|7|Vorwort
In den frühen Siebzigern war es für die meisten Menschen offensichtlich, dass die Rassentrennung, an der man in New York, Chicago und anderen US-amerikanischen Städten hartnäckig festhielt, viel mit Rassismus zu tun haben müsse. Afroamerikaner hatten kaum Chancen, der bitteren Armut der innerstädtischen Slums zu entkommen, während ihre weißen Mitbürger in den gepflegten Wohngegenden der Vorstädte residierten. Damalige Studien belegten, dass die auf dem Arbeits- und Immobilienmarkt weitverbreiteten rassistischen Vorurteile dazu führten, dass man Afroamerikaner bei der Einstellung, Beförderung und Bezahlung benachteiligte und es ihnen erschwert wurde, sich in »weißen« Wohngegenden niederzulassen. Der Zusammenhang zwischen Rassismus und Segregation war scheinbar nicht von der Hand zu weisen. Thomas Schelling, Ökonom an der Harvard University, fragte sich dennoch, ob dabei nicht ein weniger offensichtlicher, dafür aber umso wichtigerer Faktor übersehen wurde – ob die Trennung nach Hautfarben womöglich gar nichts mit Rassismus zu tun hatte.
Schelling machte sich daran, seine Theorie auf recht unkonventionelle Weise zu untersuchen: mit einem Schachbrett und einer Handvoll Münzen. Die Felder des Schachbretts stellten dabei Häuser, die Münzen Menschen dar – dunkle Münzen Afroamerikaner, helle Münzen Weiße. Dann »bevölkerte« er das Schachbrett mit gleich vielen Münzen je Farbe, verteilte sie nach dem Zufallsprinzip und betrachtete das Ergebnis als vollständig integrierte Gesellschaft|8|. Anschließend begann er, die Geldstücke auf dem Brett zu verschieben, um zu sehen, wie sich diese Gesellschaftsstruktur mit der Zeit veränderte. Dabei ließ er sich von den üblichen Überlegungen leiten, die Menschen dazu veranlassen, ihren Wohnsitz zu wechseln, und stellte diese Veränderungen anhand der Münzen dar. Im ersten Experiment ging Schelling von der Annahme aus, dass all diejenigen, die fremdenfeindlich eingestellt sind, umziehen, sobald die erste Person der »anderen« ethnischen Bevölkerungsgruppe in der Nachbarschaft einzieht. Anschließend überlegte er sich für jede Münze, ob diese Bedingung zutraf, das heißt, ob sie auf ihrem Feld bleiben oder auf ein benachbartes wechseln würde. Das kaum überraschende Ergebnis dieses Experiments war, dass helle und dunkle Münzen schnell zusammenfanden und sich eine nach ethnischer Zugehörigkeit getrennte Gesellschaft bildete. Rassismus kann zu Segregation führen, keine Frage.
Doch ist Segregation tatsächlich einzig und allein die Folge von Rassismus?
Das ist eine ganz andere Frage, und zu ihrer Beantwortung führte Schelling ein zweites Experiment durch. Dabei ging er davon aus, dass die Bewohner seines Nachbarschaftsmodells mit Menschen anderer Hautfarbe glücklich und zufrieden zusammenleben. Als Motivation für einen Umzug ließ er sich lediglich von dem sehr nachvollziehbaren Wunsch leiten, dass selbst der toleranteste Bürger nicht unbedingt einer extremen Minderheit angehören will. Ein Weißer mag viele afroamerikanische Freunde und Kollegen haben und sich in einer Nachbarschaft wohl fühlen, in der vorwiegend Dunkelhäutige wohnen. Trotzdem ist es ihm vermutlich unangenehm, einer von sehr wenigen weißen Anwohnern zu sein, was nichts mit dem zu tun hat, was wir unter einer typischen »rassistischen« Einstellung verstehen. Schelling ging in seinem zweiten Experiment also lediglich davon aus, dass jeder bleibt, wo er ist, es sei denn, er musste plötzlich feststellen, Teil einer extremen Minderheit von weniger als etwa 30 Prozent der dort lebenden Menschen zu sein.
Nun könnte man glauben, dass die ursprüngliche Durchmischung dunkler und heller Münzen erhalten bleibt. Doch Schelling fand heraus, dass diese sich erneut strikt nach Farbe sortierten.
Abbildung 1, die moderne Computerversion von Schellings Experiment, zeigt, dass sich die links dargestellte ethnisch gemischte Gesellschaft ganz von selbst in eine nach ethnischer Zugehörigkeit getrennte verwandelt, ohne dass dies irgendjemand gewollt hätte.
Paradoxerweise führt der harmlose Wunsch eines jeden Menschen, nicht als extreme Minderheit in einem bestimmten Wohnviertel zu leben, dazu, dass ethnisch durchmischte Wohngegenden letzten Endes ein Ding der Unmöglichkeit sind. In einem 1971 veröffentlichten Artikel verkündete Schelling eine bizarre Schlussfolgerung: Selbst wenn es ab sofort nicht einmal mehr die Spur von rassistischem Gedankengut gäbe, bliebe aufgrund einer Art physikalischen Gesetzes die gesellschaftliche Aufspaltung nach ethnischer Zugehörigkeit bestehen, da sich die entsprechenden Gruppen ebenso wenig vermischen wie Öl und Wasser.1
Schellings Segregationsmodell ist ein Klassiker der Sozialwissenschaft. Es legt nahe, dass jeder, der sich mit ethnischer Segregation beschäftigt, lange und gründlich nachdenken sollte, bevor er Rassismus als einzige denkbare Ursache ins Feld führt. Das Modell |10|vermittelt jedoch auch eine allgemeiner gehaltene Botschaft. In der Regel wird davon ausgegangen, dass das Verhalten einer Gruppe weitgehend ungefiltert das Wesen der Menschen widerspiegelt, aus denen sich diese Gemeinschaft zusammensetzt. Zieht beispielsweise ein marodierender Schlägertrupp durch die Gegend, beziehen sich die üblichen und scheinbar plausiblen Erklärungsversuche auf die individuelle Wut der Beteiligten und deren Ursachen. Schellings Modell hingegen weist darauf hin, dass diese Vorstellung einem Trugschluss unterliegt. Soziale Verhaltensweisen – zumindest in einigen Fällen – müssen nicht unbedingt die Wünsche und Absichten, Gewohnheiten und Einstellungen auch nur eines Gruppenmitglieds widerspiegeln. Vielmehr legt das Modell nahe, dass es mit unserem vermeintlichen Wissen darüber, wie die Lebenswelt der Menschen funktioniert, nicht so weit her ist, wie wir gerne glauben würden.
Schellings Arbeit vermittelt daher auch eine positive Botschaft. Sie lautet, dass die menschliche Natur besser verständlich ist, wenn wir die übliche Fixierung auf die Psychologie des Individuums aufgeben und stattdessen einen ganz einfachen Ansatz verfolgen. Wenn wir Menschen betrachten, als wären sie Atome und Moleküle, die einfachen, klaren Regeln unterworfen sind, und wenn wir die Muster erkennen, die sich aus diesen Normen ergeben. Schellings Kernaussage ist, dass scheinbar komplizierten sozialen Phänomenen äußerst simple Ursachen zugrunde liegen, die in all ihrer Schlichtheit erkannt werden können, indem untersucht wird, inwieweit der Mensch Gesetzmäßigkeiten folgt, die denen der Physik nicht unähnlich sind. In diesem Buch soll genau dieser Gedanke untersucht werden – und der damit einhergehende Wandel in der Sozialwissenschaft.
Vor einigen Jahren arbeitete ich als Redakteur für die Zeitschrift Nature, dem wohl renommiertesten Wissenschaftsjournal weltweit. Mir fiel damals auf, dass viele Autoren, deren Arbeiten auf meinem Schreibtisch landeten, ernsthaft versuchten, mathematische Gesetzmäßigkeiten aus der Welt der Physik auf die |11|Welt der Menschen anzuwenden, das heißt, Sozialwissenschaft in Kombination mit Naturwissenschaft zu betreiben. Rückblickend wird mir klar, warum: Nach vielen Jahren der Missachtung begannen Wissenschaftler, Schellings Denkansatz ernst zu nehmen.2 Seitdem hat mich die explosionsartige Zunahme von Forschungsarbeiten auf dem Feld der »Sozialphysik«, wie ich sie gerne bezeichne, davon überzeugt, dass wir eine Entwicklung miterleben, die Geschichte machen wird: Die »Quantenrevolution« in den Sozialwissenschaften. Und auch wenn wir weit davon entfernt sind, die Lebenswelt des Menschen durch starre »Gesetze« beschreiben zu können, hat die Wissenschaft dennoch gesetzesähnliche Regelmäßigkeiten auf diesem Gebiet erkannt, die absolut nicht im Widerspruch zum freien Willen des Individuums stehen. Wir können freie Individuen sein, deren Handlungen in Summe zu vorhersagbaren Ergebnissen für das Kollektiv führen. Dies entspricht recht genau der physikalischen Regel, dass Chaos auf atomarer Ebene zu exakter Ordnung auf thermodynamischer Ebene führt oder die Bewegung der Planeten präzise wie ein Uhrwerk steuert.
Wie die Naturwissenschaftler, die schon seit Jahren rechnergestützte Forschung betreiben, nutzen mittlerweile auch immer mehr Sozialwissenschaftler den Computer als leistungsstarkes wissenschaftliches Werkzeug. Schon immer haben die großen Philosophen und Sozialtheoretiker der Geschichte faszinierende »Was-wäre-wenn«-Szenarien durchgespielt. Was wäre, wenn jeder Mensch ein habgieriger Egoist wäre? Könnte eine Gesellschaft unter diesen Bedingungen funktionieren oder würde sie letztendlich kollabieren? Was wäre, wenn niemand mehr eigenständige Entscheidungen treffen, sondern nur nachmachen würde, was ein anderer vorgemacht hat? Welchen Einfluss hätte dies auf den gesellschaftlichen Wandel? Bis vor noch nicht allzu langer Zeit stießen diese Gedankenspiele schnell an ihre Grenzen. Ob es mit zehn oder 100 Personen durchprobiert wird, die immer zahlreicher werdenden Verquickungen zwischen Ursache und Wirkung übersteigen sehr schnell das Leistungsvermögen selbst des genialsten |12|menschlichen Gehirns. Heute ist das – in den meisten Fällen – anders. Die Wissenschaft macht sich die Rechenkapazität moderner Computer zunutze, und Experimente mit »virtuellen« Sozialsystemen liefern Antworten auf »Was-wäre-wenn«-Fragen, die sich mit grundlegenden gesellschaftlichen Phänomenen beschäftigen.
Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, möchte ich in diesem Buch versuchen, einige der interessantesten neuen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Sozialphysik vorzustellen, weil ich die zugrunde liegenden Denkansätze für außerordentlich wichtig halte. Ich bin davon überzeugt, dass die größte Herausforderung unserer Zeit darin besteht, die Organisation eines Kollektivs und die Gesetzmäßigkeiten, die es entstehen lassen, zu begreifen. Angefangen bei der globalen Erderwärmung über die Zerstörung unserer Umwelt bis hin zu der erneuten Bedrohung durch Nuklearwaffen war die Menschheit noch niemals zuvor mit derart gravierenden Problemen konfrontiert, die sich direkt aus der Unfähigkeit ergeben, unsere kollektiven gesellschaftlichen Handlungen in die richtigen Bahnen zu lenken. Ich glaube nicht, dass es irgendeine großartige Entdeckung der Sozialphysik gestatten wird, all diese Probleme zu lösen. Wenn es uns gelingt, einen Pfad einzuschlagen, der die Zukunft der Menschheit und unseres Planeten sichert, wird es, glaube ich, eher unserer Fähigkeit zu verdanken sein, uns irgendwie und so wie immer »durchzumogeln«. Doch diese vermeintliche Schwäche wird auf alle Fälle dazu führen, dass wir die verborgenen Kräfte, welche die Welt zusammenhalten und unserem kollektiven Leben Gestalt verleihen, besser kennen und schätzen lernen.