen hatte, den Platz einer der Geiseln einzunehmen, was schon zeigt, wie pflichtbewusst er war. Ein weiteres Attentat.
Meine Frau Jovita hatte Mutter in der Früh besucht. Sie traf den berühmt-berüchtigten Y an. Meine Frau sah ihn zum ersten Mal, und seine Anwesenheit war ihr aufgrund der vergangenen Vorkommnisse unangenehm. Mutter war zwar nicht allein mit ihm, die Heimhilfe war auch da, aber wir waren immer noch zutiefst geschockt über das, was er dem jungen Mädchen angetan hatte. Jedenfalls hat ein Vorbestrafter von 29 Jahren nichts bei einer sehr gebrechlichen Dame von 85 Jahren zu suchen. Wir hatten das oft und oft zu unserer Mutter gesagt!
Als Jovita beschoss, die Heimhilfe bei den Einkäufen zu begleiten, sorgte sie dafür, dass Y die Wohnung verließ, damit er nicht allein mit Mutter bliebe. In ihrer Abwesenheit kam Allan gegen Ende des Vormittags, um unserer Mutter etwas zu essen zu geben und sich ein bisschen mit ihr zu unterhalten, wie er das mehrere Male pro Woche tat. Er traf Y im Erdgeschoss beim Aufzug. Er trug einen weißen Jogginganzug und war fast kahlgeschoren. Allan hatte ihn nie zuvor gesehen, aber Y trat auf ihn zu. Er hatte meinen Bruder dank der Fotos in Mutters Wohnzimmer erkannt. Y sagte zu ihm: »Ich komme gerade aus dem Gefängnis, ich habe meine Mutter besucht und wollte auch Ihrer Mutter einen Besuch abstatten.« Allan war alles andere als begeistert, aber er ließ ihn mit sich im Aufzug mitfahren. Was hätte er sonst tun sollen? Nein sagen? Das Risiko eingehen, ihn gegen unsere Mutter aufzubringen?
Sobald Jovita die Wohnung verlassen hatte, rief sie mich an und sagte zu mir, dass sie Y angetroffen und dafür gesorgt habe, dass er die Wohnung verließ. Ich war froh darüber und rief meinen Bruder an, um ihn zu informieren, dass Y wieder da sei und dass mir das gar nicht gefiel. Wir hatten in keiner Weise Angst um das Leben unserer Mutter, weder Allan noch ich. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen einem sexuellen Übergriff auf ein junges Mädchen und einer Attacke auf eine alte Dame? Wir hatten einfach keine Lust, Kontakt mit ihm zu haben, weder direkt noch indirekt. Allan gab mir zu verstehen, dass er nicht sprechen könne: »Ich weiß, er sitzt mir gegenüber …«
Mutter machte uns wahnsinnig mit ihrer beharrlichen Einstellung, nie und nirgends etwas Böses sehen zu wollen. Natürlich war das nichts Neues, darin lag ja auch ihr Charme, ihr ganzes Leben lang hatte sie diese Haltung eingenommen, aber für uns war es entnervend. Jovita verließ die Wohnung zu Beginn des Nachmittags. Nun befanden sich noch die Heimhilfe und Allan in der Wohnung, dem es sehr unangenehm war, zu sehen, wie dieser Mann, dem er noch nie zuvor begegnet war, sich in unserer Wohnung bewegte, die Türen der Küchenschränke öffnete, um sich etwas zu holen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Wir selbst hätten es nie gewagt, uns bei Mutter so zu benehmen, als wären wir bei uns zu Hause. Man hatte uns immer Respekt und Höflichkeit beigebracht — das waren immer wichtige Werte in der Familie, die unverzichtbar waren.
Als Allan die Wohnung gegen 14 Uhr verließ, war die Haushaltshilfe noch da, aber dennoch fragte er Mutter mit Blicken, ob sie sich nicht ausruhen und er Y nicht hinauskomplimentieren sollte. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie sehr gut etwas auf Jiddisch sagen können, um nicht von den anderen verstanden zu werden. Sie hätte sagen können, Bleib du oder Ich raub moyré (ich habe Angst), Allan hätte der Aufforderung Folge geleistet. Aber Mutter sah Allan mit ihren großen blauen Augen an und war absolut ruhig und gelassen. Dennoch forderte Allan Y auf, die Wohnung mit ihm zu verlassen. Was hätte er noch tun können? Man konnte den Mann nicht gegen den Willen unserer Mutter hinausschmeißen, wenn man nicht offen unhöflich sein wollte, womit man die Feindseligkeit des Mannes heraufbeschworen hätte. Aber Y schien nicht gehen zu wollen. Er trank ruhig sein Glas Porto, das er sich selbst serviert hatte, und wirkte weder bedrohlich noch betrunken. Allan ging widerwillig fort und rief Mutter noch einmal gegen halb drei Uhr an, als die Heimhilfe gerade das Haus verlassen hatte. Mutter antwortete ihm mit ihrer warmherzigen Stimme: »Alles in Ordnung, Liebling.« Sie war ganz gelassen, ebenso wie gegen vier Uhr, als sie ihn anrief, um Y das Telefon zu geben, der Allan Folgendes mitteilte: »Ich wollte Ihnen sagen, dass ich die Portoflasche ausgetrunken habe. Ich werde eine neue kaufen gehen.« Was wollte er damit sagen? Alles schien absolut normal zu sein. Als Allan gegen 17 Uhr noch einmal anrief, hob Mutter nicht mehr ab. Weder am Festnetz noch auf dem Mobiltelefon. Sie hatte auch ihr Funkmeldegerät nicht gedrückt. Zu diesem Zeitpunkt war sie, wie sich später herausstellte, nicht mehr am Leben.
Manche Dummköpfe — und dafür gibt es kein anderes Wort — hatten die Stirn, uns vorzuwerfen, Y bei unserer Mutter gelassen zu haben. Ich sage »wir«, weil ich auch nicht anders gehandelt hätte. Man konnte ihn nicht einfach packen und hinauswerfen! Ebenso wenig konnten wir Mutter daran hindern, selbst die Tür zu öffnen, nachdem wir von ihr weggegangen waren. Wir hatten ihr oft genug gesagt, sie solle keinen Kontakt mehr mit diesem dreckigen Typen haben. Abgesehen davon, dass es unmenschlich ist, Allan die Schuld für das Drama anzulasten — welche Vorwürfe hätte man uns gemacht, wenn Allan den Typen hinausgeworfen hätte und er wiedergekommen wäre, um sich zu rächen, weil er sich erniedrigt gefühlt hätte? Dieses sattsam bekannte Argument dient offensichtlich dazu, alles zu entschuldigen. Wer wäre auf die Idee gekommen, dass ein Nachbar, den meine Mutter seit dem Alter von sieben Jahren kannte, der Sohn einer Frau, die seit Jahrzehnten in guter Nachbarschaft mit Mutter gelebt hatte, jemand, den sie mochte und der sie kannte, ein Massaker mit elf Messerstichen an unserer Mutter verüben würde? Wer wäre auf die Idee gekommen, dass er ihr Nachthemd anzünden und an drei weiteren Stellen in der Wohnung Feuer legen würde? Wer?
Mutter war alt und sehr eingeschränkt, aber sie hatte immer noch Träume: Sie wollte ihre vor kurzem auf die Welt gekommene Urenkelin im nächsten Sommer sehen, miterleben, wie die beiden Töchter von Jovita, für die wir Aufenthaltsgenehmigungen zu bekommen versuchten, endgültig nach Frankreich kommen würden. Ich war nie wirklich ein Familienmensch: Ich sah zwar ab und zu meinen Bruder, und wir gingen auf ein Glas Wein, aber ich war nie für wöchentliche Familientreffen zu haben, vielleicht, weil meine Onkel und Tanten, abgesehen von Onkel Erwin, seit er der letzte meiner Onkel ist, uns nie sehr nahegestanden hatten und weil ich drei Cousinen hatte, die alle im Ausland lebten. Vielleicht war es mir gerade deshalb wichtig, eine Beziehung zu Jovitas Töchtern aufzubauen. Mutter kannte die Mädchen von Fotos und Videos, die sie regelmäßig verlangte, und fragte ungeduldig: »Also, wann kommen die Kinder endlich?« Diese baldige Ankunft der Mädchen war eines der Dinge, über die sie sich am meisten freute, wofür es, abgesehen von ihrer Freundlichkeit, einen ganz konkreten Grund gab: Wir planten, die beiden Mädchen von Jovita bei Mutter unterzubringen, damit sie in einem als ruhig geltenden Bezirk von Paris in die Schule gehen konnten und nicht in Seine-Saint-Denis.*20 Mutter freute sich sehr auf die junge Gesellschaft, und dies entsprach unserem Wunsch, täglich jemand Vertrauenswürdigen an ihrer Seite zu wissen. Aber immer noch fehlten diese oder jene Papiere für die Töchter. Es mag fast wie eine Ironie des Schicksals erscheinen, dass sich die Situation durch Mutters Tod regelte und man uns wie durch ein Wunder Visa ankündigte, was immerhin einen ersten Schritt darstellt.
Wenn Mutter das gewusst hätte … Sie hoffte auch, dass Allans Sohn Alexandre eines Tages den Kontakt mit der Familie wiederaufnehmen würde wollen. Und auch in diesem Fall sorgte ihr Tod dafür, dass die Familie wieder zusammenfand. Während Mutter darauf wartete, dass ihre Träume sich erfüllten, unterhielt sie sich leider mit einem Monster, von dem sie annahm, dass es die gleichen unschuldigen Gedanken hätte wie sie.
Am späteren Nachmittag des 23. März tranken Jovita und ich gerade ein Glas mit einem brasilianischen Freund auf der Terrasse eines Cafés im äußersten Westen von Paris, als das Telefon läutete. Ich sah, dass der Name Huguettes, der Cousine unserer Mutter, aufleuchtete. Ich verdrehte die Augen zum Himmel und reichte das Telefon an Jovita weiter. Nicht, weil ich unsere liebe Huguette nicht schätze, sondern weil ich bereits wusste, was ich hören würde. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde Huguette, die sich zwar nicht täuschen lässt, aber immer sehr besorgt war, sagen: »Mireille hat mich angerufen. Sie hat mir gesagt, dass heute niemand bei ihr war …« Ich würde ihr antworten, dass Jovita, Allan, die Heimhilfe und obendrein dieser Typ sie besucht hatten. Ich wusste auch, dass Huguette sich seufzend in ihr Schicksal ergeben und auflegen würde. Mutter war immer so — sie konnte nie genug Besuch bekommen. Außerdem war sie beunruhigt darüber, dass Jovita und ich am 16. April auf die Philippinen fliegen wollten, um der Übergabe des Diploms eines Luftfahrtmechanikers an Jovitas Sohn beizuwohnen. Ständig wiederholte sie: »Wie soll ich das ganz allein schaffen?« Ich antwortete ihr: »Maman, Allan kommt fast jeden Tag vorbei, du hast eine Heimhilfe, einen Physiotherapeuten, die Krankenpfleger, Huguette, deine Freunde — du wirst nicht allein sein!« Mütter können manchmal anstrengend sein …
Jovita hörte Huguette einige Sekunden zu, wurde blass und gab mir das Telefon weiter. »Bei deiner Mutter brennt es!«, sagte Huguette in Panik. Sie wohnte ganz in der Nähe und war von einer Nachbarin auf den Rauch aufmerksam gemacht worden, der aus dem Gebäude, genauer gesagt, aus der Wohnung unserer Mutter aufstieg. Panik erfasste mich. Mutter konnte nicht allein fliehen. Würde die Feuerwehr rechtzeitig eintreffen? War sie schon dort? Ich warf Geld auf den Tisch, Jovita und ich sprangen ins Auto, und wir ließen unseren Freund sitzen, wo er saß. Wir mussten ganz Paris von Westen nach Osten durchqueren, und das zu einer Uhrzeit, wo der Verkehr höllisch ist. Ich fuhr wie ein Verrückter, nutzte alle Busspuren, rief Allan an, der wiederum versuchte, mehrere Nachbarn zu erreichen, aber niemanden zu Hause antraf. Natürlich waren praktisch alle Bewohner auf die Straße gegangen. Ständig sagte ich zu Jovita: »Aber es ist unmöglich, dass es bei Mutter brennt! Sie kommt nicht bis in die Küche, sie kocht nicht selbst, nicht um diese Uhrzeit, es gibt kein einziges altes Elektrogerät, sie greift nichts an, sie hat kein Feuerzeug und keine Zünder! Der Fernseher? Heutzutage implodieren die nicht mehr, und einen Brand haben die nie hervorgerufen!« Ich verstand es nicht. Tief in meinem Innersten spürte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich starb fast vor Sorge und Jovita ebenso. Irgendwann erreichte ich endlich eine Nachbarin. Ich schrie sie fast an: »Was ist denn los bei meiner Mutter?!« Ich wurde leichenblass, als sie mir einfach nur antwortete: »Ich geben Ihnen einen Feuerwehrmann …« Der Feuerwehrmann hatte eine neutrale und ernste Stimme — eine Stimme, die ein Drama ankündigt. Er sagte nur: »Bitte kommen Sie …« Da verstand ich. Ein Feuerwehrmann, der sagt, »Kommen Sie«, und nicht »Ihre Mutter wurde ins Spital gebracht« oder »Ihre Mutter wird medizinisch versorgt« — da weiß man schon, was das bedeutet.
Tränen traten mir in die Augen. Auch Jovitas Gesicht war tränenüberströmt.
Als wir ankamen, sahen wir Sicherheitskräfte, die Feuerwehr und die Kriminalpolizei. Da war mir mit einem Schlag alles klar: Mutter war tot, und das Feuer war von ihrer Wohnung ausgegangen.
Man nahm uns sofort beiseite, und wir gingen in ein kleines Zimmer im Erdgeschoss eines Gebäudes, das zu dem Gemeindebau gehörte, und erklärte uns: »Das Feuer wurde gelegt.« An mehreren Stellen. Ein Mord an Mutter? Wer könnte ein Interesse daran haben, unsere Mutter zu töten? Da drängte sich uns das Bild jener Person auf, die wir zuletzt bei unserer Mutter gesehen hatten. Jener Person, die sie als letzte lebend gesehen hatte. Y. In meinem Kopf wie auch in jenem Allans, der kurz nach mir eingetroffen war, und auch bei unseren Frauen tauchte ständig ein Gedanke wieder auf. Aber nein … Das konnte nicht sein. Die Polizei, die die Untersuchung durchführte, hatte keinerlei Hinweis, was den oder die Brandstifter betraf, und hatte noch niemanden festgenommen. Wir wurden unten zurückbehalten, weil die kriminaltechnische Untersuchung in der zu siebzig Prozent abgebrannten Wohnung im Gange war. Wir wussten nicht einmal, ob Mutters Körper noch existierte. Wahrscheinlich schon. Für die Ermittlung der Tatsachen und für die Untersuchung. Ich habe nicht die Kraft, zu beschreiben, was einem als Sohn in einer solchen Situation für Gedanken durch den Kopf gehen. Wir verscheuchten die Bilder, die in unserem Kopf auftauchten, und versuchten, nicht an den Schmerz, den unsere Mutter empfunden haben musste, zu denken. Von Messerstichen war allerdings nicht die Rede. Im Grunde genommen wussten wir gar nichts.
Wir blieben bis Mitternacht in dem Versammlungsraum des Gebäudes, ohne dass man uns erlaubt hätte, uns der Wohnung zu nähern. Wir sahen nur, dass die Außenmauern rund um die Fenster unserer Mutter von Flammen geschwärzt waren. Am nächsten Tag bestellte die Polizei mich auf das Kommissariat, während Allan in Begleitung seiner Frau Colette mit seinem Auto dem Polizeiauto bis zur Kriminalpolizei, die sich im 10. Pariser Gemeindebezirk befindet, folgte. Er war einer der Letzten, die Mutter noch lebend gesehen hatten, und konnte wertvolle Informationen für die unmittelbare Untersuchung liefern. Seine Zeugenaussage dauerte bis spät in die Nacht hinein. Er kehrte vollkommen erschöpft heim, auch seine Frau war erledigt, und trotzdem gelang es ihm nicht, in der Nacht ein Auge zuzutun, ebenso wenig wie uns. Es war für uns einfach undenkbar, dass unsere sanfte Mutter Opfer eines Verbrechens geworden sein könnte. Sie zu verlieren hätte uns in jedem Fall wehgetan, doch unter diesen Umständen war die Sache richtig tragisch. Wir befanden uns in einer Schockstarre. Wir waren ungläubig. Mutter ermorden! Warum denn? Sie besaß nichts. Sie hatte es nie geschafft, sich mit irgendjemandem zu streiten!
Am nächsten Morgen hatten Jovita und ich nacheinander einen Termin bei der Kriminalpolizei, dann Colette und Allan, um noch genauere Aussagen zu machen und uns den Bericht über die ersten Feststellungen und die Indizien der Untersuchung anzuhören. Auch Huguette, Mutters Cousine, die ihr sehr nahegestanden hat, wurde vorgeladen, um Fragen zu beantworten und Informationen zu ergänzen, die zur Aufklärung dieser Katastrophe beitragen konnten. Wir wurden nach unserem Tagesablauf befragt, nach Mutters Gewohnheiten …
Man versicherte uns, dass die Polizei »in der Lage sein würde, uns Genaueres mitzuteilen«. Wenn wir nur eine Ahnung gehabt hätten … Sie wussten es bereits, offensichtlich noch am gleichen Abend. Wir wussten nicht, dass unsere Mutter nicht durch einen Brand gestorben war. Es war schlimmer. Schlimmer, als man sich vorstellen konnte.
Sehr schnell, nachdem Mutters Name in der Presse und im Fernsehen genannt worden war, liefen bei uns die Telefone heiß. Nahestehende riefen an und waren entsetzt, aber auch Vertreter der jüdischen Gemeinde in Frankreich, zu der ich bis dahin nur ein sehr entferntes Verhältnis gehabt hatte. Am Samstagabend rief mich der Politiker Meyer Habib an, weil er sich mit mir treffen wollte. Er ist Abgeordneter der Auslandsfranzosen in der Nationalversammlung, Mitglied von Untersuchungskommissionen über den Dschihadismus und zuständig für die Information von manchmal sehr unwissenden Abgeordneten zum Thema Antisemitismus. Ich war nicht in der Lage, irgendwohin zu gehen, und daher kam er zu mir nach Hause. Ich war erledigt, sprachlos und entsetzt: Es gab keinerlei Grund, unsere Mutter zu ermorden! Keinen! Er und andere Verantwortliche des Konsistoriums, die später bei mir anriefen, erklärten mir, dass es sich bei der Ermordung einer alten Dame, für die kein anderes Motiv, und vor allem nicht Geld, in Frage kam, um einen Akt des Antisemitismus handeln musste. Nichts wies jedoch darauf hin, und weder Allan noch ich wollten dieser Theorie Glauben schenken. Mutter war zwar Jüdin, aber sie war auch so viel anderes. Wir hörten uns an, was man uns sagte, lasen die Zeitung, wo dieses Gerücht schnell kolportiert wurde, und sagten nichts. Letzen Endes sind wir wie unsere Mutter: Wir können nicht glauben, dass das Böse wirklich existiert, obwohl wir mit einer grässlichen Sache konfrontiert waren.
Am nächsten Tag traf ich kurz vor Allan, der etwas später vorgeladen wurde, im Kommissariat ein. Aufgrund des Feuers, aufgrund des Verbrechens an Sarah Halimi, der alten Dame, die keinerlei Unrecht begangen hatte außer der Tatsache, Jüdin zu sein, konnte ich es mir nicht verkneifen, der Polizei die Frage zu stellen: »Es handelt sich doch wohl nicht um ein antisemitisches Delikt?« Die Polizei verneinte das. Damit legte ich diese verrückte Idee ad acta. Ich wollte Antworten, aber ich war nicht auf das gefasst, was man mir in der Folge sagte. Ich saß auf dem Kommissariat, war völlig erledigt, Jovita an meiner Seite — wir hatten beide in der Nacht kein Auge zugetan. Uns gegenüber saßen die Polizeiinspektoren, und ich dachte, es könnte nicht mehr schlimmer werden. Doch dann erklärte mir der Polizist so taktvoll wie möglich: »Also … Ihre Mutter ist nicht durch den Brand gestorben. Sie wurde zuvor durch elf Messerstiche ermordet.« Ich hatte im wahrsten Sinne des Wortes das Gefühl, zu sterben, dachte, dass mein Herz nun stillstehen würde. Ich habe geweint. Ich ging aus dem Zimmer.
Ich war vollkommen geschockt. Noch nie im Leben hatte ich etwas Ähnliches empfunden. Man muss viel ertragen, wenn man eine so abstoßende, grausige Sache hört. Es braucht Kraft, nach einem solchen Erlebnis weiterzuleben.
Ich rief sofort Allan an und sagte: »Komm schnell. Du wirst schon sehen.« Ich wollte nicht, dass er diese fürchterlichen Worte aus meinem Mund vernehmen sollte. Als Allan mit seiner Frau Colette eintraf, machte er die gleiche traumatisierende Erfahrung mit den gleichen Erklärungen durch. Mit Worten lässt sich unser Entsetzen nicht beschreiben. Die arme, 84-jährige Huguette, Mutters Cousine, deren Vater ermordet und danach verbrannt worden war, musste nun miterleben, wie ihre Cousine im 11. Pariser Gemeindebezirk 66 Jahre später ebenfalls ermordet und verbrannt wurde. Wie sollte sie nicht sofort an diese Ereignisse denken? Noch dazu hatte sie mit ihren eigenen Augen die Rauchschwaden aus der Wohnung aufsteigen sehen!
Die Details des Mordes erfuhren wir nach der Verhaftung von Y am Samstagabend. Er wurde festgenommen, als er um den Ort des Verbrechens herumstreifte. Eines »mutmaßlichen« Verbrechens — so müssen wir es nennen, weil der Fall noch nicht ausjudiziert ist. Er nannte sehr schnell einen Komplizen, einen gewissen A.*21 Wir erfuhren ihre Zeugenaussagen, die dann vom Staatsanwalt an die Presse weitergegeben wurden. Y hatte angeblich A angerufen, damit er ihm helfe. Er hatte A, der ein oftmaliger Rückfalltäter war und zu diesem Zeitpunkt ein Wiedereingliederungsverfahren durchlief, im Gefängnis kennengelernt. A war zwei Monate zuvor nach seiner zehnten Verurteilung wegen Gewalttatten wieder auf freien Fuß gekommen. Er war 21 Jahre alt. Sein Strafregisterauszug sah ungefähr so aus wie der von Y: Bedrohung mit vorgehaltener Waffe, Diebstahl, Besitz von Stichwaffen, Drogen, Drohungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, aber in seinem Fall gab es keine sexuellen Übergriffe.
Die Aussagen der beiden änderten sich im Laufe der Monate nach dem Schema »Ich war’s nicht, sondern er«. Es war uns egal, wer wofür verantwortlich war, es ist Sache der Justiz, das zu klären. Was wir jedoch mit Sicherheit wissen, ohne uns darum kümmern zu müssen, wer genau was tat, ist das, was die beiden unserer Mutter antaten.
Man kann sich leicht vorstellen, welche Angst Mutter gehabt haben muss, als Y den unbekannten A in ihre Wohnung ließ. Physisch gesehen war sie nicht in der Lage, sich gegen das Eindringen eines fremden Besuchers zu wehren. Mutter saß im Rollstuhl und war nicht mobil. Da man sie ermordet auf ihrem Bett vorgefunden hatte, muss einer der beiden Männer sie dorthin gebracht haben. Sie wurde also von einem der beiden hochgehoben und an den Körper gepresst. Wie kann man eine so offensichtlich gebrechliche Person, die einem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, in seine Arme nehmen und ihr Gewalt antun?
Dann nahm einer der beiden ein Messer, ohne dass wir genau wissen, wer. Die Justiz meint sogar, dass beide Männer ihr die Messerstiche zugefügt haben könnten. Jedenfalls stach einer — oder beide — elfmal auf unsere alte Mutter ein, wobei das Messer bis zum Heft in den Körper eindrang, wie man uns mitteilte. Und man schnitt ihr die Kehle durch! Dieses Detail erfuhren wir aus der Presse, bevor die Polizei es uns bestätigte. Dann legte einer, auch wenn wir immer noch nicht wissen, wer, oder beide, mit einem Feuerzeug an mehreren Stellen in der Wohnung Feuer und zündete den Gasherd an, in der Hoffnung, auf diese Weise das ganze Gebäude zur Explosion zu bringen. Doch aufgrund eines glücklichen Zufalls war der Gashahn abgedreht. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre Ys eigene Mutter ebenfalls in die Luft geflogen, weil sie in der Wohnung darüber wohnte. Wir hatten es offensichtlich mit zwei ganz besonders hellen Exemplaren zu tun! Dann flüchtete Y, der voller Blut war, zu seiner Mutter und gab ihr das Messer, mit dem er gerade unsere Mutter getötet hatte. Mutter war ihre Nachbarin! Eine Frau, die sie seit Ewigkeiten kannte und die sie in ihren Nöten unterstützt hatte. Jemand, der eine Sammlung für sie initiiert hatte, als sie einen Trauerfall zu beklagen hatte. Mutter hatte ihr versprochen, ihr zu helfen, was auch immer passieren würde. Angeblich soll diese Frau das Messer einfach abgewaschen haben. Jemand sagte zu uns: »Was würde eine Mutter denn nicht alles tun? Ein Mutterherz ist ein Mutterherz.« Das stimmt. Aber wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass ich meine Kinder so sehr lieben würde.
An dem Wochenende, an dem der Mord passierte, hörte man ständig das Wort »Antisemitismus« in den Medien, wahrscheinlich aufgrund der offiziellen Erklärungen. Damit übernahm man die Vermutung der zahlreichen jüdischen Institutionen, die sich von Anfang an aufgrund ihrer traurigen historischen Erfahrungen in ihrer Diagnose sicher waren. Wir unsererseits zogen es, wie die meisten offiziellen Stellen, vor, zu schweigen. Wir waren der Ansicht, dass die große Achtung, die man den Opfern des Antisemitismus schuldet, und das Andenken an unsere sechseinhalb Millionen Toten von uns forderten, einerseits nicht den kleinsten Anflug von Antisemitismus in unserer heutigen Gesellschaft zu tolerieren und andererseits nicht vorschnell und auf die Gefahr eines Irrtums hin zu behaupten, Opfer eines Übels geworden zu sein, das uns in Wirklichkeit nicht getroffen hatte. Das Judentum hatte nie im Mittelpunkt unseres Lebens gestanden. Das Leben unserer Großeltern, unserer Eltern und das unsere war von Kosmopolitentum und Offenheit anderen gegenüber gekennzeichnet, und ganz besonders jenes unserer Mutter. Wir nahmen unsere jüdische Identität niemals als etwas wahr, das uns anderen gegenüber zu Opfern machte, nicht einmal mit einer Mutter, die während des Kriegs dazu gezwungen war, ins Exil zu gehen, und mit einem Vater, der im Zuge des Genozids an den Juden in ein Konzentrationslager kam. Unsere jüdische Identität erlebten wir von der angenehmsten Seite — bei Familienfesten, im kulturellen Reichtum, einem lebendigen Vereinsleben, in Filmen und Büchern oder, in Allans Fall, im Leben in der Synagoge. Wir waren weder stolz, noch schämten wir uns, Juden zu sein. Wir versteckten es nicht und drängten es niemandem auf. Jedenfalls litten wir niemals darunter, seit unsere Eltern gehofft hatten, das Schlimmste in dieser Hinsicht hinter sich zu haben. Wie sie blickten auch wir nach vorne, in eine bessere Zukunft.
Frankreich ist kein antisemitisches Land, und diese Tatsache möchten wir wirklich hervorheben, obwohl genug vorgefallen ist, das uns die Möglichkeit gäbe, alle in einen Topf zu werfen. Auch heute gibt es wieder Zehntausende Dummköpfe, die Antisemiten sind, so wie es in der Vergangenheit Millionen von Hohlköpfen gab, die das System von Vichy unterstützten, aber Frankreich hat gezeigt, dass es besser ist als Vichy und nicht auf Vichy reduziert werden konnte. Man sollte nicht glauben, dass die Antisemiten heute eine Mehrheit darstellen, ebenso wenig wie diejenigen, die die Politik der Nazis unterstützten, in der Mehrheit waren, sie waren nur die schlimmste Facette des Landes. Antisemiten sind nicht Frankreich — sie sind die Negation Frankreichs. Die neuen Antisemiten, diejenigen, die heute antisemitische Akte begehen, tragen ganz offen antirepublikanische und antifranzösische Einstellungen zur Schau, die nicht nur gegen Juden gerichtet sind, sondern auch gegen die Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die die Grundlage unserer Identität darstellen. Es handelt sich um Menschen, die bewusst den Nationalfeiertag wählen, um mit einem Lastwagen in die feiernde Menschenmasse zu fahren, wie dies am 14. Juli 2016 in Nizza der Fall war. Es sind auch diejenigen, die freidenkerische Journalisten umbringen und gleich darauf ein Geschäft mit koscheren Lebensmitteln überfallen. Niemand soll behaupten, dass das nicht die gleiche Art von Menschen sei. Wir waren, wie alle anderen Franzosen, ein potenzielles Ziel, aber wir sahen nicht überall Antisemitismus, und ganz besonders nicht im Zusammenhang mit unserer Mutter, die in ihrem täglichen Leben immer für Offenheit anderen gegenüber eintrat.
Am Sonntag wurden wir vom Präsidenten des CRIF*22, des Zentralrates der Juden in Frankreich, kontaktiert, der uns mitteilte, eine Demonstration zum Andenken an unsere Mutter und gegen Antisemitismus organisieren zu wollen. Das Problem dabei war, dass die Position des CRIF nicht jener aller Juden in Frankreich entsprach, zumindest in diesem Fall nicht der meinen. Ich nahm — im Gegensatz zu Allan — eine Haltung ein, die im Widerspruch zu der ihren stand, obwohl ich die Menschlichkeit von Herrn Meyer Habib anerkennen muss, der ein herausragendes Mitglied dieser Vereinigung ist und uns in den dunkelsten Stunden unseres Lebens sehr unterstützte. Diese Solidaritätsbekundung der Gemeinschaft tat uns wohl, doch andererseits waren wir fest entschlossen, nicht an diesem Gedenkmarsch teilzunehmen, solange nicht bewiesen war, dass es sich um ein antisemitisches Verbrechen handelte. Wir kannten uns bei diesem Thema nicht aus. Wir warteten, bis dieses unglaubliche Verbrechen geklärt würde, und hatten mehr mit unserer Trauer und der zu organisierenden Beerdigung zu tun als mit anderen Dingen. Der CRIF kümmerte sich zusammen mit Joël Mergui, dem Präsidenten des Konsistoriums von Paris, um die ganze Organisation des Begräbnisses, da wir nicht imstande waren, diese Dinge zu regeln. Sie wählten den Rabbiner, der am Friedhof seines Amtes walten würde, und kontaktierten die Synagoge des Viertels, aus dem unsere Mutter stammte, die Synagogue Tournelles im Marais. Das BNVCA, das Nationale Büro für die Wachsamkeit gegen Antisemitismus, von dessen Existenz wir bis dahin nichts wussten, trat unserem Prozess, vertreten durch Rechtsanwalt Charles Bakouche, als Privatbeteiligter bei, während Herr Meyer Habib uns einen exzellenten Strafrechtsanwalt, nämlich Rechtsanwalt Gilles-William Goldnadel, empfahl. Wir kannten natürlich keinen. Er war auf Antisemitismusfälle spezialisiert, aber als echter Mann des Gesetzes sagte er uns am Telefon sofort, dass noch nichts diese Theorie bestätige und dass es sich vorerst nur um eine Hypothese handle.
Am Montag hatten wir einen Termin beim Anwalt. Viele sagten nachher zu uns: »Aber wenn die Sache nicht klar war, warum habt ihr euch dann von Personen vereinnahmen lassen, die etwas behaupteten, was sie noch nicht wussten?« Ehrlich gesagt: Solchen Menschen wünsche ich, niemals in eine solche Situation zu kommen. Handeln zu müssen, obwohl die eigene Mutter einige Stunden zuvor ermordert wurde. Und man muss immerhin anerkennen, dass die verschiedenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde letzten Endes recht behielten mit dem, was für uns unvorstellbar war. Wir konnten keinerlei Antisemitismus hinter dem Verbrechen an Mutter erkennen!
Alles war kompliziert, und alles war grauenhaft. Am Freitagabend waren aus kriminalpolizeilichen Gründen sofort Siegel an der Wohnung angebracht worden. Wir mussten somit die Genehmigung des Bürgermeisteramts einholen, ein offizielles Papier mit der Bezeichnung »Erbbescheinigung«, um die Beerdigung durchführen zu können. Wir holten dieses Blatt Papier ab, auf dem ein paar dürftige Zeilen standen … Das war alles, was von einem Leben blieb. Wir konnten nicht wie bei einer normalen Beerdigung Kleidung holen, die sie getragen hatte, in das so bekannte Universum eintauchen, ihre Fotos ansehen und uns erinnern. All das war uns nicht möglich. Das Einzige, was wir hatten, war ein Körper — nach der Autopsie. Von dem wir natürlich niemals wirklich Abschied nehmen konnten.
Ständig klingelte das Telefon, jeden Tag öfter. Bei einem Trauerfall muss man normalerweise der Familie und den Freunden die traurige Nachricht überbringen, aber nun war es so, dass außer meinen Töchtern, die ich sofort informierte, damit sie die Zeit hätten, rechtzeitig aus Israel anzureisen, die Menschen bereits informiert waren! Sie erfuhren die grauenhafte Tatsache aus den Nachrichten und riefen uns an! Alle. Auch jene, die wir seit Jahren, ja sogar Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatten. Alle Menschen, die Mutter gekannt hatte, und die waren, weiß Gott, zahlreich. Die Dame, die unserem Vater die kleine Wohnung in Trouville vermietet hatte, als wir in der Pubertät waren, kondolierte uns, ebenso Davids Tochter, zu der der Kontakt abgerissen war, Ehepaare aus der Zeit, als unsere Eltern verheiratet waren, Menschen aus der Zeit mit David, Freunde von Mutter, von deren Existenz wir nichts wussten und von denen uns jeder einzelne eine Anekdote aus dem Leben unserer Mutter erzählte, die von ihrer Lebensfreude und Liebenswürdigkeit zeugte. Und dann kam der 26. März, jener Tag, an dem unser Leben erneut ins Wanken geriet. Die beiden mutmaßlichen Täter hatten die erste Runde ihrer Erklärungen abgegeben und waren in Untersuchungshaft oder im Gefängnis. Immerhin war jeder der beiden schon etwa zehnmal gesessen, hatte mehr oder weniger lange Strafen bekommen, es hatte sich alles abgespielt wie schon so oft zuvor, bis zum tödlichen Streich.
Am Montag, den 26. März saßen wir in einer Besprechung mit dem Anwalt, als ich eine SMS bekam. Die Nachricht war von meinem besten Freund Bernard. Er hatte eben eine brandneue Information auf sein Telefon bekommen: Die Staatsanwaltschaft war der Ansicht, dass es sich um ein antisemitisches Verbrechen handelte! Wir erfuhren zur gleichen Zeit davon wie der Rest Frankreichs. Der Anwalt war nicht allzu erstaunt darüber, weil er innerlich bereits zu dieser Überzeugung gelangt war, auch wenn er sie nicht offen zeigen hatte wollen. Wir unsererseits hatten nicht daran glauben wollen, obwohl wir während der ersten drei Nächte, in denen wir kein Auge zugetan hatten, ständig nach einem Anhaltspunkt gesucht hatten, der das Verbrechen an unserer Mutter erklären könnte. Die Erklärungen der beiden mutmaßlichen Täter änderten sich ständig. Wir werden uns hier darauf beschränken, einige Auszüge anzuführen. Y hatte angeblich seinen Komplizen zu unserer Mutter gelockt, indem er behauptete, dass sie eine reiche Jüdin sei. Bereits das ist Antisemitismus, aber dieser fadenscheinige Vorwand hielt hier nicht. Er wusste, dass Mutter nichts hatte. Das Kästchen mit ihrem Schmuck — es handelte sich ausschließlich um Modeschmuck — wurde umgedreht gefunden, ein paar Kleinigkeiten waren gestohlen — vielleicht, um das Motiv des Verbrechens zu verschleiern? Wir sehen keinerlei Erklärung. Das nächste Mal wurde als Motiv nicht Raub, sondern der Zorn von Y angeführt, der »ausgerastet« sei. »Ausgerastet« — gelinde gesagt! Angeblich hatte er unserer Mutter vorgeworfen, ihretwegen die Beerdigung seiner Schwester in Algerien versäumt zu haben, weil er ihretwegen im Gefängnis saß! Er wusste ganz genau, dass Mutter ihm nichts nachgetragen hatte. Der Beweis: Sie hatte ihm die Tür geöffnet und ein Glas Porto angeboten. A erklärte später, dass Y Mutter beschuldigt habe, ihn wegen »Waffenhandels« angezeigt zu haben, was uns im ersten Augenblick einfach unverständlich war. Erst dann kapierten wir, dass Y im Gefängnis seinen Mitinsassen wohl nicht erzählt hatte, dass er wegen eines sexuellen Übergriffs auf ein junges Mädchen saß! Dann erklärte A, dass Y Mutter gegenüber die Shoah angesprochen habe, aber warum sich das Gespräch in diese Richtung entwickelte, ist uns schleierhaft.
Wir zuckten oft zusammen, wenn wir neue »Erklärungen« hörten, die wieder nicht hielten oder die Situation der Mörder noch schlechter aussehen ließen, wenn das überhaupt noch möglich war. In den meisten Zeugenaussagen, die in diesen Tagen und später vor der Untersuchungsrichterin gemacht wurden, kam zur Sprache, dass Mutter Jüdin war, bevor A bei einer Vernehmung definitiv beschloss, dass er der Meinung sei, dass das Verbrechen nichts mit Antisemitismus zu tun habe. Natürlich nicht, denn das wäre ja ein erschwerender Umstand gewesen! Nur eines änderte sich im Laufe der Zeit nicht, nämlich die Tatsache, dass Y nach der Aussage von A am Ende des Mordes den Schrei Allahu akbar! ausgestoßen hatte, was zahlreiche Male bestätigt wurde.
Letzten Endes ist das Einzige, was wir uns richtig klar vorstellen können, das Bild unserer Mutter, wie sie an ihren Rollstuhl gefesselt ist und hilflos mitansehen muss, wie ein Unbekannter in ihre Wohnung kommt, wie sie miterleben muss, wie das Gespräch in Vorwürfe abgleitet, wie ihr Zorn und schließlich mörderischer Hass entgegenschlagen, wie sie in ihr Zimmer getragen und mit einer Brutalität ermordet wird, die durch den einfachen, wenn auch noch so ungerechtfertigten Wunsch, jemanden zu töten, nicht zu erklären ist.
Diese Umstände ließen uns, mehr als alles andere, letzten Endes annehmen, dass das Mordmotiv Antisemitismus war, ganz egal, welche Erklärungen man uns serviert und wie sie sich im Laufe der Zeit immer wieder ändern. Denn um einen Menschen zu töten, insbesondere eine alte Dame, die sich in keiner Weise verteidigen kann, muss man jemanden nicht mit elf Messerstichen durchbohren, ihm die Kehle durchschneiden und seinen Körper und den Ort, an dem sich sein Leichnam befindet, in Brand setzen. Was könnte das Motiv für so eine Tat sein außer Hass?
Und womit kann dieser Hass zusammenhängen als mit einer Ideologie?
Wir wissen nicht, welche Überlegungen die Richter anstellten, was sie für wahr oder unwahr hielten und was für sie ausschlaggebend war, dass sie diesen erschwerenden Umstand festhielten. Vielleicht war es leider schon eine mit der Zeit entstandene Routine. Wir hörten dieses Wort als Motiv für den Mord an unserer Mutter nach drei Tagen, in anderen Fällen tauchte es noch viel später auf.
Im Fall von Ilan Halimi musste der Schuldige im Jahr 2006 erst behaupten, dass alle Juden krepieren sollten, damit — viel zu spät — Antisemitismus als Motiv in Betracht gezogen wurde. Die Nahestehenden waren schon viel früher von diesem Motiv überzeugt, doch damit stießen sie bei den Untersuchungen auf taube Ohren. Die Polizei weigerte sich, diese Spur zu verfolgen, und musste später ihren Irrtum eingestehen. Die letzten Worte, die dieses Monster bei der Gerichtsverhandlung schrie, waren Allahu akbar!. Eine Manie. Im Falle Sarah Halimis warf der Schuldige die alte Dame aus dem Fenster und schrie dabei Allahu akbar!, doch es dauerte monatelang, bis Antisemitismus als Motiv angenommen wurde. Natürlich muss man der Justiz Zeit für ihre Arbeit lassen. Das Wichtigste ist, dass die Wahrheit siegt. Aber trotzdem hätte man es doch als ernsthaftes Indiz werten können, dass dieser Nachbar die Frau mehrmals im Stiegenhaus als »dreckige Jüdin« beschimpft und ihr gedroht hatte, sie zu töten …
Im Falle unserer Mutter wurde der erschwerende Umstand des Antisemitismus sofort nach den Aussagen des Komplizen von Y festgehalten. Einige Wochen danach dachten wir, es träfe uns der Schlag, als wir die Nachrichten hörten. In einer Anhörung bestätigte dieser, im Augenblick des Mordes Allahu akbar! geschrien zu haben, behauptete aber, dass er keineswegs antisemitisch sei!
Die Juden haben oft Galgenhumor bewiesen. Doch Tränen ersparte der Humor uns an diesem Tag in keiner Weise. Denn als wir diese absurde, ganz neue Erklärung in der Presse hörten, weinten wir. Und mich, dessen Charakter weniger ruhig ist als der meines Bruders, packte danach ein blinder Zorn. Allerdings ließ ich diesen Zorn, wie ich unterstreichen möchte, an niemandem aus, wenn wir schon über Verbrechen sprechen, die aus Zorn begangen werden. Mein Bruder sagt: »Unsere Mutter hat nie irgendwen gehasst. Der Hass tötete sie. Ich möchte nicht hassen. Diese Freude möchte ich diesen Leuten nicht machen, denn dann wäre ich wie sie.« Das ist schön. Aber ich kann mich nicht zu dieser Einstellung durchringen.
Sobald Antisemitismus als Motiv in der Presse genannt wurde, riefen doppelt so viele Menschen an wie zuvor, was heißt, dass das Telefon ununterbrochen klingelte: Alle Medien, Politiker und bekannte Persönlichkeiten riefen uns an. Ich, Allan oder beide sprachen mit Benjamin Netanjahu, dem Premierminister von Israel, der uns kondolierte, was uns, erledigt wie wir waren, in diesem Zustand nicht einmal mehr erstaunte. Wir erhielten Beileidsschreiben von allen möglichen Politikern, einem Politiker aus Korsika, einem aus dem Norden vom Front National, von Reuven Rivlin, dem Präsidenten Israels, den Bezirksvorstehern unserer Wohnbezirke etc.
Wir sprachen mit Journalisten von Radio- oder Fernsehsendern. Man rief uns aus Frankreich, aber auch aus Deutschland, der Schweiz, Belgien, den Vereinigten Staaten und Israel an. Meine eigenen Töchter, die zweisprachig sind, wurden oft von den israelischen Medien interviewt. Meine jüngere Tochter Keren wurde eingeladen, den Präsidenten des Staates Israel nach Auschwitz zu begleiten und dann eine Rede vor der UNO zum Thema des europäischen Antisemitismus zu halten. Da immer wieder Gerüchte über die Qualität der kolportierten Information zirkulierten, waren wir erstaunt über die Genauigkeit der Artikel und des Porträts in den Zeitungen Libération, Le Point, Le Parisien. Wir fanden, dass unsere Worte richtig wiedergegeben wurden und Mutter treffend dargestellt wurde. Wir lasen nicht alles und sahen uns nicht alle Beiträge an, denn das Porträt unserer Mutter, das überall hing, war schlimm genug für uns. Die Menschen in unserem Haus gaben Mutters Foto, das anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Wohnhauses angefertigt worden und deren älteste Bewohnerin sie war, an die Presse weiter. Darauf sah man sie in ihrem rot-schwarzen Kostüm lächeln, ihre Haare waren schön onduliert, und sie saß an einem festlichen Tisch. Ein anderes Foto zeigte sie in einem grünen Kleid mit Spitzen, mit dem unverzichtbaren Lippenstift. Das Schwierigste für uns in den darauffolgenden Tagen war nicht, dass die im Laufe der Untersuchung zutage kommende Information falsch, sondern dass sie richtig und sehr brutal war, sobald der Ablauf der Tatsachen mehr oder weniger feststand. Albtraumhafte Vorstellungen verfolgten uns Tag und Nacht. Wie sollte man sich vorstellen, dass einer der beiden eine alte, kraftlose Dame in seinen Armen bis in ihr Schlafzimmer trug, bevor er sie mit Messerstichen durchlöcherte? Im Laufe der darauffolgenden Wochen fühlten wir uns nur noch abgestoßen durch die sich ständig ändernden Aussagen und die Tatsache, dass keiner der beiden Verantwortung für seine Handlungen und »Gedanken« übernahm, wenn man im Falle dieser beiden hirnlosen Individuen überhaupt von so etwas sprechen kann. Wir hingegen mussten uns mit der Tatsache des Todes unserer Mutter abfinden. Wir waren dazu verurteilt, gefangen in unserem Kummer zu sein, wohingegen die »Schuldigen« immer noch frei waren, weil für sie die Unschuldsvermutung gilt — die Opfer aber stehen fest.
Da Antisemitismus als erschwerender Umstand feststand, beschlossen wir, am Gedenkmarsch am Abend des 28. März, der vom Place de la Nation ausging, teilzunehmen. Denn die Tatsachen waren einfach nicht mehr tragbar: Mutter war das elfte Opfer, das aus antisemitischen Gründen im heutigen Frankreich getötet worden war! Ihr Verbrechen war die traurige Fortsetzung einer ganzen Reihe von Delikten: Ilan Halimi wurde am 21. Januar 2006 ermordet, die Kinder Myriam Monsonégo Gabriel und Arié Sandler und ihr Vater Jonathan starben am 22. März 2012 vor der Schule in Toulouse, Yohan Cohen, Philippe Braham, François-Michel Saada sowie Yoav Hattab wurden am 9. Januar 2015 im Hypercacher getötet und Sarah Halimi am 4. April 2017 ermordet. Im Falle der einen war Antisemitismus das einzige Motiv, im Falle der anderen war es ein Faktor, der in den Augen der Mörder ihr Verbrechen rechtfertigte. Vor dem Gesetz und vom Standpunkt der Moral aus handelt es sich immer um das gleiche Delikt: um einen Mord, zu dem der erschwerende Umstand des Antisemitismus hinzukommt. Antisemitismus allein existiert nicht als Anklagegrund — weder im Gesetz noch in der Vorstellung mancher Mörder. Viele haben einen »Grund«: Die einen nehmen an, die Opfer seien reich — im Falle von Ilan war die Mutter Sekretärin, der Vater im Handel tätig, und Ilan wurde die allgemeine Politik Israels, ja sogar die Gründung des Staates Israel angelastet. Die Juden sind zwar untereinander völlig uneins, was dieses Thema betrifft, aber in der Vorstellung der Antisemiten scheint es, als wären wir vollkommen einer Meinung. Andere lasten Juden die Erfindung des Kapitalismus an: Dazu ist nur zu sagen, dass Marx Jude war und zahlreiche hochkarätige Nachfolger hatte, die alle antikapitalistische Ökonomen waren. All das sind »Gründe«, die zu den »Gründen« der früheren Jahrhunderte hinzukommen, wie der Tod Jesu, Pest- und Choleraepidemien usw. Obskurantismus ist immer der Wegbereiter von Antisemitismus. Und jedes Mal, wenn Juden in einem Land schlecht behandelt werden, dann ergeht es dem Rest der Bevölkerung bald ebenso. Das beweist die Geschichte, aber auch die Gegenwart.
Man muss sich in Erinnerung rufen, dass sich nach den Verbrechen in der jüdischen Schule in Toulouse einige Stimmen erhoben, die kritisierten, dass der Mörder »kaltblütig« von der Polizei erschossen worden war. Man hörte Sätze wie »bei den kleinen Kindern gibt es einen Grund, nämlich dass sie in der jüdischen Schule waren«. Was ist das für ein Grund?! Doch dann folgten die Morde bei Charlie Hebdo, im Stadion Bataclan, in Nizza und, am gleichen Tag wie das Verbrechen an Mutter, in Trèbes, und dazu kamen noch einige einzelne Morde. Seither zaudern die Polizeikräfte weniger, und die Stimmen, die Mitgefühl für die Mörder ausdrückten, verstummten. Die Bevölkerung beginnt zu verstehen, dass sie, egal ob sie jüdisch oder nichtjüdisch ist, auf jeden Fall insgesamt ein potenzielles Ziel darstellt. Mit diesem Gedenkmarsch wollten wir nicht zum Ausdruck bringen, dass Juden die einzigen, sondern dass sie die ersten Opfer sind und seit Jahrhunderten aufgrund eines tiefer liegenden Übels eine Zielscheibe für diese Art von Verbrechen darstellen. Es ist wichtig, sich im Interesse aller dieser Tatsache bewusst zu werden.
Alle politischen Strömungen und Vereinigungen Frankreichs wollten an dem Gedenkmarsch teilnehmen, von rechts außen bis zu links außen, Vereinigungen wie SOS Racisme, LICRA, Anne Hidalgo und Vertreter der Regierung meldeten sich an. Ich hörte aber, dass der französische Judenrat Anhänger der rechten Partei von Le Pen ebenso wie von der Linksaußenpartei von Mélenchon die Teilnahme untersagte, weil diese das Verbrechen nutzen wollten, um ihre Parteien von jedem Vorwurf des Antisemitismus reinzuwaschen. An diesem Punkt divergierten Allans und meine Meinung. Ich war gegen dieses Verbot: »Mit welchem Recht verbieten sie ihnen die Teilnahme?« Es mag ja antisemitische Elemente in diesen Parteien geben, aber sicherlich gibt es die auch in anderen, und das heißt nicht, dass diese Parteien insgesamt antisemitisch sind, ebenso wie einige Individuen aus Frankreich nicht stellvertretend für das ganze Land stehen. Auch hier muss man sich wieder daran erinnern, was die antisemitische Ideologie ausmacht! War dieser Gedenkmarsch nicht der Beweis für eine nationale Einigkeit in Bezug auf ein bestimmtes Thema? Mutter hätte diesen prinzipiellen Ausschluss gehasst. Und schließlich fand ich, dass es an uns gewesen wäre zu sagen, wer bei einem Marsch zum Gedenken an unsere Mutter willkommen war und wer nicht. Immerhin waren wir die Hauptbetroffenen. Ich erlaubte mir, zu den Journalisten zu sagen: Es gibt einen Tag, an dem man der Toten gedenkt, einen Tag, um Politik zu machen, und alle, die Lust haben, unserer Mutter zu gedenken, sind willkommen. Trauer ist eine Zeit des Respekts. Ehrlich gesagt, an diesem Tag wollte ich keine Polemik!
Allan war in keiner Weise meiner Meinung. Für ihn zählte eine Tatsache, die auch ich nicht leugnen konnte: Sowohl in der ultralinken als auch in der ultrarechten Partei gibt es überzeugte Antisemiten. Im Augenblick verübt man zwar in der Rechtsaußenpartei keine gewaltsamen und physischen Attacken mehr, aber man hängt einem historischen, über ein Jahrhundert alten Antisemitismus an, legt eine Haltung an den Tag, deren Bösartigkeit in der Dreyfus-Affäre und, darüber hinaus, in der Kollaboration mit den Nazis während des Krieges zutage kam. Man träumt dort von einem zu hundert Prozent katholischen Frankreich, aus dem jede andere Religion verbannt wird. Wir sind mittlerweile sicherlich nicht mehr ihr vorrangiges Ziel, was uns aber nicht weniger schlimm erschien, als wir erfuhren, dass einige von ihnen handfeste Taten setzen wollten. Auf der linken Seite handelt es sich um einen Antizionismus, der sich auf eine bestimmte politische Haltung in Bezug auf den Mittleren Osten stützt. Der Beweis? In manchen Solidaritätsdemonstrationen für das palästinensische Volk konnte man Parolen hören wie »Tod den Juden«. Nicht »Tod der Regierung« oder »Tod der israelischen Politik« etc. Nein: den Juden. Was uns wirklich wichtig war, war Besinnung — im Namen von Mireille Knoll. Wir stellten verblüfft fest, dass dieser Name nunmehr allen Menschen ein Begriff war. Wir verstanden diesen Marsch als eine Hommage an alle, die bereits gestorben sind, aber auch an die gesamte französische Bevölkerung, die am Leben bleiben und gegen die Barbarei kämpfen möchte.
Das Leben hält tragische Wendepunkte bereit: Am 18. März veröffentlichte ich einen Post auf Facebook, um die Kandidatur Frankreichs beim Eurovision Song Contest mit dem Lied Mercy zu unterstützen, aus Soldiarität mit den heutigen Flüchtlingen, die fast alle aus Schwarzafrika kommen und Muslime sind. Damit wollte ich unsere Position klarmachen, wenn sie es nicht schon war. Mein nächster Post war dann am 27. März, dem Vortag des Gedenkmarsches, wo ich Fotos unserer Mutter zur Illustration von Artikeln über Antisemitismus ins Netz stellte. Allan wie ich verurteilen Rassismus seit jeher — dass wir nun zu seinen Opfern wurden, war unfassbar für uns.
Niemals hatte ich ein Buch über Antisemitismus gelesen. Ich kannte Romane von jüdischen Schriftstellern, die das jüdische Leben beschreiben, aber mit der Theorie hatte ich mich nie beschäftigt. Das hat sich mittlerweile geändert. Mein Bruder geht schon immer am Samstag in die Synagoge, wenn er nicht arbeitet, und zwar in die Gemeinde Beth ’Habad in der Nähe seiner Wohnung, weil er sich dort gut aufgehoben und nie gemaßregelt fühlt. Seine Frau isst koscher, lässt ihn aber mit Mutter oder mir essen, was er will. Er ist ganz allgemein mehr auf Rassismus sensibilisiert, weil er ihn zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften in Mali, wo er seine humanitäre Tätigkeit ausübt, beobachten kann. Allan war Politiker, als er in Montreuil lebte, und engagierte sich bei verschiedenen Religionsgemeinschaften. Der Kampf gegen Antisemitismus war neben anderen Aufgaben ein wichtiges Tätigkeitsfeld für ihn. Allan ist es wichtig, Leiden zu lindern, aber indem er an anderen Fronten arbeitet. Anders gesagt, wir haben jeder unsere eigene Art, unser Judentum zu leben — er ist von seinem Glauben durchdrungen, ich bin Atheist, er ist Pazifist, ich bin resoluter, aber wir waren sicher keine militanten Verfechter der »jüdischen Sache«, und wir kämpften sicherlich nicht nur dafür.
Niemals wären wir auf die Idee gekommen, unsere Mutter unter diesen Bedingungen beerdigen zu müssen, interviewt von Journalisten, befragt von bekannten Persönlichkeiten. Das ist sehr verstörend.
In der Nacht vom 27. auf den 28. März erhielt mein Bruder Allan um zwei Uhr in der Früh, damit die Information nicht an die Öffentlichkeit sickern konnte, einen Anruf eines Beraters der Präsidentenkanzlei. Es war wirklich unglaublich, ebenso wie Mutters Tod. Er wollte wissen, ob wir einverstanden seien, wenn der französische Präsident bei der Beerdigung unserer Mutter anwesend sei. Allan akzeptierte, ohne mir zu sagen, dass Emmanuel Macron dem Begräbnis beiwohnen würde, und kündigte mir nur einen »hochkarätigen Besucher« an. Er sagte mir hingegen, dass Emmanuel Macron am Morgen der Beerdigung im Invalidendom Oberst Beltrame, den Helden in der Schießerei in Trèbes, und gleichzeitig Mireille Knoll ehren würde. Mireille Knoll, diese Mutter, die versucht hatte, wie eine Filmschauspielerin zu leben, mit Ausnahme der Tatsache, dass sie nicht die entsprechenden finanziellen Mittel dazu hatte, und die ansonsten nie von sich reden machte.
Am 28. März fand die Ehrung im Invalidendom statt, wohin wir nicht eingeladen wurden, weil es sich um eine Hommage an einen Helden der Republik handelte, nicht um Mutter. Wir waren sowieso ganz mit unserer Trauer beschäftigt und auf das konzentriert, was uns zu Beginn des Nachmittags erwarten würde. Um 14 Uhr beerdigten wir unsere Mutter am Friedhof von Bagneux, nicht weit entfernt von Opa Émile und Oma Sarah, deren Bruder Nathan in Auschwitz vergast und verbrannt worden war, und nicht weit von unserem Vater Kurt Knoll, der ein Überlebender der Konzentrationslager war: Wie hatte das passieren können? In Frankreich, diesem Land der Aufklärung und der Menschenrechte, im Jahr 2018? Emmanuel Macron hielt keine offizielle Rede, aber er fand sehr warmherzige Worte, die er persönlich an uns richtete, und umarmte uns herzlich. Er versprach uns, dass der Mord an Mutter nicht irgendein weiteres antisemitisches Verbrechen sein würde, sondern ein Symbol, ein Schrei nach dem »Nie mehr wieder!«. Wir beschlossen, ihm zu glauben. Es ist uns lieber, diesem Schrei als der Parole »Tod den Juden« zu glauben, die man in den letzten Jahren des Öfteren auf Demonstrationen im öffentlichen Raum im Beisein der Sicherheitskräfte, die dennoch untätig blieben, hörte. Man bat Allan, eine Erklärung abzugeben. Doch weder er noch ich hatten eine »Theorie«, außer der Erfahrung des Todes unserer Mutter. Doch das beste Mittel gegen den Tod bestand darin, eine Lobrede auf das Leben unserer Mutter zu halten. Allan hatte somit eine Hommage vorbereitet, in der nur vom Leben und der Liebe die Rede war, die unsere Mutter uns geschenkt hatte, und in der die tragischen Umstände ihres Todes nicht zur Sprache kamen. Er bat mich darum, sie in diesem Rahmen anzuführen:
»Du warst strahlend und voller Licht. Du hast gern gelesen, bist gern ausgegangen, hast Musik und Filme geliebt, du hast gern getanzt und dich für alles interessiert. Du hast immer im Kreis deiner Familie, deiner Kinder und Enkelkinder, deiner Freundinnen und Freunde gelebt. Du hast das Leben mit Leichtigkeit und einer gewissen Unbekümmertheit genommen. Du hast eine wundervolle Zeit mit Kurt, deinem Mann, erlebt, den du mit achtzehn Jahren kennenlerntest. Du hattest zu allen Vertrauen, und für dich waren die Menschen alle gut. Doch leider hast du uns nun verlassen, und du fehlst uns. Unser Schmerz ist so groß, dass nur unsere tiefe Bewegtheit ihm an Intensität gleichkommt. Die Stärke unserer Liebe wird uns dabei helfen, unser unglaubliches Leid zu tragen. Du hast zwar die Erde verlassen, doch uns wirst du nie verlassen, in unserem Herzen und durch uns wirst du immer lebendig sein. Möge Gott uns den Trost und die Seelenruhe schenken, nach der wir suchen, und möge die Seele unserer geliebten Mutter in Frieden ruhen. Das Buch des Lebens ist das höchste aller Bücher, man kann es weder nach Belieben öffnen noch schließen. Wir würden gerne zu der Seite zurückommen, die wir lieben, doch nun ist die Seite des Kummers aufgeschlagen. Papa nannte dich ›Veigele‹, kleines Vögelchen, doch nun ist dieses Vögelchen davongeflogen. Maman, ich liebe dich … Wir werden dich immer lieben.«
Allan wollte, dass nur vom Leben die Rede sein möge, ganz im Gegensatz zu den Umständen, unter denen unsere Mutter starb.
Um 17 Uhr wurden wir im Hôtel Matignon, dem Sitz des Premierministers Édouard Philippe, empfangen. Die ganze Familie war anwesend, Allan und seine Frau Colette, Jovita und ich, aber auch meine Töchter und Alexandre, Allans Sohn. Mein Bruder hatte ihn gleich über seine Mutter informiert, und Alexandre hatte seinen Vater sofort angerufen. Er hatte mehrere Monate bei seiner Großmutter in ebenjener Wohnung gelebt, in der sich das Drama ereignet hatte. Er war entsetzt und kam auf der Stelle aus Lyon, um bei uns zu sein. Sein Verhältnis zu Allan hatte sich sehr schnell geklärt und wurde zu einer hoffnungsvollen und zukunftsorientierten Beziehung. Dies ist eines der Wunder, die Mutter nach ihrem Tod vollbrachte.
Am Abend kamen wir gerade rechtzeitig zu dem Gedenkmarsch, der vom Place de la Nation ausging, und an dem Gérard Collomb, der Innenminister, Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, Christiane Taubira, die Justizministerin, und viele andere Politiker teilnahmen, aber auch Imam Chalghoumi, der immer sehr eindeutige und mutige Positionen über den würdigen Umgang mit Religion vertritt. Auch Vertreter der jüdischen Glaubensgemeinschaft, von Vereinen, anderen religiösen Bewegungen und vor allem einfache Bürgerinnen und Bürger bildeten einen Zug aus 30.000 Menschen, deren Teilnahme wir als sehr tröstlich empfanden. An sie möchten wir uns erinnern, und nicht an die Zusammenstöße, zu denen es kam, um Le Pen, Mélenchon und einige ihrer Anhänger aus der Menschenmenge zu entfernen. An diesem Tag mussten wir uns mehr denn je auf das Gute konzentrieren, auf die Einigkeit der Herzen, die wir rings um uns spürten.
Am Abend fand in der Synagogue Tournelles der Trauergottesdienst statt. Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten waren anwesend: Gérard Collomb, Anne Hidalgo, Valérie Pécresse, François Vauglin, der Bezirksvorsteher des 11. Pariser Gemeindebezirks, Laurent Wauquiez, Christophe Castaner, aber auch Vertreter der jüdischen Glaubensgemeinschaft oder jüdischer Vereine jeder Couleur, der Großrabbiner von Frankreich Haïm Korsia, Meyer Habib, Francis Kalifat, der Präsident des Judenrates, der Vertreter der Synagogue de la Roquette, zu der unsere Mutter ein enges Verhältnis hatte, Sammy Ghozlan, der Präsident des BNVCA, und einige bekannte Gesichter, auf denen Mitgefühl zu lesen war. Der Tag war wie ein Hindernislauf gewesen, ein Wettrennen gegen die Uhr von einem Ort in Paris zum nächsten, eine Prüfung nach der anderen, und am Ende waren wir vollkommen erledigt. Niemals in unserem Leben hatten wir an einem Tag so viele Hände gedrückt, waren so oft umarmt worden und hatten so viele Gesichter gesehen, von denen uns manche vertraut und andere uns aus den Medien bekannt waren, ohne dass es uns gelungen wäre, sie alle zu identifizieren. Und inmitten all dieser Menschen fühlten wir uns verloren und unglaublich allein. Wir kehrten als Waisen nach Hause zurück.