|13|Kapitel 1
Muster aufspüren und den Faktor Mensch ignorieren
Den Glauben an den Fortschritt zu verspotten, ist die größte Torheit und das klarste Zeichen für geistige Armut und die Bösartigkeit des menschlichen Geistes
Henry Louis Mencken
Im Sommer des Jahres 1992 erzählten Kriegsflüchtlinge in einer kleinen Sporthalle in Split, einer Stadt an der dalmatischen Küste Kroatiens, dem Journalisten Peter Maass von der Washington Post, was sie als Augenzeugen miterleben mussten – von dem unfassbaren Grauen darüber, dass aus ganz normalen, netten Mitmenschen über Nacht gnadenlose Mörder geworden waren. Ein Bauer namens Adem schilderte, wie Serben aus dem Nachbarort 35 Männer aus seinem Heimatdorf zusammengetrieben und ihnen die Kehlen aufgeschlitzt hatten. »Sie wurden umgebracht«, berichtete Maass, »... von Serben, die ihre Freunde gewesen waren, die noch im Herbst zuvor bei der Ernte mit angepackt hatten. Es waren die vertrauten Gefährten aus ihrer Jugendzeit, mit denen sie in heißen Sommern im Fluss Drina nackt gebadet, Abenteuer erlebt und Geheimnisse geteilt, mit denen sie die ersten amourösen Erfahrungen mit schamlosen Mädchen aus dem Dorf gesammelt hatten. Doch mit einem Mal und scheinbar ganz ohne Grund waren sie zu kaltblütigen Mördern geworden.«1
Von Anfang bis Mitte der neunziger Jahre schilderten Tausende von Menschen aus Kroatien, Bosnien und dem Kosovo ähnliche Erlebnisse wie Adem, und berichteten darüber, wie sich Nachbarn gegen Nachbarn und Freunde gegen Freunde gewandt hatten.
Nach dem Krieg interviewten offizielle Kriegsberichterstatter einen Mann aus der kroatischen Stadt Vukovar. »Wir alle waren Freunde und teilten Freud’ und Leid«, erinnerte sich der Mann |14|an seine serbischen und bosnischen Nachbarn. Doch 1991 senkte sich eine giftige Wolke aus tödlichem Hass über die Stadt. Ein Gruß zwischen Nachbarn – einst Zeichen freundschaftlicher Verbundenheit – war nun zum Erkennungszeichen ethnischer Zugehörigkeit und Solidarität geworden, zum Symbol des Mottos »Wir gegen sie«. »Plötzlich musstest du dich vor Menschen in Acht nehmen, die noch gestern deine besten Freunde waren, dich heute aber fast wie einen Fremden behandelten«, erinnert sich der Mann. »Sie trauten sich nicht mehr, mit dir befreundet zu sein.«
Das Grauenhafte und Paradoxe an derartigen Ereignissen – die sich in unserer Geschichte leider durchgängig und vielfach finden – ist, dass sich dieser Wandel scheinbar aus dem Nichts vollzieht. Plötzlich zerfällt ein scheinbar stabiles soziales Gefüge in seine Einzelteile, einstige Freunde werden zu erbitterten Feinden, die sich vom politischen Geschehen zu Taten hinreißen lassen, die sie sich in ihren schrecklichsten Albträumen nicht hätten ausmalen können. Es kommt einem so vor, als wären mit einem Mal mysteriöse Kräfte an der Macht, und niemand – sei er noch so entschlossen und willensstark – könne sich dagegen zur Wehr setzen. Es hat den Anschein, als würden wir alle von den Ereignissen überrollt.
In seinem Buch Geschichte eines Deutschen erinnert sich Sebastian Haffner daran, wie er als erbitterter Gegner der Nazis gezwungen wurde, an nationalsozialistischen Aktivitäten teilzunehmen. Mitte der dreißiger Jahre verbreitete die SA Angst und Schrecken unter der Bevölkerung und schlug jeden, der den Hitler-Gruß verweigerte, brutal zusammen. Haffners kleiner, persönlicher Beitrag zum Widerstand war, dass er sich beim Anblick der Braunhemden oft in Hauseingängen versteckte. Doch als er gemeinsam mit anderen Jurastudenten in einem Umerziehungslager interniert wurde, blieb ihm nichts anderes übrig, als selbst ein braunes Hemd zu tragen und sich an den Märschen der Nazi-Schergen zu beteiligen. »Widerstand wäre sicherer Selbstmord gewesen«, schrieb Haffner, und so wurde aus dem Unterdrückten unfreiwillig ein Unterdrücker:
|15|Wir hatten auch eine Fahne, eine Hakenkreuzfahne natürlich, und gelegentlich wurde diese Fahne vor uns hergetragen, und wenn wir durch ein Dorf kamen, so hoben die Leute rechts und links vor unserer Fahne die Hände hoch, oder aber gingen schnell in einen Hauseingang. Sie taten dies, weil sie gelernt hatten, dass wir, also ich, sie verprügeln würden, wenn sie es nicht täten. Es änderte nicht das Geringste hieran, dass ich und noch so mancher von uns selber vor den Fahnen in die Hauseingänge floh, wenn wir nicht gerade hinter ihnen zu marschieren hatten. Jetzt marschierten wir hinter ihnen und wirkten damit allein als stillschweigende Prügeldrohung auf jeden Passanten. Und jeder grüßte oder floh. Aus Angst vor uns. Aus Angst vor mir.2
Was treibt völlig normale Menschen Hals über Kopf in den kollektiven Wahnsinn? Ist es denn überhaupt angebracht, von »Wahnsinn« zu reden, wenn es um Ereignisse wie den Krieg in Bosnien, um Nazi-Deutschland oder um den Völkermord 1994 in Ruanda geht, in dem extremistische Soldaten der herrschenden Hutu in weniger als 100 Tagen mehr als 900 000 Tutsi töteten? Ist es angemessen, solche Ereignisse als psychologische Phänomene zu bezeichnen oder mit moralischen Defiziten zu erklären? Oder ist eine weniger geheimnisvolle, wenn auch viel schockierendere Ursache denkbar?
Im Jahr 1974, als die indische Bevölkerung die 500-Millionen-Marke überschritt, entschied die Regierung unter Indira Gandhi, dass die Zeit für extreme Maßnahmen reif wäre. »Wir haben wirklich alles versucht«, sagte der damalige Gesundheitsminister Indiens, »und nun sehen wir keine andere Lösung mehr.« Mit diesen Worten kündigte er die Errichtung von »Vasektomielagern« im ganzen Land an, in denen sich nach dem neuen Gesetz alle Männer mit drei noch lebenden Kindern zu melden hätten, um sich sterilisieren zu lassen. Wer nicht »freiwillig« hinginge, würde festgenommen und zwangsweise unfruchtbar gemacht werden. Als Druckmittel behielt die Polizei Lebensmittelbezugsscheine, Krankenversicherungskarten und Führerscheine ein. Einem |16|Dorfbewohner wurde sogar gedroht, man würde seinen Laden in Brand stecken, wenn er sich nicht sterilisieren ließe, und das, obwohl seine Frau schon längst nicht mehr in gebärfähigem Alter war. In nur einem Jahr wurde bei acht Millionen Indern eine Vasektomie durchgeführt.
Schon bald wurde klar, dass Gandhis Regierung einen Feldzug gegen gesellschaftliche Konventionen führte und ihre Bürger zwang, gegen ihren Glauben, ihre Überzeugungen oder Lebensträume zu handeln. Auf dem Höhepunkt gewalttätiger Proteste musste die Regierung das Programm einstellen – und Indiens Bevölkerung wuchs weiter. Daran hat sich bis heute nichts geändert – in ganz Indien. Ganz Indien? Nein, eine kleine Provinz im Süden, Kerala, ist ein gesellschaftliches Wunder dieses Landes. Irgendwie hat Kerala ganz ohne Zwang, Brutalität oder Propaganda erreicht, was dem Rest Indiens bislang noch nicht gelang.
Die meisten Menschen dort sind Bauern und verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit dem Anbau von Reis, Tee oder Gewürzen wie Kardamom und Pfeffer. Der typische Einwohner Keralas besitzt nur ein paar Kochutensilien und Werkzeuge, sein durchschnittliches Jahreseinkommen beträgt etwa ein Siebzigstel von dem eines Amerikaners. Dennoch wird er im Schnitt 72 Jahre alt, der typische US-Bürger übrigens 77. Überall in Indien wird eine sich explosionsartig entwickelnde Geburtenrate verzeichnet, während die Bevölkerungszahl in Kerala stabil bleibt. Erstaunlich! Ökonomisch und gesellschaftlich gesehen unterscheidet sich diese Provinz kaum vom Rest des ländlichen Indien, sie ist nicht reicher, der Boden nicht fruchtbarer als anderswo. Wie lässt sich der Unterschied also erklären?
Was Kerala so anders macht, ist nicht, dass die Menschen – insbesondere die Frauen – dort mehr über Geburtenkontrolle und Familienplanung wissen, sondern über eine relativ gute Allgemeinbildung verfügen. Ein Großteil der weiblichen Bevölkerung Keralas konnte früher weder lesen noch schreiben und rechnen. Ende der achtziger Jahre unternahm die örtliche Regierung gemeinsam mit |17|einigen Hilfsorganisationen gewaltige Anstrengungen, um den Analphabetismus ein für alle Mal zu besiegen. Zehntausende von Freiwilligen durchkreuzten die Provinz und wurden fündig: Rund 150 000 Bewohner konnten weder lesen noch schreiben, und zwei Drittel davon waren weiblich. Eine kleine Armee von Lehrern machte sich nun daran, Abhilfe zu schaffen. »Der Unterricht fand in Kuhställen, im Freien, in Hinterhöfen statt«, erzählte eine der Lehrkräfte der New York Times.
Bereits drei Jahre später, also 1991, erklärten die Vereinten Nationen Kerala zum einzigen Ort weltweit, an dem das Analphabetentum ausgelöscht worden war. Diese einzigartige Leistung scheint sich enorm auf das Bevölkerungswachstum auszuwirken. Ein indischer Experte für Familienplanung stellte 1999 fest: »Den Leuten ist es mittlerweile schon peinlich, wenn sie mehr als zwei Kinder haben ... Vor sieben, acht Jahren waren drei Kinder die Regel, was wir damals schon als Erfolg betrachtet haben. Mittlerweile haben die meisten Familien zwei Kinder, und bei Eltern mit sehr hohem Bildungsniveau setzt sich mehr und mehr das Einzelkind durch.«
Wirtschaftswissenschaftler und Sozialforscher sind sich darüber einig, dass das Bildungsniveau der Frauen in Kerala den gordischen Knoten des seit Jahrtausenden andauernden Bevölkerungszuwachses zerschlagen hat. Bildung brachte den Erfolg, der allen Programmen zur Geburtenkontrolle und Familienplanung, ja sogar der Zwangssterilisation, versagt blieb. Doch wie in aller Welt kann die Tatsache, dass Frauen nun Zeitung lesen, Tagebuch schreiben, bis 100 zählen und dreistellige Zahlen miteinander multiplizieren können, so eine Entwicklung bewirken?
Muster aufspüren
Die Kernidee dieses Buches lautet, dass plötzlicher ethnischer Nationalismus, der Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau |18|von Frauen und Geburtenkontrolle, tief verwurzelter Rassismus und eine ganze Reihe anderer wichtiger oder lediglich interessanter gesellschaftlicher Phänomene – in den Finanzmärkten, in der Politik, in der Modebranche – nur erklärbar werden, wenn weniger auf Menschen, sondern vor allem auf Muster geachtet wird. Einer alten Weisheit nach ist die Welt nur deshalb so kompliziert, weil der Homo sapiens ein so kompliziertes Wesen ist. Genau aus diesem Grund sind viele davon überzeugt, dass sich die menschliche Welt nie so exakt beschreiben lassen wird wie die der Physik oder der Chemie. Atome sind einfach gestrickt, der Mensch nicht – Ende der Geschichte. Ich hoffe, glaubhaft nachweisen zu können, dass diese Denkweise falsch ist. Zweifellos sind manche Erdenbürger kompliziert und schwer zu verstehen, aber das ist nicht das eigentliche Problem.
Jeder Autofahrer kennt folgende Situation: Man fährt zügig auf der Autobahn, und von einer Sekunde auf die nächste steckt man mitten in einem Stau, der sich einfach so und ohne ersichtlichen Grund gebildet hat. Die nächste halbe Stunde zieht sich im Stop and Go dahin, man beschimpft seine Vordermänner als »Idioten« und kann einfach nicht verstehen, was da schon wieder los ist. Weit und breit ist kein Unfall, kein liegengebliebenes Fahrzeug, keine Baustelle zu sehen. Und mit einem Mal geht es weiter, der Verkehr kommt wieder ins Rollen – ebenfalls ohne erkennbaren Grund. Verkehrsexperten bezeichnen dieses Phänomen als Phantomstau, der sich nach genau diesem Muster auf jeder beliebigen Fahrbahn mit hohem Verkehrsaufkommen ereignen kann. Die Geschwindigkeit, mit der Autofahrer auf das unmittelbare Geschehen um sie herum reagieren können, hat ihre Grenzen, was dazu führt, dass bei zunehmendem Verkehrsaufkommen und immer kleiner werdenden Abständen zwischen den Fahrzeugen irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem die Reaktionsfähigkeit überfordert ist. Jede zufällig entstehende Verdichtung drosselt automatisch den Verkehrsfluss, wodurch nachkommende Fahrzeuge zu einer weiteren Komprimierung beitragen, was eine weitere Verlangsamung |19|zur Folge hat und so weiter. So entsteht ein Stau – ganz von allein.
Auch auf einer Massenveranstaltung wie einer Protestkundgebung oder einem Konzert lässt sich dieses Phänomen beobachten, das zwar von der Erscheinungsform anders, vom Konzept her aber mit dem eines Staus vergleichbar ist. Sieht man genau hin, wird man feststellen, dass sich die Teilnehmer relativ unabhängig von individuellen Wünschen nach einem ganz bestimmten Muster bewegen. Um Zusammenstöße zu vermeiden, laufen die Menschen hintereinander, und wenn nun eine Person einer anderen folgt, die sich wiederum einer anderen angeschlossen hat, bilden sich zusammenhängende Bewegungsströme. Menschen unmittelbar rechts oder links eines solchen Flusses laufen in dieselbe Richtung, während sie weiter entfernt in der Gegenrichtung unterwegs sind. Sich einem Bewegungsstrom anzuschließen, ist sehr vernünftig, da es wesentlich einfacher ist, mit ihm zu »schwimmen« als gegen ihn. Dieser klare Vorteil veranlasst immer mehr Personen, sich einem Bewegungsstrom anzuschließen, und je größer er wird, umso mehr Menschen zieht er wiederum an und so weiter. Das Muster gewinnt an Energie und Wirkungskraft, indem es den Einzelnen in seiner Entscheidungsfreiheit einengt, da die meisten Mit-Läufer dazu tendieren, sich ihm zu beugen.
Diese simplen Beispiele verdeutlichen die bizarre Spirale, in der sich individuelle Bedürfnisse und ihre sozialen Folgen wechselseitig verstärken. Niemand will absichtlich einen Stau verursachen. Für einen Phantomstau, diese mehr als lästige Zeiterscheinung, die sich täglich und überall auf der Welt ereignet, braucht es keinen einzigen schlechten Autofahrer, damit er entsteht. Ebenso heckt kein Mensch bei einer Massenveranstaltung den Plan aus, Bewegungsströme entstehen zu lassen. Die Muster entstehen spontan aus dem Chaos und entwickeln eine kraftvolle Eigendynamik. Sie erinnern an eine Choreografie ohne Choreografen. Die verschlungenen Bewegungen innerhalb einer Masse spiegeln demnach wohl |20|kaum die Wünsche wider, die der Durchschnitt oder gar ein Einzelner dieser Menschenmenge hegt.
Im Jahr 2004 erschütterten die Fotos über die sadistische und menschenverachtende Behandlung irakischer Gefangener durch US-amerikanische Soldaten im Gefängnis von Abu Ghraib, Bagdad, ganz Amerika. Es schien unfassbar, dass ganz normale Frauen und Männer, die ganz normale Schulen besucht hatten, sich mit offensichtlichem Vergnügen an der Misshandlung und systematischen Erniedrigung wehrloser Gefängnisinsassen beteiligten. Eine plausible Erklärung ist jedoch relativ einfach zu finden – und sie hat mehr mit schlechten Mustern als mit schlechten Menschen zu tun. Vor 30 Jahren führte der Psychologe Richard Zimbardo mit einigen Kollegen der Stanford University ein Experiment durch, bei dem er ganz normale College-Studenten in einem zum Gefängnis umgebauten Keller seiner Fakultät einsperrte. Eine Gruppe übernahm die Rolle der Gefangenen, die andere die Rolle der Wärter. Die »Gefangenen« erhielten Sträflingskleidung und wurden nur noch mit ihrer jeweiligen Nummer angesprochen, die »Wärter« erhielten Uniformen, Spiegelglasbrillen und generische Namen wie »Herr Vollzugsbeamter«. Ziel der Psychologen war es, die Studenten ihrer Individualität zu berauben und herauszufinden, welche Eigendynamik diese Ausgangssituation entwickelt. Zimbardo beschrieb den Ablauf des Versuchs mit folgenden Worten:
Von Tag zu Tag wurde die Stimmung feindseliger, und der Missbrauch und die Erniedrigung der Gefangenen wurden schlimmer und schlimmer. Bereits 36 Stunden nach Beginn des Experiments erlitt der erste Gefangene einen emotionalen Zusammenbruch. Er brach in Tränen aus, schrie herum und war völlig verwirrt. Wir mussten ihn und anschließend jeden Tag einen weiteren Teilnehmer aus dem Experiment herausnehmen, weil sie extreme Stressreaktionen zeigten. Der Versuch sollte eigentlich zwei Wochen laufen, doch wir mussten ihn nach sechs Tagen abbrechen, weil er völlig außer Kontrolle geraten war. Die jungen Leute, die wir aufgrund |21|ihrer psychischen und physischen Gesundheit ausgesucht hatten, waren am Ende. Selbst die Friedfertigsten unter ihnen zeigten sadistische Züge und hatten offensichtlichen Spaß daran, die Gefangenen auf grausame und bösartige Weise zu bestrafen.
Zimbardo führte unlängst aus, dass die Ereignisse in Abu Ghraib demselben Muster folgten, und dass es weniger auf die einzelnen Täter, sondern vielmehr auf die Situation ankäme, in der sie sich befanden.3 Auf vielen der Fotos trugen die Soldaten keine Uniform; vom psychologischen Standpunkt aus waren sie anonyme und »entindividualisierte Gefängniswärter«. Indem die Gefangenen verächtlich als »Häftlinge« oder »Terroristen« bezeichnet wurden, machte man sie zu minderwertigen, wenn nicht gar wertlosen Menschen. Hinzu kam, dass die Verantwortlichkeiten der Soldaten nicht klar geregelt waren und das Gefängnisgeschehen in der Nacht kaum überwacht wurde. Solche Umstände führen natürlich nicht zwangsläufig zu einem Missbrauch von Macht, aber sie schaffen die Grundvoraussetzungen, dass er entstehen und eine Eigendynamik entwickeln kann. Je mehr Soldaten sich den Misshandlungen der Gefangenen anschlossen, umso weniger sahen sie menschliche Wesen in ihnen und umso gerechtfertigter erschienen ihnen wiederum die Folterungen.
Kommen wir nun darauf zurück, was im ehemaligen Jugoslawien und in Kerala geschah. Wenn wir auf das Muster und nicht auf den Menschen achten, lässt sich erkennen, dass diese Ereignisse – wie viele andere auch – gar nicht so schwer zu erklären sein sollten. Wie sich später noch im Detail zeigen wird, können ethnisch begründeter Hass und Misstrauen eine Eigendynamik entwickeln. So grausam und destruktiv es von außen betrachtet ist, scheint die der menschlichen Kooperation zugrunde liegende Logik unter primitiven sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für unbegründetes und tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber Menschen zu sorgen, die sich in ihrer Kultur, Religion, ethnischen Zugehörigkeit und so weiter unterscheiden, weil dadurch |22|die eigene Gemeinschaft gestärkt wird. Wie wir später noch sehen werden, ergeben einfache mathematische Berechnungen, dass auch der Ethnozentrismus einem eigendynamischen Muster folgt, das eine verheerende Kraft entwickelt, der sich viele Individuen nicht widersetzen können. Und wie erklärt sich nun das Rätsel von Kerala? Über die letzten 50 Jahre sank auch in den westlichen Nationen die Geburtenrate mit dem steigenden Bildungsniveau der Frauen. An sich keine besonders überraschende Entwicklung, denn Bildung eröffnet ihnen die Möglichkeit, eigene Interessen zu verfolgen und einen Beruf auszuüben. Außergewöhnlich an der Entwicklung in Kerala war das Tempo, mit dem sich der Wandel vollzog. Des Rätsels Lösung scheint auch hier in einem sich selbst verstärkenden Muster zu liegen: Kein Mensch kann sich dem entziehen, was um ihn herum geschieht. Soll heißen, wenn jeder im persönlichen Umfeld lesen und schreiben kann, wenn die Lebensqualität plötzlich vom Stand des Wissens abhängt, verliert die früher verständliche Entscheidung für die kinderreiche Familie und gegen Bildung ihren Reiz. Und dann trägt sich Letztere von ganz alleine. Nicht weil sich die Menschen geändert haben, nicht aus psychologischen Gründen, sondern infolge der Logik und Dynamik kollektiver Muster.
Ich denke, wir alle haben ein Gespür für solche Dinge. Intuitiv wissen wir, dass sich unser individuelles Handeln auf unser soziales Umfeld auswirkt, was eine Realität erschafft, die wiederum auf uns zurückwirkt und uns in die eine oder andere Richtung gehen lässt – mit guten oder weniger guten Folgen. Wir lassen uns von sozialen Strömungen mitreißen und verstärken sie dadurch, was sie wiederum für unsere Mitmenschen attraktiver werden lässt. Ohne es zu wollen oder uns dessen bewusst zu sein, erzeugen wir so Trends, Jugendbewegungen, Massenhysterie, religiöse Kulte, blinden nationalistischen Eifer oder Börsenfieber. Wahrscheinlich lassen wir uns des Öfteren in versteckten sozialen Strömungen mittreiben, ohne ihre Existenz auch nur zu erahnen. Und dabei beeinflussen sie unsere Haltung und Überzeugung |23|und sorgen dafür, dass wir uns mit der einen Vorstellung identifizieren, eine andere hingegen ablehnen, dass wir bestimmte Dinge unwiderstehlich oder gesellschaftlich akzeptabel finden.
All dies lässt sich jedoch auch auf eine Weise betrachten, die deutliche Parallelen zur Physik aufweist.
Das soziale Atom
Seit dem letzten Jahrhundert zielen viele physikalische Experimente und Arbeiten darauf ab, erklären zu können, wie Atome miteinander reagieren. Je nach ihrer Art und der jeweiligen Verbindungen – also je nach dem Muster ihrer chemischen Reaktion – entstehen Flüssigkeiten oder Feststoffe, leitende Metalle oder isolierender Gummi, Halbleiter und Supraleiter, Flüssigkristalle und Magneten. Die wichtigste Lektion der modernen Physik lautet: Häufig kommt es gar nicht so sehr auf die Eigenschaft der Teilchen an, sondern auf ihre Muster und Formen und darauf, wie sie sich organisieren. Und diese Lektion gilt auch jenseits der atomaren und molekularen Ebene. Vieles von dem, was sich in der sozialen Welt ereignet, ist Mustern und den Regeln der Selbstorganisation unterworfen, auch wenn wir dies oft nicht erkennen können.
In der eisigen Tundra Norwegens, auf dem Archipel Svalbard mit seiner Hauptinsel Spitzbergen, rund 1 000 Kilometer vom Nordpol entfernt, stößt man auf Gebilde, die wie Überbleibsel einer urzeitlichen Zivilisation anmuten. Auf dem mit Steinen überhäuften Untergrund finden sich an manchen Stellen exakt kreisförmige Wälle mit einem Durchmesser von knapp zwei Metern (siehe Abbildung 2).
Diese geometrisch perfekten Gebilde scheinen mit äußerster Sorgfalt und Geduld erschaffen worden zu sein – doch von wem und wozu? Wissenschaftler haben nun herausgefunden, dass |24|sich dieses Muster durch natürliche, wenn auch nicht offensichtliche, Kräfte von selbst entwickelt hat, ganz ohne menschliches Zutun und tieferen Sinn. Die Geophysiker Brad Werner und Mark Kessler konnten schon vor einigen Jahren nachweisen, dass zyklische Gefrier- und Schmelzvorgänge dafür verantwortlich sind.
Abbildung 2
Dabei geschieht Folgendes: Gehen wir davon aus, dass es zunächst keine ringförmigen Wälle gab, die Mischung aus Erdreich und Steinen jedoch nicht gleichmäßig war; mancherorts gab es mehr Steine, anderswo weniger. Sinkt nun die Temperatur unter den Gefrierpunkt – was in dieser Gegend sehr häufig passiert –, vereisen die steinigen Stellen etwas schneller, weil der eher erdige Untergrund mehr Wasser enthält, weshalb Stellen mit mehr Erdreich langsamer erstarren. Diese geringfügige Abweichung führt zu dem von Geophysikern als Frosthub bezeichneten Phänomen, bei dem die Ausdehnung des gefrierenden Wassers eine natürliche Trennung bewirkt. So gesellen sich Steine zu Steinen und Erdreich zu Erdreich. Infolgedessen sortiert sich die anfangs willkürliche |25|Durchmischung von Erdreich und Steinen in Bereiche, in denen der Boden vor allem mit Steinen oder vor allem mit Erde bedeckt ist.
Doch damit ist diese Geschichte noch nicht zu Ende. Je mehr Steine sich anhäufen, umso höher wird das Gebilde. Je höher das Gebilde, desto instabiler wird es. Durch Erdbewegungen kullern einige Steine wieder hinab, wodurch die Steinhaufen zunehmend in die Länge gezogen werden. Manchmal ziehen sich diese Wälle über ganze Berghänge, und manchmal schließen sich ihre Enden zu Drei- oder Vierecken zusammen, aus denen dann die Kreise aus Abbildung 2 entstehen (von Mark Kessler in Spitzbergen aufgenommen). Computersimulationen dieses grundlegenden Prozesses der Selbstorganisation zeigen, dass die reale Größe und Anordnung der Muster exakt der obigen Erklärung entsprechen. Sie entstehen auf natürliche Weise und ganz ohne menschliches Zutun.4
In den letzten Jahrzehnten ist es Wissenschaftlern und Ingenieuren gelungen, Tausende von ähnlichen Beispielen zu entdecken. In der Biochemie, die Streifen im Tigerfell und Muster auf Schmetterlingsflügeln entstehen lässt, in den Wellen des Meeres, in den Sanddünen der Wüste und in der Wirbelbildung eines Hurrikans. Wesentlich an der Selbstorganisation der Natur ist, dass sich ein Muster – ein Steinkreis oder die präzise Anordnung von Atomen eines Kristalls – von allein bildet, wobei die charakteristischen Eigenschaften der einzelnen Teilchen – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle spielen. Keine noch so genaue Analyse der Steine oder des Erdreichs in Spitzbergen würde das perfekte kreisförmige Muster erklären können, ebenso wie eine Untersuchung von Luftmolekülen niemals aufzeigen könnte, wie ein Hurrikan entsteht. Anstatt sich einzelne Atome und mikroskopische Teilchen anzusehen, müssen die Muster erkannt, deren Organisation und Form verstanden werden.
Doch was ist, wenn es um Menschen geht? An sich ist es nur logisch – oder sollte es zumindest sein –, dass wir sehr ähnlichen |26|kollektiven Organisationsprozessen unterliegen. Thomas Schellings Segregationsmodell veranschaulicht dies sehr überzeugend. Wenn wir uns die Menschen einmal als »soziale Atome« oder elementare Bausteine unserer Welt vorstellen, ist auf Gruppenniveau mit stark ausgeprägten Mustern zu rechnen, die ziemlich wenig mit dem Charakter der einzelnen Gruppenmitglieder zu tun haben. Möglicherweise sind Gemeinden, Regierungsbehörden, Märkte und soziale Klassen mit den Steinformationen zu vergleichen – Strukturen, die sich ohne jegliches Zutun von selbst organisieren und dabei unumgänglichen Gesetzen folgen, die wir noch nicht verstehen. Und wir wissen doch, dass es so ist. Sozialwissenschaftler erklären, dass bei manchen Gemeinschaften der Zusammenhalt stärker ist als bei anderen, und dass sie sich deshalb besser organisieren und auf Herausforderungen reagieren können. Managementtheoretiker sind davon überzeugt, dass manche Unternehmen anpassungsfähiger und widerstandsfähiger sind als andere, und dass dies mehr auf ihre Organisation denn auf bessere Mitarbeiter zurückzuführen ist. Wirtschaftswissenschaftler und Anhänger der freien Marktwirtschaft werden nicht müde, die Selbstorganisation der Märkte, Adam Smiths »unsichtbare Hand« oder die vom österreichischen Ökonom Friedrich von Hayek geprägte »spontane Ordnung« zu rühmen. Es geht dabei um einen Prozess, durch den sich ohne Kontrolle oder Planung von oben die Regale der Supermärkte füllen und der Großteil dessen produziert wird, was der Mensch braucht, weil alle Individuen ihre eigenen Interessen verfolgen.
Auch wenn der Mensch an sich wesentlich komplizierter ist als Atome oder Steine, ist inzwischen hoffentlich erkennbar geworden, dass die Subjekte sozialwissenschaftlicher Forschungen durchaus mit denen der Physik vergleichbar sind. Zunächst muss das Wesen des »sozialen Atoms« verstanden und anschließend muss untersucht werden, wie eine Vielzahl dieser Atome miteinander reagiert und somit eine Welt voller kollektiver Muster erschafft|27|. Erfreulicherweise befassen sich einige der aufregendsten wissenschaftlichen Arbeiten mittlerweile damit.
Aus dem Nichts
Das Entscheidende bei der Selbstorganisation ist, dass ein Prozess A unweigerlich zu Prozess B führt, der verstärkend auf Prozess A rückwirkt, wodurch auch Prozess B an Dynamik gewinnt und so weiter. Diese Rückkoppelung wiederholt sich in einer endlosen Spirale. Ein fallender Aktienkurs führt dazu, dass die Aktionäre diese Aktie abstoßen, was ihren Preis noch weiter sinken lässt. Ein rebellischer Aufrührer sammelt schnell Gleichgesinnte um sich. Sobald sich in einem Park die ersten Spuren eines Trampelpfads abzeichnen, dauert es nicht lange, bis ihn immer mehr Spaziergänger benutzen, die ihn immer breiter austreten, was ihn schließlich für die Mehrheit der Parkbesucher unwiderstehlich macht. Rückkopplungseffekte sind extrem effektiv, werden aber nur dann ersichtlich, wenn man sich nicht ausschließlich auf die einzelnen Komponenten eines Systems, sondern auf ihre Interaktionen konzentriert.
Von Schelling inspiriert, entwickelte der deutsche Physiker Dirk Helbing vor ein paar Jahren ein einfaches Modell, um die spontane Bildung von Bewegungsströmen in großen Menschenmengen zu untersuchen, von denen hier bereits die Rede war. Im Allgemeinen versucht jeder, der zu Fuß unterwegs ist, sein angestrebtes Ziel zu erreichen, ohne dabei mit anderen Menschen zusammenzustoßen. Wie Helbing herausfand, hat diese offensichtliche Tatsache jedoch einige nicht ebenso offensichtliche Konsequenzen. Am Computer simulierte er die Bewegungen von Hunderten von Menschen, die auf einem breiten Weg oder Gehsteig beispielsweise nach links oder nach rechts unterwegs waren. Drohte ein Zusammenstoß, wichen die Passanten einander aus, indem sie ein wenig zur Seite gingen. Die Simulation zeigte, dass |28|dieses einfache individuelle Verhalten schnell zu einem organisierten Menschenstrom führte und sich Bahnen in die eine oder andere Richtung bildeten. Aus welchem Grund? Nun, die Antwort ist, dass bei einem Ausweichmanöver jeder nur so weit zur Seite tritt, bis er sich hinter einem Vordermann befindet, der in dieselbe Richtung geht. Somit bildet eine Gruppe von »gleichgerichteten« Menschen schnell einen Strom, der umso breiter wird, je mehr Personen sich ihm anschließen. Ströme sind eine natürliche Folgeerscheinung, wenn sich Individuen in einer Masse bewegen. Sie sind nichts anderes als Strukturen, die sich aus sich selbst heraus organisieren, ganz ohne menschliches Zutun, wie die Steinformationen in Spitzbergen.5
Natürlich hat diese Selbstorganisation auch ihre Schattenseiten. Anfang der achtziger Jahre fuhren zum Beispiel in Budapest auf Anweisung der städtischen Verkehrsbehörde während der Stoßzeiten oft mehrere Busse dieselbe Strecke, um den Massenandrang an Fahrgästen zu bewältigen. Doch immer wieder beschwerten sich diese bei der Behörde darüber, dass sie 30 bis 45 Minuten auf einen Bus warten müssten, und dann kämen gleich drei auf einmal angefahren. In den Augen der Öffentlichkeit war daran natürlich die Dummheit der Busfahrer oder eine Fehlentscheidung des Managements schuld. Zum Glück erkannte die städtische Behörde schon kurze Zeit später die wahre Ursache des Problems. Es stellte sich heraus, dass der gut gemeinte Plan, drei oder mehr Busse in einem bestimmten zeitlichen Abstand ein und dieselbe Strecke befahren zu lassen, nicht aufgeht, denn dieser ändert sich andauernd. Da der vorausfahrende Bus schon viele Fahrgäste eingesammelt hat, nimmt der darauf folgende im Schnitt weniger Fahrgäste auf, weshalb er an der Station auch kürzer anhält und den ersten schnell einholt. Doch nicht nur das: Der dritte Bus holt den zweiten ein, und so weiter, und am Schluss kommen sie alle mehr oder weniger gleichzeitig an einer Haltestelle an – das Prinzip der Selbstorganisation funktioniert auch hier.
Diese Erkenntnis lieferte zugleich die Lösung. Der Verkehrsbetrieb |29|erkannte, dass die Ursache des Problems das für die Busse geltende Überholverbot war. Also erteilte die Behörde ihren Fahrern eine neue Anweisung: Wenn sie einen anderen Bus an einer Station sähen, sollten sie an dieser nicht anhalten, auch wenn das bedeutete, dass manche Fahrgäste nicht mitfahren konnten, weil der andere Bus zu voll war. Auf diese Weise war das Problem gelöst, und der Transport verlief effizienter (auch wenn sich bestimmt viele an einer Haltestelle wartende Fahrgäste ärgerten, wenn ein leerer Bus an ihnen vorbeifuhr).
Eine weitere, ebenso von Helbing und seinen Kollegen durchgeführte Simulation zeigt, wie Erkenntnisse über die Selbstorganisation dabei helfen, das Verhalten einer ganzen Gruppe zu steuern. Dazu wurde das Modell über die Bewegungsströme von Fußgängern weiterentwickelt, um mehr darüber zu erfahren, wie sich Menschenmassen in Paniksituationen verhalten, zum Beispiel bei der Flucht aus einem rauchgeschwängerten Theater. Einerseits zeigten die Computersimulationen, dass wir eine Lektion, die jedes Kind lernt, unbedingt beherzigen sollten: Nicht rennen! Bei einer hektischen, zu den Ausgängen strebenden Menge bildet sich spätestens dort ein Stau. Durch eine langsame, geordnete Flucht wird dieser jedoch vermieden, und die Menschen können sich in Sicherheit bringen. »Langsamer ist schneller!«, wie Helbing es formuliert. Das ist noch keine große Überraschung, aber die kommt jetzt. In den meisten Räumen stehen Tische, und nun stellt sich die Frage, wie sich deren Größe und Anordnung auf das Fluchtverhalten einer Menschenmenge auswirken. Es erscheint logisch, dass Hindernisse auf dem Weg ins Freie die brenzlige Situation noch weiter verschärfen, doch das täuscht. Ein Tisch, der einen Meter vom Ausgang entfernt steht, kann den Menschenstrom regulieren helfen. Dieser Tisch ändert das Muster der Selbstorganisation und sorgt dafür, dass jeder der Gefahr schneller entkommen kann.6
Eine der Hauptaufgaben der Sozialwissenschaften sollten also die Gesetze der Selbstorganisation und deren Anwendung zum Nutzen der Menschheit sein, und ich glaube, dass die meisten von |30|uns dies für einen sinnvollen sozialwissenschaftlichen Ansatz halten. Umso erstaunlicher ist es, dass die Forschungsarbeiten von Schelling, Helbing und einigen anderen Pionieren auf diesem Gebiet bis vor kurzem eine Ausnahme darstellen – nur ganz wenige Sozialwissenschaftler haben diesen Ansatz bislang verfolgt.
Eine eigenartige Wissenschaft
Im Allgemeinen denken wir bei Sozialwissenschaftlern an Forscher, die sich mit grundlegenden sozialen Phänomenen befassen: die Bildung gesellschaftlicher Schichten, das Überleben der Kultur einer Gemeinschaft oder eines Unternehmens, obwohl Menschen ständig kommen und gehen. Bei der Suche nach Erklärungen müssten die Grundlagen dieses Verhaltens genauer betrachtet werden, denn die soziale Welt besteht aus menschlichen Handlungen und wird von ihnen geprägt. Deshalb sollte sie auch dadurch erklärt werden können, dass man die Menschen, ihr Nachahmungsverhalten und ihre Interaktionen erforscht.
Doch viele Sozialwissenschaftler gehen ganz anders vor. Sie führen Erhebungen durch und suchen nach »Korrelationen« – zwischen Armut und Verbrechensraten oder Bildung und Einkommen zum Beispiel. Besteht ein Zusammenhang, so »erklärt« sich das eine angeblich aus dem anderen. Weshalb passieren so viele Verbrechen in den Innenstädten? Ganz einfach, weil dort viele arme Menschen wohnen, und Armut und Kriminalität Hand in Hand gehen. Dagegen lässt sich nichts einwenden, da ein Zusammenhang oder ein Muster, das zwei Ereignisse miteinander verknüpft, auf irgendetwas Interessantes hindeutet. In vielen Fällen ist an diesem Punkt jedoch Schluss mit der Untersuchung. Wie menschliche Handlungsweisen dieses Muster entstehen lassen, welche kausalen Mechanismen ihm zugrunde liegen, wird nicht näher erforscht. Wie wirkt sich denn Armut auf das Verhalten eines Einzelnen aus? Weshalb verursacht sie Kriminalität? Fragen dieser |31|Art bleiben unbeantwortet, als wäre die Sozialwissenschaft lediglich ein Teilgebiet angewandter Statistik.
Ökonomen hingegen nähern sich den Sozialwissenschaften auf eine ganz andere Art, die sich inzwischen auch durchsetzen konnte. Sie betreiben vor allem Ursachenforschung, untersuchen Menschen, ihre Motivationen und deren Konsequenzen auf das soziale Umfeld. Diese wissenschaftliche Herangehensweise birgt auch einige seltsam anmutende Aspekte in sich. Einige der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler, wie Milton Friedman in den fünfziger Jahren, vertreten die Ansicht, dass Theoretiker ihre Zeit nicht damit vergeuden sollten, individuelle Verhaltensweisen detailliert beschreiben zu wollen. Vielmehr sollten sie auf der Basis relativ plausibel erscheinender Annahmen arbeiten und Theorien formulieren, die es gestatten, Prognosen zu erstellen. Die üblichsten Annahmen sind, dass der Mensch ein hundertprozentig rationales Wesen ist, in seiner Entscheidungsfindung mit unfehlbarer Logik vorgeht und rücksichtslos ausschließlich eigene Interessen verfolgt. Viele Forschungsarbeiten gehen noch immer von diesen Annahmen und einer weiteren aus: dass der Gesamtcharakter einer Gruppe lediglich das Abbild der Einzelcharaktere sei, aus denen sich diese Gruppe zusammensetzt. Wie ich später noch im Detail erklären werde, gehen Ökonomen im Allgemeinen auch davon aus, dass das Verhalten einer Person das der anderen nicht beeinflusst, wobei diese Annahme natürlich nicht der Realität entspricht, sondern dazu dient, die Berechnungen so einfach wie möglich zu halten.
Viele andere Sozialwissenschaftler scheinen resigniert das Handtuch geworfen zu haben und beschäftigen sich damit, die Werke großer Denker vergangener Zeiten wiederzukäuen. Die akademischen Debatten darüber, was Hobbes, Weber, Durkheim oder Smith eigentlich ausdrücken wollten, im Gegensatz zu dem, was sie tatsächlich sagten, oder was ein anderer Wissenschaftler glaubt, dass sie einmal gesagt hätten, nehmen wahrlich kein Ende.7 Und dann gibt es noch die im wahrsten Sinn des Wortes verrückten |32|Sozialwissenschaftler, die sich in ihrem »genialen« Denken über all die chaotischen Details der wahren Welt hinwegsetzen und sich in abstrakte Theorien flüchten, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, diese Theorien dem Praxistest zu unterziehen. Besonders ausgeprägt ist diese Herangehensweise in den »postmodernen« Denkschulen, die absurderweise großen Einfluss haben. Ihre Anhänger beharren darauf, die Vorstellung, es gebe »da draußen« eine reale, objektiv beschreibbare Welt, die man verstehen könnte, sei eine Illusion. Die Wirklichkeit sei stattdessen willkürlich und »konstruiert«, abhängig von den stillschweigend getroffenen gesellschaftlichen Übereinkünften und Konventionen. Zudem wird üblicherweise behauptet, dass alles als Text angesehen werden könne, weil unser Denken und unsere Kommunikation untrennbar mit Sprache verbunden seien. Der Unterschied zwischen sozialwissenschaftlichen Theorien und Literaturkritiken sei somit verschwindend gering. Nichts, was jemals geschrieben worden sei, drücke eine unverrückbare Wahrheit aus, denn jeder Leser interpretiere den Inhalt auf seine Weise.
Der britische Historiker Geoffrey Elton hat den postmodernen Trend einmal als »die intellektuelle Entsprechung von Crack« bezeichnet, weil sein verführerischeres Motto »Alles ist möglich« seine Anhänger von der Verpflichtung befreit, logische, zusammenhängende Gedanken zu formulieren.8
Meiner Ansicht nach hat sich diese Art der Sozialwissenschaft in eine äußerst merkwürdige Richtung entwickelt. Zwei Gründe sprechen aber dafür, dass sie – zum Glück – schon bald vom Fortschritt überholt werden. Zum einen beweisen die herausragenden experimentellen Arbeiten in der Psychologie schon seit Jahrzehnten, dass menschliches Verhalten nicht annähernd so kompliziert und schwer zu erklären ist, wie ursprünglich behauptet. Das »soziale Atom« – nennen wir es beim Namen – folgt ziemlich einfachen Gesetzen. Zum anderen setzt sich bei zahlreichen Wissenschaftlern langsam die Erkenntnis durch, dass die soziale Welt nicht aufgrund der individuellen Komplexität so unübersichtlich |33|ist, sondern aufgrund der Art und Weise, wie Menschen über oft überraschende Interaktionen Muster erzeugen.
Vor diesem Hintergrund werden wir die Logik der New Yorker Börse und anderer Finanzmärkte unter die Lupe nehmen, um aufzuzeigen, wie Denkweisen sich selbst verstärken und Booms oder Crashs verursachen, die niemand wirklich wollte. Wir werden die kuriosen Mechanismen untersuchen, über die Gerüchte, Modetrends und Massenhysterie entstehen, und dabei feststellen, dass unser kollektives Verhalten mathematischen Mustern von überraschender Präzision unterliegt. Anhand der Betrachtung der Gräueltaten im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda werden wir die Logik erkennen, welche gleichermaßen Ursache und Nährboden für Ethnozentrismus ist. Wir werden uns auf eine Zeitreise zu den Ursprüngen der menschlichen Entwicklungsgeschichte begeben und erfahren, welche unauslöschlichen Spuren der Überlebenskampf frühzeitlicher Menschenverbände in der Savanne Afrikas bis heute hinterlassen hat – in unseren sozialen Verhaltensweisen wie Kooperationsbereitschaft und der uneigennützigen Hilfsbereitschaft uns völlig fremden Menschen gegenüber.
Dabei werden wir sehen, dass die Perspektive, Menschen als Atome mit sozialer »Substanz« zu betrachten, viele Muster verständlicher macht, die in allen menschlichen Gesellschaften wieder und wieder auftauchen – zum Beispiel die Existenz von Klassen oder die unumstößliche Tatsache, dass Vermögen immer in die Hände einiger weniger fließt. In der modernen Wissenschaft setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass die Erforschung der sozialen Welt von den Methoden der Physik profitieren kann: Hier geht es darum, herauszufinden, wie Atome miteinander reagieren und all die uns bekannten Substanzen erzeugen – klebrige oder glitschige, leitfähige oder isolierende. Diamanten funkeln nicht, weil ihre Atome das tun würden, sondern weil sich diese einzelnen Teilchen nach einem ganz bestimmten Muster anordnen – und das gilt ebenso für den Menschen und seine soziale Welt.
In diesem Buch geht es um Wohlstand, Macht und Politik, |34|Klassenfeinde und Rassentrennung, aber auch um Trends, Modeerscheinungen, Aufstände, spontane Hilfsbereitschaft und das in einer Gemeinschaft herrschende gegenseitige Vertrauen, um die Höhen und Tiefen, denen jeder Finanzmarkt ausgeliefert ist. Doch vor allem geht es um Überraschungen – gesellschaftliche Ereignisse und Veränderungen, die aus dem Nichts erscheinen und unser Leben verändern –, und um die Erklärung, weshalb wir ihre Ursachen so schwer erkennen können.