|214|Kapitel 9
Vorwärts in die Vergangenheit
Es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn der Mensch wissenschaftlich wird! – Moral: Die Wissenschaft ist das Verbotene an sich – sie allein ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde.
Friedrich Nietzsche
Im Jahr 1968 unternahmen umweltbewusste Regierungsbeamte im US-amerikanischen Bundesstaat Vermont den Versuch, den Autofahrern auf den Highways wieder den Blick auf die schönen Wälder und Wiesen zu ermöglichen, der durch die unschönen Werbetafeln von Restaurants und Geschäften verschandelt wurde. Die simple Lösung des Problems bestand darin, Annoncierungen dieser Art ab einer bestimmten Größe gesetzlich zu verbieten. In gewisser Weise funktionierte diese Lösung auch – die kommerziellen Anzeigen wurden kleiner, und der Schilderwald lichtete sich. Doch gleichzeitig geschah noch etwas anderes: An allen Ecken und Enden tauchten mit einem Mal sonderbare und riesengroße Skulpturen auf. Zum Beispiel ein knapp vier Meter großer und 16 Tonnen schwerer Gorilla mit einem echten Volkswagen »Käfer« in den Pranken, mit dem ein Autohändler die Aufmerksamkeit potenzieller Kunden auf sich lenken wollte. Um es mit diesem King Kong aufnehmen zu können, ließ der Besitzer eines Teppichladens eine riesige Teekanne errichten, aus deren Dampf sich ein gewaltiger Dschinn mit einer Teppichrolle unter dem Arm erhob. Da an diesen Statuen keine Werbebotschaften angebracht waren, griff das Verbot nicht. Der Gesetzgeber hatte es versäumt, ein berühmt-berüchtigtes Grundprinzip der menschlichen Lebenswelt zu berücksichtigen – das Gesetz der ungewollten Konsequenzen.1
|215|In einem Artikel darüber schrieb der Soziologe Robert Merton, dass politische Maßnahmen, die zu einem bestimmten Zweck ergriffen werden, häufig aus mehreren Gründen ungeahnte Folgen nach sich ziehen.2 Mitunter trüben kurzfristig erhoffte Vorteile den Blick auf die wenig erstrebenswerten Konsequenzen, mit denen langfristig zu rechnen ist: Jeder freut sich über sofortige Steuersenkungen, wundert sich aber in einigen Jahren über den miserablen Zustand der Straßen und Schulen. Üblicher als politische Kurzsichtigkeit sind jedoch Ignoranz oder Fehleinschätzungen. Die unglaubliche Komplexität der sozialen Welt macht es nahezu unmöglich, die Folgen eines jeden einzelnen Schritts vorherzusehen.
Ende der siebziger Jahre kamen US-amerikanische Politiker, unterstützt von vielen Wirtschaftsexperten, auf die Idee, dass die Deregulierung der Fluggesellschaften zu einem verschärften Wettbewerb zwischen den einzelnen Anbietern und somit zu günstigeren Flugpreisen und einem besseren Service führen würde. An sich soll der freie Markt ja genau nach diesem Prinzip funktionieren, aber in der Realität sieht es doch etwas anders aus. Der Journalist Alex Marshall, der sich auf das Transportwesen spezialisiert hat, stellte fest, dass 30 Jahre später »weniger Direktflüge angeboten werden, es weniger Fluggesellschaften gibt, die Preise schwanken wie nie zuvor und die gesetzlichen Auflagen kostenintensiv sind – es ist wahrlich kein Zufall, dass nahezu jede größere Fluglinie vor dem finanziellen Ruin steht. Nach Schätzungen von Analysten erlitten die Fluggesellschaften seit Einführung der Deregulierung einen Verlust von insgesamt mehr als 50 Milliarden US-Dollar. Sicherlich kann der Verbraucher in einigen Fällen davon profitieren und Flüge zum Schnäppchenpreis buchen, im Gegenzug sind jedoch die Preise für andere Flugstrecken in astronomische Höhen und neue Bestimmungen wie Pilze aus dem Boden geschossen.«
Was die Befürworter und Initiatoren der Deregulierung vergessen hatten, war die Tatsache, dass die beste Art des Wettbewerbs |216|darin besteht, die Konkurrenz aus dem Geschäft zu drängen. In den 27 Jahren vor 1978 ging keine einzige US-amerikanische Fluggesellschaft bankrott, doch seitdem sind 160 von der Bildfläche verschwunden. Mittlerweile hat eine der großen Airlines die Flughäfen der meisten Großstädte Amerikas erobert, und in mehreren der größten Airports werden über 90 Prozent aller Abflüge über eine einzige Fluglinie abgewickelt. Wie jeder Vielflieger weiß, wird diese Art des Reisens immer unbequemer, da die Linienbetreiber immer mehr Passagiere auf minimalem Raum unterbringen wollen. Marshall zufolge brachte dieser Wandel noch weitere ungewollte Folgen mit sich:
Während der Regulierung kauften die großen Fluggesellschaften regelmäßig neue und treibstoffsparende Flugzeuge, wodurch auch die Flugpreise günstiger wurden. Doch nach der Deregulierung konnten es die finanziell angeschlagenen Unternehmen nicht riskieren, Milliarden US-Dollar für neue Flugzeuge vorzustrecken, die erst Jahre später geliefert würden. Aus diesem Grund sind heutzutage so viele geradezu unverantwortlich veraltete Maschinen in der Luft. Ich befürchte, dass die Liberalisierung der zivilen Luftfahrt in Amerika auch der Grund dafür ist, weshalb Boeing in den letzten Jahrzehnten erhebliche Einnahmenverluste hinnehmen musste, während der europäische Flugzeugbauer Airbus satte Gewinne einstrich. Vor der Deregulierung kauften US-amerikanische Fluglinien alle paar Jahre eine neue Flotte Boeings, was es dem Konzern ermöglichte, in innovative Forschung zu investieren und wettbewerbsfähig zu bleiben.3
Verändert man etwas an einem komplexen System, dessen Funktionen und Zusammenhänge nicht vollständig bekannt sind, muss man natürlich immer mit nicht beabsichtigten Folgeerscheinungen rechnen. Diese Lektion im Verlauf der Geschichte immer wieder zu lernen, war das Schicksal all derjenigen, die gesellschaftliche oder wirtschaftliche Veränderungen vollbringen und lenken wollten. Doch wer sagt, dass wir zur Unwissenheit verdammt sind und für immer von ungewollten Konsequenzen überrumpelt werden müssen? Jetzt haben wir die Chance, alles besser zu machen.
|217|Als der US-amerikanische Bundesstaat Illinois vor einiger Zeit die Deregulierung seines Strommarktes beschloss, besaßen die Befürworter dieser Entscheidung die geistige Größe und die Ehrlichkeit zuzugeben, dass Ideologie und Wissen zwei Paar Stiefel sind. Fest entschlossen, den Fehler Kaliforniens nicht zu wiederholen – wo die Deregulierung es Enron und anderen Stromerzeugern ermöglicht hatte, den Markt zu manipulieren und die Verbraucher während der angeblichen Stromknappheit im Jahr 2000 um Milliarden von US-Dollar zu betrügen –, beauftragte die Regierung von Illinois Wissenschaftler vom Argonne National Laboratory damit, herauszufinden, ob ähnliche Probleme auch hier auftreten könnten. Doch wie lässt sich die Zukunft voraussagen? Es ist im Prinzip relativ einfach, sofern man sich die Mühe macht, auf die Details zu achten. Unter der Leitung von Charles Macal wurde ein Computermodell entwickelt, dessen »Agenten« die Rollen der Privatkunden, der Regulierungsbehörde, der Energieversorgungsunternehmen und Geschäftskunden übernahmen. Die Agenten verfolgten ihre jeweiligen Interessen mithilfe unterschiedlicher Vorgehensweisen, lernten aus ihren Erfahrungen und bemühten sich um immer neue und bessere Strategien. Manche Agenten scheuten auch nicht vor betrügerischen Machenschaften zurück, und Macals Team fand heraus, dass die Möglichkeiten zum Betrug auch durchaus gegeben waren. Manche Versorgungsunternehmen brachten es fertig, sich ein Stück »Niemandsland« zu erobern, in dem sie die Strompreise nach Belieben festsetzen konnten – eine Entwicklung, welche die Deregulierungsmaßnahmen doch gerade verhindern sollen. So viel zur schlechten Nachricht, aber die gute lautet, dass es dem Team gelang, diese Lücke zu schließen und das Problem zu lösen. Illinois wollte die Liberalisierung des Strommarktes im Jahr 2007 einführen, und weiß inzwischen tatsächlich, was dabei zu beachten ist.
Die Art und Weise, wie die Regierung dieses Bundesstaats zu mehr Einsicht und Kenntnissen gelangte, entspricht ganz dem Prinzip, das ich in diesem Buch immer wieder beschrieben habe. |218|Man mache sich eine grobe Vorstellung über das soziale Atom und seine Interaktionen mit anderen und finde dann mit den zur Verfügung stehenden Mitteln – ob Mathematik, Computern oder anderen – heraus, welche Muster sich wahrscheinlich herauskristallisieren und mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist. Genau so und nicht anders funktioniert jede Wissenschaft, doch ausgerechnet in den Sozialwissenschaften wird diese Regel nicht gebührend beachtet. Eine Ironie des Schicksals, wenn man bedenkt, dass die großen Sozialtheoretiker früherer Zeiten sich genau dafür starkmachten.
Die naturwissenschaftliche Tradition
Man darf wohl ruhigen Gewissens behaupten, dass der konventionelle ökonomische Blick auf Menschen als hyperrationale Rechenmaschinen, die ausschließlich eigennützig handeln, nicht gerade zu den produktiveren wissenschaftlichen Theorien gehört. Man könnte sogar so weit gehen, sie als Beweis dafür zu sehen, dass eine absolut unwissenschaftliche Denkweise ihren Weg in die Humanwissenschaften fand – eine Wissenschaft, die vor langer Zeit auf einem viel vernünftigerem Gerüst aufgebaut wurde. Der in diesem Buch bereits erwähnte schottische Philosoph David Hume, der 1711 – rund 60 Jahre nach Isaac Newton – geboren wurde, hatte sich mit Leib und Seele dem wissenschaftlichen Fortschritt und dem Ziel verschrieben, den Menschen zu erforschen wie Newton physikalische Ereignisse: nicht mithilfe theoretischer Logik, sondern mittels praktischer Experimente und Beobachtungen. In seiner Arbeit Eine Abhandlung über die menschliche Natur verlieh Hume seiner Hoffnung Ausdruck, dass mithilfe einer »experimentellen Denkmethodik« der Grundstein für eine »Humanwissenschaft« gelegt werden könnte. Die altehrwürdigen Philosophen sahen den Menschen entweder als Sklaven seiner Triebe oder als halbgöttliches, logisch denkendes |219|Wesen, das sein Schicksal selbst bestimmt. Hume führte jedoch ins Feld, seine Forschung hätte gezeigt, dass weder die eine noch die andere Sichtweise richtig wäre. Auch wenn sich der Mensch manchmal vernünftig verhält, ist geistige Reife doch häufig nicht die treibende Kraft. Hume schrieb, dass Menschen in ihrem Umgang miteinander normalerweise wenig Vernunft walten lassen, sondern aufeinanderprallen wie Billardkugeln und sich gegenseitig beeinflussen. Sitten und Gebräuche bestimmten nach Humes Ansicht das menschliche Handeln. Oft sei sich der Akteur ihrer gar nicht bewusst und sie ließen ihn Dinge tun, von denen er nicht wisse, warum und wofür er sie tut.4
Mit dem Ausdruck »Sitten und Gebräuche« bezog sich Hume bereits lange vor der Schaffenszeit Charles Darwins und dessen Begriffsdefinitionen im weitesten Sinn auf soziale Normen, Gewohnheiten und traditionelle Verhaltensweisen als biologisches oder kulturelles Erbe. Es schränkt menschliche Handlungsweisen ein oder kanalisiert sie, weshalb sich viele Erdenbürger sehr ähnlich verhalten. Hume lehnte unter anderem auch die Theorie ab, Habgier sei der verhaltensbestimmende Faktor. Für ihn war Altruismus ein Grundelement des menschlichen Charakters. Die Vorstellung, der Mensch sei ein selbstsüchtiges Wesen, widersprach seiner Meinung nach dessen Gefühlswelt und Fähigkeit zu unvoreingenommenen Eindrücken.
Daher ist es vermutlich kein Zufall, dass das praktische Verständnis der sozialen Welt, das wir uns heute wieder aneignen, zu Humes Zeiten radikal weiterentwickelt wurde, was größtenteils der Arbeit seines Freundes und Landsmanns Adam Smith zu verdanken ist. Ebenso wie Hume zeigte dieser kein Verständnis für die Annahme von den grundsätzlich egoistischen Motiven. Obgleich er heutzutage oft als Urheber des krassen Individualismus gilt, war er davon überzeugt, dass eine gesunde soziale Ordnung nur dann erreicht werden kann, wenn »wir viel für andere und wenig für uns selbst empfinden«. Während Hume danach strebte, dem Charakter des sozialen Atoms auf den Grund zu gehen, war |220|Smith mehr an den – oft überraschenden – gesellschaftlichen Ergebnissen interessiert, die soziale Atome über ihre Interaktion miteinander hervorbrachten. Smiths Untersuchung über Wesen und Ursachen des Volkswohlstandes wurde zutreffend als »die Enzyklopädie über den Effekt ungewollter Konsequenzen in menschlichen Beziehungen« bezeichnet.5 Weitaus bekannter wurde er jedoch durch seine Theorie, dass Individuen, die ungehindert ihre eigenen Ziele verfolgen dürfen, ganz ohne es bewusst zu wollen, letztlich zum Wohl der Gesellschaft beitragen. Vor allem aber beschäftigte ihn ganz generell die Frage, ob und wie sich durch ein fundiertes Verständnis der menschlichen Natur unerwartete Ereignisse im sozialen Leben vorhersehen lassen. Smith war der festen Überzeugung, dass der Mensch weitaus stärker von seinen Trieben denn von seiner Vernunft geleitet wird. Deshalb sei ein sozialer Fortschritt am besten zu erreichen, wenn bekannt wäre, wie sich diese Triebe in die gewünschte Richtung kanalisieren ließen.
Wären Hume und Smith heute noch am Leben, wären sie vermutlich beide der Auffassung, dass die ungleiche Verteilung des Wohlstands – und diese Kluft wird seit 25 Jahren in nahezu allen Ländern weltweit größer und größer – die soziale Kohäsion gefährdet.6 Smith war felsenfest davon überzeugt, dass die sozialen Muster, die aus persönlichen Handlungen entstehen, auf die Individuen zurückwirken und Verhaltensänderungen nach sich ziehen. Ich glaube nicht, dass ihn die modernen psychologischen Erkenntnisse überraschen würden, denen zufolge der Mensch sein Wohlbefinden und seinen Wohlstand im Vergleich zu seinen Mitmenschen beurteilt, das heißt, beides nicht in absoluten, sondern relativen Maßstäben misst. Vor diesem Hintergrund führt ein hohes Maß an ungleicher Vermögensverteilung tendenziell dazu, dass Gefühle wie Zufriedenheit und Glücklichsein langsam, aber sicher ausgehöhlt werden. Smith würde vermutlich auch darauf hinweisen, dass dieses Ungleichgewicht heute ebenso wie zu seiner Zeit zu einem unproduktiven Verhalten führt, das in der Volkswirtschaftslehre als Rent-Seeking bezeichnet wird. Anders formuliert|221|, die Reichen nutzen ihre Macht aus, um die Konkurrenz zu verschärfen und ihr Einkommen über die weniger Wohlhabenden zu sichern. Der Trend hin zu einem immer größeren Ungleichgewicht hätte Smith aus den Gründen, die in einer Studie der Vereinten Nationen genannt werden, wohl mehr als beunruhigt:
Die Aufspaltung der Gesellschaft als Folge einer extrem ungleichen Verteilung von Einkommen und Wohlstand schlägt sich in einer schlechteren Wirtschaftsbilanz eines Landes nieder. Ist der Wohlstand gerechter verteilt, führt dies typischerweise dazu, dass auch Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten gleichmäßiger im Land verteilt sind. Leben in einer Gesellschaft überwiegend arme Familien, sind die durchschnittlich erzielten Schulabschlüsse schlechter als in einer homogeneren Gesellschaft, die sich aus Familien der Mittelschicht zusammensetzt, wie man sie in den meisten europäischen Ländern findet. Somit führt ein hohes Maß an Ungleichheit in einem Land zu einem unterentwickelten Humankapital, was sich letztendlich auf die Wirtschaftsbilanz dieser Nation auswirkt.7
Es steht außer Frage, dass Hume und Smith die moderne Vorstellung über das isolierte, unabhängige und von seinem sozialen Umfeld unbeeinflusste Individuum als tückische Fehleinschätzung abtun würden. Soziale Muster wirken auf jeden Einzelnen zurück und lenken sein Verhalten manchmal in destruktive Bahnen. Doch wenn es gelingt, diese Muster effektiv zu nutzen, lässt sich menschliches Verhalten vielleicht ebenso gut in produktive Bahnen lenken. Dass dies allein aufgrund der schier unendlichen Kombinationsmöglichkeiten der komplexen menschlichen Lebenswelt extrem schwierig ist, war eine Hürde, die Hume, Smith und andere aufgeklärte Denker nicht erkannten, oder vielmehr nicht erkennen konnten. Ihr Vorhaben, nach dem Vorbild der Physik eine Humanwissenschaft zu gründen, scheiterte daran, dass ihnen zur damaligen Zeit nicht die erforderlichen Werkzeuge zur Verfügung standen. Vor allem aber fehlte noch das heutige Wissen physikalischer Forschung und die moderne Computertechnik, um die Folgen einfacher Regeln im »Experiment« zu untersuchen.
|222|Gut zwei Jahrhunderte später haben wir die Möglichkeit, einen Schritt zurückzugehen und dort neu anzusetzen, wo Hume und Smith aufhören mussten. In den vorherigen Kapiteln wurden schon verschiedene spezifische Beispiele vorgestellt. Vielleicht gelingt es uns ja, in der Geschichte der Menschheit als Ganzes ebenfalls wichtige Muster zu erkennen, die auf allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten hindeuten.
Warum Weltreiche untergehen
Karl Marx glaubte, im Verlauf der Geschichte die Entwicklung zur Weltherrschaft des Proletariats zu erkennen. Der britische Historiker Arnold Toynbee behauptete, im Aufstieg und Fall von Kulturen verberge sich ein zyklisches Muster. Die meisten modernen Historiker sind der Ansicht, dass sich Marx und Toynbee etwas vorgemacht hätten, dass die Suche nach historischen Gesetzmäßigkeiten Traumtänzerei sei. Doch wäre es nicht viel absurder zu glauben, einzig der Mensch wäre nicht der natürlichen Logik von Form und Prozess unterworfen, während die dynamische Entwicklung jeder anderen Population dieser Erde deutlich erkennbaren Mustern der Evolution und des Wandels folgt? Wir sind sicher noch weit davon entfernt, die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte auch nur annähernd verstehen zu können, doch es ist sicher amüsant – und wahrscheinlich aufschlussreich –, wenn wir die Puzzlestücke, die wir inzwischen gesammelt zu haben, aufs Geratewohl zusammenfügen.
Abgesehen von unserer Intelligenz unterscheiden wir uns von anderen Spezies vor allem durch unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit Artgenossen, die nicht einmal mit uns verwandt sein müssen. Dieser Fertigkeit des Arbeitens, die nur dem Menschen eigen ist, verdanken wir vermutlich sogar unsere Vorherrschaft auf diesem Planeten. John Gray schrieb: »Die Zerstörung der Umwelt ist keineswegs die Folge des globalen Kapitalismus, der |223|Industrialisierung, der ›westlichen Zivilisation‹ oder von schlecht organisierten Institutionen, sondern die Konsequenz des evolutionären Erfolgs eines außergewöhnlich raubgierigen Primaten.«8 Was uns dazu macht, ist unser Talent zur Zusammenarbeit und Koordination, weshalb wir zu Dingen fähig sind, die ein Einzelner niemals erreichen könnte.
Dem Verhaltensmuster der »starken Reziprozität« scheint beim Aufbau kooperativer Gesellschaften eine Schlüsselfunktion zuzukommen. Eine der plausibelsten Erklärungen dieses Musters lautet, wie wir bereits gesehen haben, dass es sich aus den Konkurrenz- und Überlebenskämpfen frühzeitlicher Gruppen entwickelt hat, aus denen die kooperationsfähigeren als Sieger hervorgingen. Peter Turchin, Professor für Ökologie und Evolutionsbiologie an der University Connecticut, hat ausführlich erläutert, dass dieser Konkurrenzkampf keineswegs zu Ende ist, sondern einer natürlichen Erklärung dient, weshalb in der Geschichte immer wieder Weltreiche aufblühen und untergehen.9 Diese Begründung ist zwar höchst spekulativ, veranschaulicht aber das Potenzial, das die Kombination psychologischer Erkenntnisse und logischer Muster mit ihren Rückkopplungseffekten bietet, um die Sphäre des Geschichtenerzählens bei der Untersuchung historischer Ereignisse hinter sich zu lassen können.
Auf der Weltbühne haben Turchin zufolge ethnische Gruppen – die sich über Rasse, Sprache und andere spezifische Eigenschaften definieren – schon immer um Bodenschätze, Land und so weiter konkurriert. Die intern kooperationsstärksten und daher siegreichen Gemeinschaften waren ihren Gegnern nicht nur in der Verteidigung, sondern auch in der Offensive haushoch überlegen. Russland bildete sich vor dem Hintergrund des drei Jahrhunderte währenden Überlebenskampfes mit den angriffslustigen Tartaren der südlichen Steppen heraus. Amerika erstarkte nach den, ebenfalls 300 Jahre dauernden, kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Ureinwohnern. In groben Zügen lässt sich Axtells Theorie, weshalb manche Unternehmen besser und manche schlechter |224|für den globalen Wettbewerb gerüstet sind, auf dieses Ringen zwischen den Kulturen übertragen.
Die Vorstellung, dass Geschichte im Prinzip ein evolutionärer Konkurrenzkampf zwischen mehr oder weniger kooperativen Gruppen ist, wirft gleich die nächste Frage auf. Was hat regelmäßig den Erfolg der Sieger so sehr untergraben, dass letztlich alle Weltreiche wieder untergegangen sind? Sicherlich sind die detaillierten Umstände in jedem Fall unterschiedlich: Mit welchen Feinden hatte es das Weltreich zu tun? Wie war seine geografische Lage? Wie gut war es darin, neue Technologien zu entwickeln? Doch trotz all dieser Details ist möglicherweise folgender grundlegender Prozess dafür verantwortlich, dass die Kooperation untergraben oder zunichte gemacht wird.
Nach Paretos Gesetz der Wohlstandsverteilung gibt es in jedem reichen Land schon allein aufgrund mathematischer Prinzipien ein paar wenige Reiche und Mächtige und massenhaft Arme. Zu den Folgen eines solchen Ungleichgewichts gehören, wie wir bereits wissen, schwindendes Vertrauen, sinkende Kooperation und mangelhafte wirtschaftliche Ergebnisse. Diese Entwicklung ist ebenso nachhaltig wie unvermeidbar. Der Ökonom Edward Glaeser und seine Kollegen von der Harvard University haben zum Beispiel dokumentiert, dass die ungleiche Verteilung von Vermögen den wohlhabenden Mächtigen und machtlosen Armen gleichermaßen Anlass dazu gibt, die Institutionen von Staat und Gesellschaft zum Schaden aller zu untergraben:
Ungleichheit kann auf zweierlei Weise zu einer Unterwanderung der Institutionen führen. Erstens, die Besitzlosen verteilen das Vermögen der Reichen mit Gewalt, mit politischen oder anderen Maßnahmen um. Diese Umverteilung des nationalen Reichtums nach dem Vorbild von Robin Hood setzt das Recht am Eigentum außer Kraft und führt zu rückgängigen Investitionen seitens der Wohlhabenden. ... Zweitens, die Reichen beuten die Armen noch mehr aus, indem sie rechtliche und politische Institutionen und Kontrollorgane in ihrem Sinne beeinflussen. |225|Erreicht wird dies durch politische Einflussnahme, Schmiergelder oder schlicht die Ausnutzung rechtlicher und politischer Mittel, die ihnen den Weg frei machen. Diese Umverteilung des Vermögens nach der Machart eines König John gefährdet die Eigentumsrechte der weniger Gutsituierten – einschließlich der Kleinunternehmer – und sorgt auch bei ihnen zu mangelnder Investitionsbereitschaft.10
So gesehen könnte ein Weltreich Opfer des eigenen Erfolgs werden und seinen Untergang einläuten, weil »die eklatante Ungerechtigkeit der ungleichen Wohlstandverteilung die Kooperationsbereitschaft der Menschen zwangsläufig aushöhlt«, wie es Turchin formulierte.
Obwohl die Konsequenzen der unterschiedlichen Reichtumsverteilung durchaus alarmierend sind, ist diese Theorie vor allem deshalb höchst interessant, weil sie Geschichte nicht nur als eine Aneinanderreihung von Fakten, Daten und Entscheidungen präsentiert. Stattdessen wird versucht, historische Entwicklungen unter Einbeziehung der fundamentalen Prozesse begreiflich zu machen, die bekanntermaßen eine Rolle spielen müssen, wobei gleichzeitig auch moderne wissenschaftliche Erkenntnisse aus vielen Fachgebieten einfließen – von der Psychologie und der experimentellen Ökonomie bis zur Physik. Es ist unwahrscheinlich, dass Geschichte offensichtlichen Trends oder einfachen Zyklen folgt oder sich mithilfe einiger Formeln à la Isaac Newton beschreiben lässt. Doch sollte ihr tatsächlich ein erkennbarer Prozess zugrunde liegen, der nach einem charakteristischen Rhythmus abläuft und typische Merkmale aufweist, dann lässt er sich nur auf eine Weise entdecken – indem auf Muster und auf die Menschen geachtet wird.
Organisation ist alles
Zu Beginn dieses Buches habe ich viel über solche Muster und weniger über Menschen geschrieben – über den grundsätzlichen |226|Denkfehler, der ihre Lebenswelt noch immer als unergründliches Rätsel erscheinen lässt. Üblicherweise wird versucht, Ereignisse mit den charakterlichen Besonderheiten Einzelner zu erklären, gleichgültig ob es sich um einen großartigen Staatsmann oder einen tyrannischen Schurken handelt. Was dabei völlig außer Acht gelassen wird, ist, dass die ganz gewöhnlichen Taten ganz gewöhnlicher Sterblicher Folgen haben können, mit denen niemand rechnet. Wir haben gesehen, dass nicht die Spur rassistischen Gedankenguts erforderlich ist, um Gemeinschaften nach ethnischer Zugehörigkeit zu spalten. Wir haben erfahren, wie drastisch die Geburtenraten in den Industrienationen zurückgehen, weil Menschen ihre Freunde und Nachbarn in dieser Beziehung ebenso eifrig nachahmen wie den neuesten Modetrend. Wir gingen der merkwürdig uneigennützigen menschlichen Hilfsbereitschaft auf den Grund und fanden ihre Wurzeln in den erbarmungslosen Konkurrenzkämpfen frühzeitlicher Gruppen. Wir haben gesehen, dass sich in deren Geschichte das Wachstum und der Ruin heutiger Unternehmen widerspiegeln, je nachdem, ob die Kooperationsbereitschaft vorhanden ist oder schwindet. Des Weiteren wissen wir, dass derselbe Prozess viel mit dem Aufstieg und Untergang ganzer Weltreiche zu tun haben kann, die großen Konzernen, die sich auf der Weltbühne tummeln, nicht unähnlich sind. Und wir haben erfahren, dass manchmal ein simpler logischer Prozess, der sich hinter den Kulissen abspielt, mathematische Gesetzmäßigkeiten hervorbringt, wie wir sie aus der Physik kennen. Und das, obwohl der Einzelne nach seinem freien Willen tun und lassen kann, was er will.
Ein fundiertes Verständnis über diese Muster und Regeln gewinnen wir allerdings nicht, indem wir das menschliche Wesen als eine Art mystische und hyperrationale Gottheit feiern, sondern indem wir akzeptieren, dass auch der Mensch nur ein Teil der natürlichen Welt ist. Wir imitieren uns gegenseitig aus dem gleichen Grund wie es auch die Pinguine tun – um wertvolle Informationen von unseren Mitmenschen zu gewinnen, die über völlig andere |227|Erfahrungen verfügen als wir selbst. Die moderne Psychologie vertritt die These, dass die menschliche Intelligenz nicht auf die Fähigkeit zu berechnender Logik, sondern mehr als alles andere auf die Lern- und Anpassungsfähigkeit zurückzuführen ist. Auf sich selbst gestellt, löst der Mensch seine Probleme dadurch fast immer. Weitaus wichtiger ist jedoch die Fähigkeit, Schwierigkeiten gemeinsam aus dem Weg zu räumen. Es ist die spezifisch menschliche Begabung, mit anderen in einer Weise zu interagieren, dass der soziale Zusammenhalt gestärkt und ein komplexes Beziehungsgeflecht geknüpft wird, das Gruppen zu mehr macht als zur Summe ihrer Einzelteile. Wir bewegen uns inmitten einer unglaublich vielfältigen sozialen Lebenswelt, doch es ist nicht die einzelne Person, sondern die menschliche Gemeinschaft mit ihrer Mischung aus zahlreichen Individuen und ihren Ideen, Taten und Reaktionen, der diese Vielfalt zu verdanken ist.
Der Schlüssel zum Verständnis unserer Lebenswelt ist das Begreifen, warum und wie soziale Muster und Organisation entstehen. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass sich die Sozialwissenschaften heutzutage zunehmend der Physik widmen. In dieser Naturwissenschaft hat man schon lange ziemlich klare Vorstellungen über die Atome und deren Eigenschaften, aus denen sich unsere Welt zusammensetzt. Heute befasst sich die Physik mit der langwierigen Aufgabe, die unterschiedlichen Muster und Organisationsprinzipien dieser Atome zu verstehen, aus denen die unendliche Formenvielfalt unserer Welt hervorgeht – sämtliche Materie, von Schneeflocken über Laub bis hin zu Sternen, Galaxien und Schwarzen Löchern. Je mehr über die Bedeutung von Organisation und Form gelernt wird, umso auffälliger wird ihre Allgegenwart – selbst in den fundamentalsten Prinzipien von Mutter Natur. Dazu der Nobelpreisträger für Physik Robert Laughlin:
Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass alle uns bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten – und ich rede hier wirklich von allen – einen |228|kollektiven Ursprung besitzen. Anders ausgedrückt ist die Unterscheidung zwischen einem physikalischen Hauptsatz und den Gesetzmäßigkeiten, die sich daraus ableiten lassen, ein Mythos. ... Physikalische Gesetze lassen sich nicht rein gedanklich vorwegnehmen, sondern müssen mithilfe von Experimenten entdeckt werden. Die Natur lässt sich nur dann kontrollieren, wenn die Natur dies über ein bestimmtes Ordnungsprinzip zulässt. ... Die Wissenschaft der Physik muss uns darüber aufklären, dass die Vorstellung, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Einzelteile, nicht nur ein theoretisches Konzept, sondern ein physikalisches Phänomen ist. Die Natur regelt sich nicht über mikroskopische kleine Regeln, sondern über wirkungsvolle und allgemeine Prinzipien der Organisation.11
In der sozialen Welt fangen wir gerade erst an, diese Prinzipien der Organisation, die Muster und die verborgenen Kräfte zu erkennen, die unsere Welt zu dem machen, was sie ist. Doch die Entdeckungen der letzten 20 Jahre eröffneten ganz neue Perspektiven, die immense langfristige Nachwirkungen haben werden. Mit zunehmendem Verständnis können die grundlegenden Kräfte der Organisation erklärt werden, die überraschende Entwicklungen auf dem Aktienmarkt, Segregation und ethnischen Hass auslösen. Und dieses neu erworbene Wissen ermöglicht es, klüger und vorausschauender zu handeln.
Die Kehrseite von Wissen
Nach diesem kurzen Ausblick zu den faszinierenden Möglichkeiten, die sich aus dem Verständnis des Menschen als Teil der natürlichen Welt eröffnen, will ich nicht unterschlagen, dass diese Sichtweise auch vehement angefeindet wird. Ihre Gegner sehen in ihr den Ausdruck der Geringschätzung oder Abwertung des menschlichen Lebens. Das ist sie jedoch nicht, sondern sie geht – wie in diesem Buch herausgearbeitet wurde – lediglich davon aus, dass der Mensch wie alles andere in unserer Welt mathematischen und |229|mechanischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist. Dass dem so ist, sollte keine Überraschung darstellen. Trotzdem empfinden viele diese naturwissenschaftliche Begründung der Dinge als enttäuschend, verwirrend – und möglicherweise sogar als bedrohlich. Die Erklärung des Menschen anhand von Fakten, Beziehungen und der Analyse von Prozessen, aus denen diese Fakten gewonnen wurden, stoßen all denen sauer auf, die ihn als etwas Besonderes sehen, als Wesen, das sich sehr wohl vom Rest der natürlichen Welt abhebt. Auf Ablehnung stößt die naturwissenschaftliche Sichtweise sicherlich auch bei Millionen von Menschen, die in der Welt das offenbarte Wunderwerk eines allmächtigen Schöpfers sehen und wissenschaftliche Fakten als Angriff auf diese göttliche Freiheit empfinden.
Die Mehrheit der Weltbevölkerung fällt wohl noch immer in die zuletzt genannte Kategorie. Wenn es um Religion geht, ist die Lage nach Sam Harris, Philosophieprofessor an der Stanford University, wie folgt:
Die meisten Menschen glauben, dass der Schöpfer des Universums ein Buch geschrieben hat. Nur gibt es leider mehrere solcher Bücher, und jedes erhebt für sich den Anspruch auf Unfehlbarkeit. ... Jeder dieser Texte verlangt von seinen Lesern, diverse Ansichten und Riten zu übernehmen, von denen manche vorteilhaft sind, manche jedoch nicht. Über einen Punkt fundamentaler Relevanz sind sie sich jedoch alle einig: »Respekt« vor anderen Religionen oder gar vor den Überzeugungen der Ungläubigen ist kein von Gott gewolltes Verhalten.12
Es scheint nur allzu wahrscheinlich, dass auch Religion einen Zweck erfüllt. Ebenso wie ethnozentrische Vorurteile hat der religiöse Glaube unseren Vorfahren und ihren Gruppen genutzt, weil er zu hingebungsvollen Taten inspiriert. Ich schätze, dass das menschliche Gehirn für ihn ebenso »vorkonditioniert« ist wie für instinktive Entscheidungen darüber, wem man beispielsweise trauen kann. Blinder Glaube ist möglicherweise das ultimative Werkzeug der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Wenn alle Menschen nur einer |230|Gemeinschaft angehören würden, wäre das auch in Ordnung. Wir könnten einen kosmischen Traum leben – glauben, woran wir wollen und trotzdem in Frieden und Harmonie miteinander existieren. Doch religiöse Lager, davon überzeugt, im Recht zu sein und der gerechten Sache zu dienen, haben schon immer Kriege gegeneinander oder gegen Ungläubige geführt. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass wir in Zukunft von fanatischen Religionskriegen verschont würden – und leider werden sie mit immer leistungsfähigeren Waffen ausgetragen. In diesem Kontext könnte sich unser noch immer stark ausgeprägter religiöser Instinkt als gefährlichste »Fehlanpassung« an die moderne Welt herausstellen.
Tatsächlich sind es die gottesfürchtigen Einflüsse auf die Philosophie, die das lange vorherrschende Bild des Menschen als absolut rationales Wesen stützen und ihn auf ein Podest stellten, das ihn über der restlichen Natur thronen ließ. Auch die Ansicht, die Sozialwissenschaften müssten sich von Grunde auf von der Physik unterscheiden, es müsste eine klare Grenze zwischen der Natur auf der einen Seite und der Menschheit auf der anderen gezogen werden, lässt sich auf diese religiösen Einflüsse zurückführen. Doch wir sind ein Teil der Natur, und wir können uns nur dann besser verstehen, wenn wir diese Erkenntnis akzeptieren. Nur dann sind die Chancen gut, »vorwärts in die Vergangenheit« zu reisen und das Werk von Hume, Smith und deren Zeitgenossen fortzusetzen. Es geht darum, unsere Welt mit der optimistischen Zuversicht zu erforschen, dass wir die Wahrheit bis auf den Grund erkennen können, wie auch immer sie lauten mag. Wir werden noch auf zahlreiche verwirrende Fakten stoßen, und möglicherweise werden wir das Rätsel der Menschheit niemals lösen. Doch wir können uns zumindest der lobenswerten Einstellung des Dichters und Dramatikers Gotthold Lessing anschließen, der bereit 1778 gesagt hat:
Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die |231|Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht.