|58|Kapitel 3
Unsere Gedankenwelt
In der Geschichte des Denkens und der Kultur ... wiederholt sich das Muster, dass sich großartige liberale Ideen letztendlich in erstickende Zwangsjacken verwandeln, in denen sie sich selbst auslöschen.
Isaiah Berlin1
Am 10. Juni 2000, dem Eröffnungstag der rund 325 Meter langen Londoner Millennium Bridge, strömten Tausende von Menschen über die Brücke, die es nach über 100 Jahren erstmals wieder ermöglichte, im Zentrum Londons die Themse zu Fuß zu überqueren. Familien, junge Berufstätige und Grüppchen von Teenagern genossen die milde Sommerluft und hatten mit Sicherheit nichts Böses im Sinn, und doch waren sie ganz unabsichtlich der Auslöser einer Beinahe-Katastrophe. Um die Mittagszeit bemerkte ein Polizist, dass die Brücke, auf der sich etwa 200 Menschen befanden, wie bei einem Erdbeben zu schwanken begann. Doch es gab kein Erdbeben. Später fand man heraus, dass das Getrappel von so vielen Füßen beim ganz normalen Gehen horizontale Schwingungen in der Brückenkonstruktion verursachte. Das leichte Schwanken veranlasste die Menschen, ihren Schwerpunkt zum Ausgleich ein wenig von links nach rechts und wieder zurück zu verlagern, was genau mit der Eigenfrequenz der Brücke korrespondierte und die Schwingungen verstärkte, woraufhin die Menschen ihren Schwerpunkt wiederum etwas weiter verlagerten. Aufgrund dieses Rückkopplungseffekts schwankte die Brücke schließlich um annähernd zehn Zentimeter nach beiden Seiten. Zum Glück gelang es den Behörden, das Bauwerk zu sperren, bevor es einstürzte.2
Auch in der sozialen Welt dreht sich – wie bei der Millennium Bridge – alles um Rückkopplung und Selbstorganisation, um Muster, die für ihr eigenes Wachstum die optimalen Bedingungen |59|schaffen. Mitte bis Ende der achtziger Jahre hatte der normale PC-Anwender die freie Auswahl zwischen mehreren Betriebssystemen unterschiedlicher Hersteller. Selbstverständlich steht es Ihnen noch immer frei, sich für ein bestimmtes Produkt zu entscheiden, doch die Vormachtstellung von Microsoft und die natürlichen Kräfte des Softwaremarkts drängen Sie vermutlich eher zu Windows. Bei vielen neuen Computern ist dieses Betriebssystem bereits installiert, was eine Kaufentscheidung im Grunde hinfällig macht. Je verbreiteter ein Produkt ist, umso einfacher ist es, sich auch beim nächsten Kauf wieder dafür zu entscheiden. Es ist das gleiche Prinzip wie im Gleichtakt mit den Schwankungen der Millennium Bridge zu marschieren – oder Ende der neunziger Jahre Internetaktien gekauft zu haben. Weltweit vertraten die Analysten damals einhellig die Meinung, dass deren Preise 20 bis 30 Prozent zu hoch wären. Dies hielt die Investoren jedoch nicht davon ab, noch mehr Aktien zu kaufen, was ihren Wert immer weiter in die Höhe trieb, noch mehr Käufer anzog und so fort – eine Rückkopplung gigantischen Ausmaßes.
Sind Wissenschaftler bei ihrer Arbeit immun gegen solche sich selbst verstärkenden Vorgänge? Wohl kaum. Ende der siebziger Jahre untersuchte der australische Physiker Robert May anhand mathematischer Modelle die Populationsdynamik von Raubtieren und ihrer Beute – Füchse und Hasen zum Beispiel. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass die Ergebnisse seiner Berechnungen enormen und scheinbar zufallsbedingten Abweichungen unterlagen, obwohl es nur einige einfache Faktoren zu berücksichtigen galt. Zuvor gingen Physiker im Allgemeinen davon aus, dass ein komplexes Ergebnis die Aktion ebenso komplexer Ursachen reflektiert. Doch Mays Werk – eine Illustration der mathematischen Chaostheorie – bewies das Gegenteil und legte den Schluss nahe, dass viele komplexe Dinge viel einfacher sind als es zunächst den Anschein hat.3 Innerhalb weniger Jahre stießen Physiker überall auf Chaos – beim Wetter, bei den Aktienmärkten, beim menschlichen Herzschlag – und veröffentlichten jedes Jahr Zigtausende von Forschungsarbeiten darüber. Die Begeisterung über das neue |60|Lieblingskind der Physik lässt sich jedoch nicht nur mit wissenschaftlichem Interesse, sondern auch als Modeerscheinung erklären. Da Chaos zu der Zeit ein absolut »heißes Eisen« war, war es einfach, wissenschaftliche Werke darüber zu veröffentlichen. Allein das Wort verlieh den Arbeiten eine gewisse Unwiderstehlichkeit. Heutzutage wissen wir, dass Chaos zwar bei vielen Dingen eine Rolle spielt, die Chaostheorie aber kaum die Welt ändern wird, wie es früher angenommen wurde. Die damalige Aufregung um dieses Thema war also zum Teil wissenschaftlich begründet und andererseits auf den Rückkopplungseffekt zurückzuführen.
Doch in keinem Bereich entwickelt die soziale Rückkopplung so starke – und verheerende – Kräfte wie in der Wissenschaft vom Menschen. Man sollte eigentlich davon ausgehen können, dass der Ausgangspunkt fundierte Kenntnisse darüber waren, wie wir Entscheidungen treffen und in bestimmten Situationen reagieren. Schon vor mehr als 200 Jahren verzeichnete dieses Projekt einen hoffnungsvollen Start, als der schottische Politiker und Nationalökonom Adam Smith die These vertrat, dass menschliches Eigeninteresse unsere eigentliche Antriebskraft sei, und wir uns hauptsächlich aufgrund der Eigenschaft, die uns von den Tieren unterscheidet – nämlich unserer Fähigkeit, logisch zu denken – für oder gegen etwas entscheiden. Vor etwa 50 Jahren, also in der Nachkriegszeit, lernten Wirtschaftswissenschaftler, wie sich Smiths Idee auf beeindruckende mathematische Weise ausdrücken lässt. Zusammen mit der Behauptung, alles menschliche Handeln ließe sich auf Rationalität zurückführen, gelang es, scheinbar unfehlbare mathematische Theoreme über einige Aspekte der menschlichen Welt wissenschaftlich zu belegen. Aufgrund ihrer mathematischen Finesse wird die Ökonomie als das Modell schlechthin für sämtliche Sozialwissenschaften angesehen, und noch immer gilt in dieser Sparte die Vernunft als treibende Kraft. Doch wer sich die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft vor Augen führt, den beschleicht unweigerlich das Gefühl, dass ihre Vertreter in einer Art intellektueller Zwangsjacke gefangen |61|sind, weil sie außer unserem rationalen Denkvermögen so gut wie keine anderen Ursachen für menschliches Handeln akzeptierten. Ebenso wie die Physiker, die alles auf das Chaos zurückführen wollten, sind auch die Ökonomen in einer Sackgasse gelandet. Der Versuch, sämtliche Fakten mithilfe intellektueller Tricks und mathematischer Akrobatik in diese konzeptionelle Schublade zu zwängen, ist letztlich gescheitert.
Gemessen an den üblichen wissenschaftlichen Standards – anhand derer eine Theorie mit ihrer Fähigkeit, die reale Welt zu erklären, steht oder fällt – lässt sich sagen, dass die meisten ökonomischen Theorien trotz ihrer ausgefeilten mathematischen Kunstgriffe sogar auf ziemlich peinliche Weise gescheitert sind. Zum Glück ist dank einiger mutiger Denker langsam eine Besserung in Sicht. Zunächst einmal entwerfen sie ein weitaus realistischeres Bild vom Individuum – das keine rationale Rechenmaschine mehr ist, wie es die große Mehrheit dieser Wissenschaftler lange Zeit glaubte, sondern ein biologisches Geschöpf mit ziemlich unterschiedlichen und wesentlich flexibleren instinktiven Denkprozessen.
Die ökonomische Denkweise
Fällt der Begriff »Wirtschaft«, assoziieren wohl die meisten Menschen damit Dinge wie Inflation, Arbeitslosigkeit oder Stimmen aus dem Fernsehgerät, die über die Kauflaune der Verbraucher schwadronieren. Für Ökonomen jedoch ist sie die Wissenschaft schlechthin, die Grundlage der gesamten Forschung über die Frage, worauf menschliche Entscheidungen letztlich basieren – weshalb wir uns für einen Porsche, und nicht für einen Ford entscheiden, weshalb wir unseren Job kündigen oder eine Familie gründen. Wirtschaftswissenschaftler führen dabei gerne ins Feld, dass sich der Mensch vor allem durch seine logische Denkfähigkeit auszeichnet. Anders als Tiere sind wir keine Sklaven unserer |62|Instinkte, sondern können aufgrund unserer intellektuellen Fähigkeiten die Vor- und Nachteile einer Handlung bereits im Vorfeld abwägen. Wenn Ihnen drei Banken unterschiedlich hohe Zinsen auf Ihr Guthaben anbieten, werden Sie sich ohne Zögern für die Bank mit dem höchsten Zinssatz entscheiden, es sei denn eine der anderen Banken bietet Ihnen einen weiteren Vorteil wie die kostenlose Kontoführung an, was Ihnen wichtiger ist.
In den meisten wirtschaftswissenschaftlichen Theorien neigen die Ökonomen dazu, alle Menschen als direkte Nachkommen von Francis Galton anzusehen – dem britischen Gentleman, Statistiker und Erfinder aus dem 19. Jahrhundert. Er entwickelte zum Beispiel einen Zylinder, dessen Deckel mit einem Scharnier befestigt war, um den Kopf beim Denken vor Überhitzung zu schützen. Galton verbrachte sein ganzes Leben mit dem Zusammentragen von Fakten, mit Messungen und Berechnungen. Er führte Experimente durch, um herauszufinden, ob Gebete funktionierten (tun sie nicht, so seine Schlussfolgerung) und erarbeitete eine lange Liste mit Lösungen für Probleme, auf die ein Europäer bei Reisen in exotische Länder stoßen könnte. Welches Holz empfiehlt sich zum Beispiel für den Bau eines Floßes? Antworten auf diese und andere Fragen finden Sie in seinem Buch The Art of Travel aus dem Jahr 1872, in dem er die Schwimmeigenschaften von Erlen-, Eschen-, Buchen-, Tannen-, Lärchen-, Eichen-, Pinien-, Pappel- und Weidenholz miteinander verglich.4 Galton beherrschte vor allem eines: die Kunst des Denkens. Er war ein Verstandesmensch, der allen Herausforderungen mit der Kraft seines Geistes begegnen wollte. Und seit über 50 Jahren wollen die Ökonomen uns nun einreden, dass wir im Grunde genommen alle kleine Galtons seien.
So behauptete der Wirtschaftswissenschaftler Gary Becker von der Columbia University in den sechziger Jahren, dass Kriminelle keine gesellschaftlichen Außenseiter oder moralische Ignoranten seien, sondern Menschen, die nach sorgfältiger Analyse zu dem Schluss gekommen seien, dass ihnen das kriminelle Milieu am |63|meisten zu bieten hätte. Jemand, für dessen Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt nur wenig Bedarf besteht, könnte durchaus davon überzeugt sein, dass es viel besser für ihn ist, Autos zu stehlen oder alte Frauen auszurauben, als sich einen Job zu suchen. Nach Beckers »Theorie der rationalen Entscheidung« ist Verbrechen lediglich eine Form von Unternehmertum, Geld- oder Haftstrafen nichts anderes als die damit verbundenen Betriebskosten. Und Becker ging noch viel weiter. In mehreren wissenschaftlichen Arbeiten aus verschiedenen Jahrzehnten führte der Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an, dass sich mithilfe seiner Theorie der rationalen Entscheidung nahezu die gesamte Bandbreite menschlichen Handelns erklären ließe. Was immer man tut, ob man seine Stelle wechselt, heiratet oder sich scheiden lässt, nach Becker entscheidet sich jeder rein vernunftmäßig für die Alternative, von der er sich den größten Vorteil verspricht. Weshalb bekommt ein Paar Kinder und investiert viel Geld und Zeit in ihre Erziehung? Sie glauben »aus Liebe«, »aus Gefühlsduselei« oder aus biologischen Gründen? Nein, nach Beckers Theorie der rationalen Entscheidung handelt es sich dabei aus Sicht der Eltern um eine kluge Anlage für ihre eigene Zukunft. »Sie profitieren von den finanziellen Investitionen in die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder«, schlussfolgerte er, solange deren Renditen höher sind als die der Banken. »Eltern legen also Geld für ihr Alter zurück, wenn sie in ihre Kinder investieren.«5
Theorien, die dieser – wie es Becker bezeichnete – ökonomischen Denkweise folgen, gehen weiter davon aus, dass der Mensch nicht nur versucht, »vernünftige« Entscheidungen zu treffen, sondern auch über unbegrenzte mentale Kapazitäten verfügt, um Fehlentscheidungen auszuschließen. Ein typisches Beispiel und ein Kerngedanke moderner Ökonomen ist die sogenannte Lebenszyklustheorie des Sparens. Nehmen wir an, Sie sind 40 Jahre alt und verdienen 60 000 US-Dollar im Jahr. Wie viel von Ihrem Jahreseinkommen geben Sie aus, und wie viel davon legen Sie auf die hohe Kante? Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen |64|sind wichtig, um auf eine Nation hochzurechnen, wie viel Geld im Jahr langfristig gespart und wie viel ausgegeben wird. Die meisten wirtschaftswissenschaftlichen Modelle basieren auf der Annahme, dass jeder Mensch nur von vernünftigen Argumenten geleitet wird, wenn er überlegt, welchen Betrag er sparen sollte. Er schätzt die Summe seiner Einkünfte über die nächsten Jahre und stellt eine komplizierte Berechnung an – für die er in jedem Fall einen Computer bräuchte –, um ermitteln zu können, wie viel er in diesem Jahr sparen muss, damit ihm die Ersparnisse für den Rest seines Lebens reichen. Dieses Modell basiert also nicht nur darauf, dass der Mensch rational ist, sondern auch darauf, dass er zu 100 Prozent rational denkt und alle Entscheidung auf der Grundlage von akkuraten und umfassenden Berechnungen trifft. So sieht es tatsächlich die Mehrheit der Ökonomen. Einer von ihnen fasste es in folgenden Worten zusammen: »Der Eckstein jeder anerkannten Wirtschaftstheorie ist die Vorstellung, dass sich der Mensch rational verhält. Rationalität ist die Grundvoraussetzung für die Vorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens, das sich erst dadurch als Kandidat für die wissenschaftliche Erforschung qualifiziert.«6 Ohne die Annahme der unfehlbaren Vernunft, so scheint dieser Standpunkt zu suggerieren, gäbe es nicht einmal eine Wissenschaft vom Menschen.
Diese Sichtweise in Bezug auf unsere Welt scheint ein wenig borniert. Ich persönlich gebe gerne zu, dass ich häufig Fehler mache, dass ich mitunter Unsinn denke, zaudere und zögere und aus dem Bauch heraus agiere. Sicherlich geht es Ihnen – und der Mehrheit der Menschheit – auch so. Üblicherweise handeln wir Normalsterblichen aus Ärger, Liebe oder Trotz – mit Berechnung hat das wenig bis gar nichts zu tun. Wie Sie später in diesem Kapitel noch lesen werden, können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit behaupten, dass wir Durchschnittsmenschen in keiner Weise dem rationalen Idealwesen der Wirtschaftswissenschaftler entsprechen. Und im Grunde glauben die meisten Ökonomen nicht einmal selbst daran.7 Dennoch bleibt die Annahme |65|von der Rationalität des Menschen das Kernstück moderner wirtschaftswissenschaftlicher Theorien, und in meinen Augen gibt es dafür zwei Gründe.
Der Politikwissenschaftler Robert Axelrod von der Michigan University vertritt die Ansicht, dass es noch immer so viele Anhänger besagter Theorie gibt, weil sie ohne sie nicht wüssten, was sie tun sollten. Menschliches Verhalten ist vielschichtig und mannigfaltig. Doch wenn wir davon ausgehen, dass jeder von uns ausschließlich aus rationalen Motiven agiert, müssten wir alle berechenbar sein. Prognosen, wie sich Menschen in bestimmten Situationen verhalten, sind dann nur noch ein kleines mathematisches Problem. So ist Axelrod der Auffassung, »dass der Grund für die Dominanz der rationalen Entscheidung nicht darin liegt, dass Gelehrte diese Auffassung für realistisch halten … Die unrealistische Annahme schmälert eher den Nutzen der Theorie. Ihr wahrer Vorteil liegt darin, dass man mit ihrer Hilfe in vielen Fällen nach dem Ausschlussprinzip vorgehen kann.«8 Rationalität ermöglicht es, allein aufgrund logischer Schlussfolgerungen Theorien zu entwickeln, ohne langwierige und gewissenhafte Beobachtungen durchführen zu müssen.
Der zweite Grund für das Festhalten am Konzept vom rationalen Menschen hat nichts mit der Wirtschaftswissenschaft und ihrer Problematik zu tun, sondern vielmehr mit den Ökonomen selbst und der sozialen Rückkopplung. Auch ein Wirtschaftswissenschaftler hat natürlich Kinder, ein Haus und eine Karriere, und wenn sich ausnahmslos jeder in seinem Beruf an das Prinzip der Rationalität hält, ist es nur logisch, dass die Qualität der Arbeit eines Ökonomen anhand dieser Kriterien beurteilt wird. Von den siebziger bis zu den neunziger Jahren galt dieser Blick auf den Menschen als weitgehend unumstößlich. »Die Ästhetik dieses Bereichs«, erinnert sich Richard Thaler von der Chicago University, »forderte folgendes Prinzip: Wenn die Akteure in Modell A klüger sind als die in Modell B, dann ist Modell A das bessere.«9 Wenn die eigene Arbeit besser bewertet wird, falls darin perfekt rationale Akteure vorkommen, spricht nichts dagegen, sie einzusetzen.
|66|Manche Wissenschaftler haben sogar zugegeben, dass sie sich von diesem Faktor beeinflussen ließen. In einer Arbeit, die ich vor längerer Zeit gelesen habe, stand, dass es für jeden Wirtschaftswissenschaftler vernünftig wäre, am Konzept der rationalen Entscheidung festzuhalten, selbst wenn er wüsste, dass es falsch sei. Schließlich ist es noch immer die dominierende Theorie dieser Wissenschaft, und es hilft der eigenen Karriere weiter, wenn man ihr anhängt, anstatt sie zu kritisieren.
Die rationale Ökonomie – das Kartenhaus, der Kaiser ohne Kleider – gerät inzwischen jedoch immer mehr ins Abseits. Einige Ökonomen haben in einem allerletzten Rettungsversuch das Argument angeführt, dass es in der Wirtschaftswissenschaft gar nicht um die reale Welt geht, sondern per definitionem darum, den perfekt rationalen Menschen in der Interaktion mit anderen perfekt rationalen Mitmenschen zu erforschen, was sie letztlich zu einem Teilbereich der Mathematik macht. Diese Einstellung erinnert mich an eine Äußerung einer britischen Aristokratin über einen gewissen Lord Birkenhead: »Er ist ein sehr kluger Mann, nur bisweilen steigt ihm seine eigene Cleverness zu Kopf.« Andere Ökonomen haben zum Glück mit der jahrelangen Tradition gebrochen und arbeiten lieber mit Annahmen, die sich in der realen Welt anwenden lassen. Deren Arbeit hat ohne jeglichen Zweifel bewiesen, dass die Theorie der rationalen Entscheidung weitaus weniger interessant ist als diejenige, welche die menschliche Lebenswelt an sich als ein soziales Phänomenen wahrnimmt. Im Mittelpunkt dieser Argumentation stehen drei wichtige Fakten. Erstens, ganz gleich, wie sehr wir uns darum bemühen, wir handeln nicht immer rational. Zweitens, der Mensch besitzt zwar die Fähigkeit, rational zu denken und zu handeln, tut es aber in den meisten Fällen nicht. Und drittens, das ist völlig in Ordnung, denn es stehen noch andere Möglichkeiten der Entscheidungsfindung offen, die mindestens genauso gut sind, wenn nicht besser.
|67|Ein Rätsel
Eines Tages im Jahr 1987 stießen Banker und Geschäftsleute beim Lesen der Financial Times auf eine Anzeige für ein sonderbares Preisrätsel. Man brauchte sich lediglich eine ganze Zahl zwischen 0 und 100 auszudenken und diese dann einzusenden. Gewonnen hätte dann derjenige, dessen Zahl dem Wert von zwei Dritteln des Durchschnittswerts aller zugeschickten Zahlen am nächsten kam. Bei mehreren richtigen Einsendungen sollte das Los entscheiden. Der Preis war eine Reise mit der Concorde von London nach New York für zwei Personen, natürlich erster Klasse, im Wert von mehreren 10 000 US-Dollar.
Stellen Sie sich vor, Sie würden mitmachen. Nach welchem Prinzip würden Sie sich für eine bestimmte Zahl entscheiden? Der Theorie von der Rationalität zufolge müssen Sie dabei natürlich den Gesetzen der Vernunft gehorchend vorgehen. Aber wie?
Natürlich können Sie nicht wissen, welche Zahlen Ihre Mitspieler einsenden, und das macht die Sache mit der rationalen Entscheidung ziemlich knifflig. Vielleicht kann eine Schätzung Starthilfe geben. Gehen wir zunächst davon aus, dass jeder eine völlig beliebige Zahl zwischen 0 und 100 wählt. In diesem Fall beträgt der Durchschnittswert 50, weshalb 33 eine gute Wahl wäre, da dieser Wert etwa zwei Dritteln von 50 entspricht. Sie könnten also die 33 einsenden und hoffen, damit richtig zu liegen. Es gibt da nur noch ein Problem: Was, wenn andere genauso denken?
Nehmen wir an, Ihre Mitspieler tippen auch auf eine Zahl um 33. Dann liegt der Durchschnitt nicht bei 50, sondern bei rund 33, und zwei Drittel davon sind 22. Vielleicht senden Sie besser diese Zahl ein, doch Sie können dieses Gedankenspiel auch noch weitertreiben. Wenn andere wiederum genauso denken wie Sie, liegt der Durchschnittswert bei 22, das heißt, die beste Lösung wäre eine Zahl um 15 und so weiter. Je länger Sie darüber nachdenken, umso kleiner wird die Zahl, und es stellt sich die Frage, wo damit aufhören? Nach dieser Logik kommen Sie zu dem Schluss, |68|dass jeder eine kleine Zahl wählt, vielleicht sogar die Null. Und das wäre auch die richtige Wahl, denn zwei Drittel von Null sind nun mal Null, und somit hätte man richtig getippt. Jeder rationale Wirtschaftswissenschaftler würde sich für die Null entscheiden. Die Frage ist nur weiterhin: Machen das andere auch so?
Ja, aber nicht viele. Dieses kuriose Rätsel stammt übrigens von Richard Thaler von der Chicago University. Bei der Auswertung stellte er fest, dass sich eine Hand voll Teilnehmer für die Null entschieden hatte, viele andere aber für die 33 und 22 – die Mehrheit führte also nur die ersten beiden logischen Schritte aus. Der Gesamtdurchschnitt lag bei 18,9 und der Gewinner hatte die 13 getippt.
Worum ging es Thaler bei diesem Rätsel? Nun, er wollte beweisen, dass zwischen der Theorie der rationalen Entscheidung und dem menschlichen Verhalten in der Praxis eine enorme Diskrepanz besteht. Die Vorstellung, dass die Teilnehmer sich für die Null entscheiden sollten, entspringt der Spieltheorie, einem Teilbereich der Verhaltensökonomie, bei der es darum geht herauszufinden, wie rational sich Menschen in spielerischen Situationen verhalten. In den fünfziger Jahren konnte John Nash – Protagonist des Kinoerfolgs A Beautiful Mind, Genie und Wahnsinn – nämlich beweisen, dass es für viele Situationen grundsätzlich eine optimale Strategie gibt, für die sich ein rationaler Mensch, der auch bei seinen Mitspielern Vernunft voraussetzt, entscheiden wird. Für Thalers Rätsel ist die Null diese optimale Strategie. Sofern alle Teilnehmer eine analytische Entscheidung treffen, wählen sie die Null, da nur diese Zahl allein immer dem Wert von zwei Dritteln des Durchschnitts entspricht.
Dumm nur, dass ein rationaler Ökonom bei diesem Rätsel auf jeden Fall verliert – was weder besonders vernünftig noch sehr klug ist. Es ist einfach nur naiv, insbesondere, was die Natur menschlichen Verhaltens betrifft. Ein Wirtschaftswissenschaftler kann zwar versuchen, selbst rational zu handeln, aber er kann nicht beeinflussen, was andere tun. Rein mathematisch ist das |69|Rätsel kein Problem, denn die richtige Lösung hängt von den tatsächlich eingeschickten – und willkürlich gewählten – Zahlen ab. Die Spieltheorie der rationalen Art ist somit völlig irrelevant. Dies ist eine höchst erwähnenswerte Tatsache, denn Tag für Tag erleben wir mit Thalers Rätsel vergleichbare Situationen, in denen die Probleme der realen Welt nicht mit Vernunft und Logik gelöst werden können.
Auf Ihrem Weg zur Arbeit bevorzugen Sie vielleicht kleinere Seitenstraßen, weil da weniger Verkehr herrscht. Dumm nur, dass andere auch so denken. Das führt dazu, dass viele Menschen versuchen, genau das zu tun, was die große Mehrheit niemals tun würde – rational gesehen eine unlösbare Aufgabe, es sei denn Sie können Gedanken lesen. Oder schauen Sie sich den Aktienmarkt an. Da geht es um viel Geld, und man sollte meinen, dass sich eine rationale Vorgehensweise immer auszahlt. Weit gefehlt. Ein altes Argument aus der Wirtschaft besagt, dass Aktienpreise immer einen realistischen Wert widerspiegeln sollen, da Börsenhändler, wenn sie vernünftig vorgehen, momentan unterbewertete Aktien kaufen, wodurch deren Preis steigt und momentan überbewertete Aktien verkaufen, was den Preis fallen lässt. Jeder rationale Investor geht so vor, weil sich damit viel Geld verdienen lässt. Doch ganz so einfach ist es leider nicht. Nehmen wir einmal an, ein paar aufmerksame und kluge Marktbeobachter stellen fest, dass der Preis für bestimmte Aktien viel zu niedrig angesetzt ist. Weil sie auf schnelles Geld aus sind, werden sie diese nun kaufen und erst dann wieder mit Gewinn abstoßen, wenn der Preis ihrem tatsächlichen Wert entspricht. Doch ebenso wie der rationale Ökonom bei Tahlers Rätsel liegen sie mit ihrer Einschätzung über die Aktien zwar richtig, mit ihrer Einschätzung über die Menschen aber völlig falsch. Absolut uninformierte und irrationale Investoren kommen aus irgendeinem Grund auf die Idee, dass eben diese Aktien nichts wert sind, verkaufen sie und treiben so den Preis dafür noch weiter nach unten – ganz gleich, wie unsinnig und verwirrend diese Entscheidung auch sein mag.
|70|Ein perfekt rationaler Investor kann auch dann jede Menge Geld verlieren, wenn das Vertrauen der Anleger in die Prognosen der Analysten aus beliebigen Gründen schwindet. Denkbar schlechte Voraussetzungen, um rational zu handeln. Glauben nur ausreichend viele Menschen daran, dass die Wetterverhältnisse in Cleveland den Markt beeinflussen, wird sich das früher oder später bewahrheiten. Ein kluger Aktienhändler sollte dann besser einen Blick auf die Wetterkarte werfen, bevor er Aktien kauft oder verkauft, so »irrational« ihm das auch erscheinen mag. So viel zum Thema Rationalität – im Grunde ist sie nichts anderes als ein Werkzeug, mit dem nur manchmal gearbeitet werden kann.10
Für die Anhänger der Theorie der rationalen Entscheidung sind die Aussichten trübe, und jede weiterführende Untersuchung verschlechtert sie weiter. Selbst in Situationen, in denen die logische Entscheidung auf der Hand liegt, verhalten sich die meisten Menschen unlogisch. Anscheinend sind wir genetisch auf Fehler programmiert.
Instinktive Fehler
Wenn ein Ball und ein Schläger zusammen 1,10 US-Dollar kosten, und der Schläger kostet 1 US-Dollar mehr als der Ball, was kostet dann wohl der Ball? Für eine so einfache Rechenaufgabe muss man kein Adam Riese sein, lösen doch schon unsere Kinder Tag für Tag in der Schule solche und ähnliche Aufgaben. Doch als der MIT-Psychologe Shane Frederick Studenten der Princeton und Michigan University bat, diese Aufgabe in mehr als ausreichender Zeit zu lösen, gab nur etwa die Hälfte der Studenten die richtige Antwort. 50 Prozent der Studenten aus Princeton und 56 Prozent der Studenten aus Michigan gaben an, dass der Schläger 1 Dollar und der Ball 10 Cent kosteten. Die richtige Antwort ist, dass der Schläger 1,05 Dollar und der Ball 5 Cent kosten.
Zugegeben, fast jedem liegt sofort die Antwort auf den Lippen, |71|der Ball koste 10 Cent. Irgendwie fühlt sich das eben richtig an. Und auch rein optisch drängt es sich auf, den Betrag in 1 Dollar und 10 Cent aufzuteilen, und die Differenz zwischen beiden Werten ist auch in etwa richtig. Für unseren Verstand ist die 10-Cent-Antwort etwas wie die »instinktiv richtige Lösung«, und es erfordert eine bewusste Anstrengung, ihr nicht nachzugeben, sondern nach der richtigen Lösung zu suchen. Wird die Aufgabenstellung anders formuliert, nämlich, dass das Set nach wie vor 1,10 Dollar kostet, und der Schläger 1,05 Dollar, leiten Sie Ihre Instinkte nicht fehl.
Mit der Theorie der rationalen Entscheidung kann weder dieses Experiment noch eines der unzähligen anderen, die von Psychologen und aufgeschlossenen Wirtschaftswissenschaftlern in den vergangenen zehn Jahren durchgeführt wurden, erklärt werden. Antworten lassen sich aber an ganz anderer Stelle finden, zum Beispiel bei dem Psychologen Daniel Kahneman, Professor in Princeton, und seiner Theorie von den »zwei unabhängig voneinander operierenden Systemen unseres Denkapparats«.11 Kahneman wies nach, dass nur ein Teil unseres Gehirns rational funktioniert. In ihm werden Informationen bewusst nach logischen Kriterien verarbeitet. Der Denkprozess erfolgt langsam und Schritt für Schritt, wofür eine hohe Konzentration erforderlich ist. Parallel zu diesem »Rechenzentrum« läuft aber auch ein eher »instinktiver« Denkprozess ab, der nicht nur schnell und automatisch arbeitet, sondern auch schwer zu kontrollieren ist. Hier wird der Betrag von 1,10 US-Dollar augenblicklich in 1 Dollar und 10 Cent aufgeteilt und das Ergebnis ausgespuckt, ganz nach dem Motto »Erst schießen, dann fragen«, was eine »rationale« Analyse überflüssig macht.
Kahneman und seine Kollegen waren die ersten, die mit der in der Wirtschaftswissenschaft herrschenden Vorstellung vom Menschen als rein rational denkendes Wesen aufgeräumt haben. In den siebziger und achtziger Jahren erforschte er zusammen mit dem mittlerweile verstorbenen Amos Tversky, wie uns unsere instinktiven |72|Denkprozesse in zahlreichen einfachen Situationen beeinflussen, auf welche Weise wir Informationen verarbeiten und nutzen und wie sich intelligente Menschen systematisch vom rationalen Ideal der Wirtschaftswissenschaftler entfernen. Sie fanden zum Beispiel heraus, dass sich die Art und Weise, wie eine Frage oder Situation präsentiert wird, erheblich darauf auswirkt, wie ein Mensch mit ihr umgeht. Patienten, denen man eine 90-prozentige Überlebenschance bei einer schwierigen Operation einräumt, werden viel eher ihre Zustimmung dazu erteilen als Patienten, denen mitgeteilt wird, dass die Operation in 10 Prozent aller Fälle schiefgeht. Ähnlich verhält es sich mit dem subjektiven Wert von Geld. Stellen Sie sich vor, Sie möchten eine CD für 15 Dollar kaufen, und der Verkäufer gibt Ihnen den Tipp, dass sie im Laden ums Eck, keine zwei Minuten Fußweg entfernt, 5 Dollar weniger kostet. Für die Ersparnis von 5 Dollar nehmen viele Menschen den kleinen Zusatzaufwand gerne in Kauf. Studien haben aber erwiesen, dass für dieselben Menschen 5 Dollar mehr oder weniger überhaupt keine Rolle spielen, wenn sie gerade eine Lederjacke für 125 Dollar kaufen möchten. Unbestreitbar sind und bleiben 5 Dollar 5 Dollar, aber unser instinktiver Denkapparat ist anderer Meinung und urteilt, dass 5 Dollar in einem Fall mehr wert sind als im anderen.
Das ist natürlich völlig irrational, keine Frage, aber durch und durch menschlich. Noch verwirrender wird es, wenn man von einfachen Fragestellungen in die Sphäre höchst komplexer, staubtrockener Statistiken übergeht. HIV-Tests liefern heutzutage unglaublich genaue Ergebnisse. Bei einem positiven Befund liegt die Wahrscheinlichkeit bei 99,9 Prozent, dass das Ergebnis auch tatsächlich stimmt, bei einem negativen Befund beträgt die Wahrscheinlichkeit sogar 99,99 Prozent. Nehmen wir an, wir unterziehen den nächstbesten Passanten, der uns in den USA über den Weg läuft und weder als Drogensüchtiger, männlicher Homosexueller oder Angehöriger einer anderen Risikogruppe bekannt ist, einem HIV-Test. Wie hoch ist bei einem positiven Ergebnis die |73|Wahrscheinlichkeit, dass er das Virus tatsächlich in sich trägt? Die Frage beantwortet sich ja wohl von selbst, oder? Es ist so gut wie sicher, dass diese Person HIV-infiziert ist. Richtig? Falsch. Die Chance liegt bei 50 Prozent. Falls auch Sie mit Ihrer Antwort daneben lagen, befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Der Psychologe Gerd Gigerenzer vom Berliner Max-Planck-Institut stellte diese Frage Hunderten von Menschen, von Studenten über Mathematiker bis zu Doktoren mit langjähriger Berufserfahrung, und selbst Experten gaben die falsche Antwort. Zum Beispiel täuschten sich 95 Prozent aller Studenten und sogar 40 Prozent der Doktoren, die ja eigentlich mit derartigen Problemen vertraut sind.12 Es ist das instinktive Denken, das uns hier in die Irre leitet.
Wenn Sie sich von der Mehrheit der Menschen nicht wesentlich unterscheiden, hat der instinktive Teil Ihres Gehirns bereits die Kontrolle übernommen und übersieht, dass ich Ihnen noch längst nicht alle Informationen gegeben habe, um Ihnen eine rationale Antwort zu ermöglichen. Dazu gehört, dass unser zufällig ausgewählter Kandidat höchstwahrscheinlich nicht HIV-positiv ist, da nur 0,1 Prozent der amerikanischen Bevölkerung, die nicht einer Risikogruppe angehört – männliche Homosexuelle, Drogenabhängige und so weiter –, das Virus in sich trägt. Das heißt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er das Virus hat und positiv getestet wird, ebenso bei 0,1 Prozent liegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht infiziert ist, der Test aufgrund eines seltenen Fehlers trotzdem positiv ausfällt, beträgt 0,01 Prozent. Ein positives Ergebnis ist also fast genauso häufig wie ein negatives. Falls Ihnen das noch immer ziemlich merkwürdig vorkommt, liegt es vermutlich daran, dass Wahrscheinlichkeiten den menschlichen Geist eher verwirren. Denken Sie daher einmal in Zahlen. Stellen Sie sich vor, dass 10 000 Menschen, die nicht zu einer HIV-Risikogruppe gehören, sich in einer Klinik auf HIV testen lassen. Berücksichtigt man nun, dass das Virus in einer Nicht-Risiko-Gruppe aus 10 000 Personen statistisch gesehen einmal vorkommt, ist es wahrscheinlich, dass einer tatsächlich infiziert ist. Da die Tests so genau sind, |74|ist es ebenso wahrscheinlich, dass dessen Ergebnis positiv ausfällt. Die anderen 9 999 Menschen sind nicht infiziert. Da Tests jedoch nicht zu 100 Prozent zuverlässig sind – bei einem von 10 000 Tests wird das Ergebnis falsch sein – ist es wahrscheinlich, dass auch bei einer nicht infizierten Person der Test positiv sein wird. Die Häufigkeit, dass so ein Test fälschlicherweise ein positives Ergebnis liefert, ist höher als die eines fälschlicherweise negativen Ergebnisses. Insgesamt sollten wir bei dieser Versuchsanordnung mit 10 000 Teilnehmern ein richtigerweise positives und ein fälschlicherweise positives Testergebnis erhalten – anders ausgedrückt, ein positives Ergebnis ist nur zu 50 Prozent richtig. Alles in allem betrachtet, zeichnet sich der Mensch also weniger durch seine Rationalität, sondern durch systematische Abweichungen von ihr aus. Viele Ökonomen bezeichnen diese als Anomalien, als ob es unnatürliche und unerklärliche Regelwidrigkeiten vom rationalen Idealzustand wären. Wer auch nur ein bisschen in die Tiefe geht, wird rasch bemerken, dass das instinktive Denken alles andere als abnorm ist. Die Geschichte des Menschen lehrt uns, dass Fehlbarkeit durchaus Sinn ergibt.
Der moderne Mensch und sein steinzeitliches Gehirn
Das Problem mit der Theorie der rationalen Entscheidung ist, dass sie das Gehirn des Menschen mit einem Computer gleichsetzt – mit einer ultraleistungsfähigen Rechenmaschine, die ihr Besitzer für alle denkbaren Aufgaben einsetzen kann. Doch unser Gehirn ist kein Allzweck-Computer. Manche Dinge fallen ihm leichter, andere schwerer. Einen guten Freund aus 50 Metern Entfernung von hinten zu erkennen, ist einfach, 223 mit 57 zu multiplizieren dagegen deutlich schwieriger. Denken Sie mal an das menschliche Herz. Es ist schließlich auch keine Allzweckpumpe, die sich in ein Auto einbauen ließe, nur weil sie hervorragend dafür geeignet ist, Blut durch unsere Adern wie Öl durchs Getriebe zu befördern|75|. Das menschliche Herz wurde von der Evolution für einen bestimmten Zweck konstruiert, und mit unserem Gehirn verhält es sich auch nicht anders.
Als bessere Metapher für das menschliche Gehirn ist die bizarre Maschine geeignet, die Sie im Londoner Museum of Science and Industry bestaunen können. Ihre schwere Holzkonstruktion mit einer Höhe von knapp zwei Metern trägt eine Reihe von Stahlscheiben unterschiedlicher Größe, die alle über Metallwellen verbunden sind. Außerdem gibt es noch eine Welle, die nach unten führt und einen Stift betätigt, der eine rotierende Trommel beschreibt. Dreht man nun an einer Handkurbel, beginnen sich alle Scheiben zu drehen, ebenso wie die Trommel. Der Stift zeichnet mit einer fast gleichförmigen Wellenbewegung eine Kurve auf, aber eben nur fast. Dem Schild an der Maschine können Sie entnehmen, dass sie von dem britischen Physiker William Thomson Ende des 19. Jahrhunderts konstruiert wurde, um damit den Verlauf der Gezeiten bestimmen zu können. Die Scheiben unterschiedlicher Größe stellten die einzelnen Terme wie den Einfluss des Mondes, der Sonne und anderer Faktoren dar, durch die Mechanik der Maschine wird die Summe all dieser Einflüsse zur Gezeitenberechnung verwendet.
Dieses Gerät dient keinem anderen Zweck. Da es kein Computer ist, kann es auch nicht umprogrammiert werden. Und genau aus diesem Grund ist es eine gute Metapher für das menschliche Gehirn, das ebenso wie die Maschine ein hoch spezialisierter Denkapparat für ganz spezielle Aufgaben ist.
Das menschliche Gehirn ist das dingliche Produkt der Evolution von Millionen von Jahren, in dessen Struktur und Funktion sich die gesamte Entwicklungsgeschichte widerspiegelt. Es wurde nicht dafür gemacht, mathematische Probleme zu lösen, Auto zu fahren oder beurteilen zu können, ob riskante Investitionen sinnvoll sind. Und schon gar nicht dafür, sich einen Weg durch den Dschungel komplexer Statistiken zu bahnen. Unser Gehirn hat sich entsprechend der Probleme entwickelt, mit denen unsere |76|frühzeitlichen Vorfahren in einer uns heute fremden Umgebung konfrontiert waren. Um das soziale Atom verstehen zu können, ist vor allem zu berücksichtigen, dass der Mensch 99 Prozent seiner Entwicklungsgeschichte in kleinen, umherziehenden Verbänden aus Jägern und Sammlern verbrachte, die in der Regel aus ein paar Dutzend Menschen bestanden. Sie waren, wie es der Anthropologe John Tooby formulierte »auf einem Campingurlaub, der ein ganzes Leben lang dauerte« und sicherten sich ihr Überleben, indem sie sich von Pflanzen ernährten und Jagd auf Tiere machten.13 Durch natürliche Auslese setzten sich die kleinen »Funktionsveränderungen« im menschlichen Gehirn durch, mit deren Hilfe unsere Vorfahren die dringlichsten Probleme ihrer Zeit besser bewältigen konnten: Nahrung und den geeigneten Fortpflanzungspartner finden, das Überleben der Kinder sichern, wissen, wem man vertrauen kann und wer oder was einem gefährlich werden könnte.
Von Thomsons Maschine erwartet niemand, dass sie sich auch für luftfahrttechnische Berechnungen eignet, schließlich ist sie auf einen ganz anderen Zweck ausgelegt. Das menschliche Gehirn »leidet« an einem ähnlichen Problem, denn es ist mehr auf die Bewältigung von Schwierigkeiten eines Jägers und Sammlers ausgelegt als auf die eines modernen Weltbürgers. Entwicklungsgeschichtlich hatten wir nicht ausreichend Zeit, um uns an das heutige Lebensumfeld anzupassen, was mitunter zu bizarren Situationen führt. Unsere Vorfahren lernten, sich vor Schlangen zu fürchten, denn sie stellten in den dichten tropischen Urwäldern Afrikas eine lebensgefährliche Bedrohung dar. Auch heute noch erschaudern viele Menschen vor ihnen und vor Spinnen, doch kaum jemand hat Angst vor Steckdosen oder Autofahrten, die im Allgemeinen ein weitaus größeres Risiko darstellen als die meist harmlosen Kriech- und Krabbeltiere. Unser Gehirn ist eine höchst spezialisierte Datenverarbeitungsmaschine, die dafür ausgelegt ist, einen Überlebensvorteil durch instinktive Denkprozesse zu schaffen, die auch heute noch auf die Lebenswelt unserer Urahnen |77|abgestimmt sind. Tooby hat dazu einmal gesagt, »Sie lassen uns bestimmte Schlüsse ebenso einfach, mühelos und ›natürlich‹ ziehen wie eine Spinne ihr Netz webt.«
Eine weitere seltsame Eigenart des Menschen ist die »Angst vor Verlust«. Rational betrachtet müssten wir uns über einen Gewinn von 10 Dollar in gleichem Maße freuen wie wir uns über den Verlust dieser Summe ärgern – anders ausgedrückt, der Ärger über den Verlust und die Freude über den Gewinn sollten sich eigentlich entsprechen. Doch das trifft nicht zu. Denken Sie einmal an die Entscheidungen der Kandidaten aus der Fernsehshow Wer wird Millionär? Für diejenigen unter Ihnen, die diese Sendung nicht kennen sollten: Bis die Million gewonnen ist, müssen die Kandidaten zehn Fragen richtig beantworten, wobei sie jeweils aus vier vorgegebenen Antworten eine auswählen können. Bei einer falschen scheiden sie aus. Vor der Umstellung auf den Euro hat sich der mögliche Gewinn aufgrund der Staffelung mit jeder Frage verdoppelt, jetzt ist eine dabei, bei der sich der Gewinn im Vergleich zum vorherigen vervierfacht. Je weiter ein Kandidat kommt, umso höher wird natürlich auch der mögliche Verlust. Der Wirtschaftswissenschaftler Gauthier Lanot von der Queen’s University Belfast untersuchte vor einigen Jahren zusammen mit seinen Kollegen das Verhalten von 515 Kandidaten der britischen Version dieser Spielshow. Nur drei von ihnen haben es geschafft, die Million zu gewinnen. Etwa zwei Drittel hörten freiwillig vorher auf, und das restliche Drittel schied aufgrund einer falschen Antwort aus. Die Analyse der Forscher zeigte, dass es mehr frischgebackene Millionäre hätte geben können – und dass im Schnitt auch höhere Gewinnsummen möglich gewesen wären – wenn sich die Kandidaten getraut hätten, weiterzuspielen. Ein rationaler Spieler in einem Modell gewinnt im Durchschnitt mehr als reale Kandidaten, die das Risiko eines herben Verlusts scheuen. Erstaunlicherweise haben Laborversuche mit Primaten gezeigt, dass auch Kapuzineräffchen unter Verlustängsten leiden können. An der Yale University spielten die Psychologin Laurie Santos |78|und der Wirtschaftswissenschaftler Keith Chen mit diesen Tierchen unterschiedliche Glücksspiele mit Weintrauben als Einsatz. Durch kleine Änderungen im Versuchsaufbau wurde in ein und demselben Spiel einmal das Gewinnpotenzial (eine Weintraube war der garantierte Gewinn, für eine zweite standen die Chancen 50 zu 50) und einmal das Verlustpotenzial mehr herausgestellt (zwei Weintrauben waren der garantierte Gewinn, die Chancen eine wieder zu verlieren, standen ebenfalls 50 zu 50). Obwohl die Chancen sich haargenau entsprechen, bevorzugten die Affen das Spiel, bei dem das Gewinnpotenzial stärker betont war.14 Die bei Menschen und Primaten auffallende Verlustangst legt nahe, dass sie evolutionsgeschichtlich sehr tief verwurzelt ist.
Für das menschliche Verhalten und die Entscheidungsfindung ist Rationalität definitiv keine befriedigende Antwort. Das instinktive Denken setzt ein, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Es mag tatsächlich eine Illusion sein, zu glauben, der bewusste Teil unseres Gehirns hätte die Kontrolle über unser Denken und Handeln. Das wohl bekannteste und zugleich umstrittenste Experiment, das diese zugegeben etwas irritierende Theorie beweisen sollte, wurde von dem deutschen Psychologen Benjamin Libet in den achtziger Jahren durchgeführt.15 Libet und seine Kollegen überwachten mithilfe eines EEGs die Aktivität der Großhirnrinde von freiwilligen Versuchspersonen, während diese bestimmte Entscheidungen trafen und einfache Aufgaben erfüllten, wie auf einen Knopf zu drücken. Innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters konnten sich die Probanden frei entscheiden, wann sie den Knopf betätigen, nur sollten sie den Moment kennzeichnen, in dem sie den Impuls dazu verspürten. Die Forscher fanden heraus, dass die Versuchspersonen den Knopf in der Mehrzahl der Fälle etwa eine Fünftel Sekunde, nachdem sie den entsprechenden Entschluss gefasst hatten, betätigten. Die große Überraschung war jedoch, dass die Aufzeichnungen der Hirnströme zweifelsfrei bewiesen, dass die Hirnaktivität bereits eine halbe Sekunde vorher eingesetzt hatte, nämlich 300 Millisekunden, bevor sich der Proband |79|überhaupt bewusst war, den Knopf drücken zu wollen. Dieses Ergebnis legt den Schluss nahe, dass die bisherigen Erkenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns radikal überdacht werden müssen. Bislang war man davon überzeugt, dass der bewusste Teil unseres Gehirns Entscheidungen fällt, die entsprechenden Befehle sendet, der Körper darauf reagiert und beispielsweise den Arm und die Hand bewegt. Doch in Libets Experiment unterlag das Bewusstsein nur der Illusion, die Kontrolle über Entscheidung und Handlungsablauf zu haben.
Doch was bedeutet diese Erkenntnis? Nichts anderes, als dass Kahnemans Vorstellung von den zwei Systemen im menschlichen Denkapparat ernst zu nehmen ist. Sehen wir uns erstmals mit einer neuen Situation konfrontiert, lässt uns der instinktive Bereich unseres Gehirns spontan darauf reagieren. In diesem Augenblick sind wir frühzeitliche Jäger und Sammler in der Neuzeit – nahe Verwandte der Kapuzineräffchen – und bedienen uns der mentalen Werkzeuge, die uns unsere Urahnen weitervererbt haben. Unser zweiter Denkapparat, unser innerer Francis Galton, kommt erst später in Gang, stockend und mit ungewissem Ausgang. Erinnern Sie sich noch einmal an die Studenten der Universitäten Princeton und Michigan, die den Preis für das Ballset ausrechnen sollten. Ihr instinktiver Denkprozess, durch die Evolution darauf trainiert, Muster schnell und effizient zu erkennen, teilte den Betrag von 1,10 US-Dollar spontan in zwei Beträge der scheinbar richtigen Höhe auf. Etwa die Hälfte antwortete instinktiv, aber falsch, während die andere Hälfte dem Instinkt widerstand und auf die richtige Lösung kam. Perfekte Rationalität existiert nur außerhalb von Zeit und Raum. Menschen nicht. Und genau hier liegt der Hund begraben. Wir können die Menschheit nicht als Summe aus rationalen Robotern oder Rechenmaschinen ansehen. Sie blickt auf eine Evolution von Millionen von Jahren zurück, und wir sind noch immer Jäger und Sammler, allerdings stecken wir in moderner Kleidung. Wir sind noch immer instinktive Denker mit wenig beeindruckenden mathematischen Fähigkeiten.
|80|Die evolutionäre Menschheit
Bis vor kurzem galt die Ökonomie (in ihrer konventionellen und »hyperrationalen« Form) in vielen Kreisen als passender Rahmen dafür, die soziale Welt verstehen zu lernen. Forscher aus den Fachgebieten Psychologie, Evolutionsbiologie und der Ökonomie sind mittlerweile jedoch aus ihrem kollektiven Traum erwacht. Noch vor einigen Jahren regte sich kein Widerspruch, als der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama schrieb, die vorherrschende Wirtschaftstheorie auf der Basis der rationalen Entscheidung sei »zu etwa 80 Prozent richtig«.16 Heutzutage wäre es wohl zutreffender zu behaupten, sie sei zu 80 Prozent falsch, und das schon alleine aufgrund ihres Fokus auf Rationalität (an späterer Stelle werde ich auf weitere gravierende Probleme zu sprechen kommen). Doch in meinem Buch geht es schließlich nicht darum, alte Theorien zum Teufel zu jagen, sondern darum, bessere Denkansätze über den Menschen und seine Lebenswelt zu entwickeln. Und dazu brauchen wir zunächst eine genauere Vorstellung über das soziale Atom.
Grob zusammengefasst lässt sich also sagen: Kahnemans zwei Systeme entsprechen zwei Prinzipien, mit denen sich ein Großteil des menschlichen Verhaltens erklären lässt, zumindest wenn es darum geht, Probleme zu lösen.
Erstens, wir sind keine rationalen Rechenmaschinen, sondern geschickte Spieler. Intuitionen, Emotionen, Zweifel – woher kommt das alles? Es stammt von dem Jäger und Sammler in uns, der auf andere Weise wahrnimmt und empfindet als der bewusste Teil unseres Denkapparats. Die menschliche Spezies hat bis heute überlebt, weil unsere Urahnen darauf konditioniert waren, anhand einfacher Regeln Entscheidungen zu treffen, die ihre Überlebenschancen erhöhten – mit rationaler Berechnung hat das kaum etwas zu tun. Und wir verhalten uns immer noch so. Der rationale Geist eines Francis Galton scheint lediglich in einem kleinen Bereich unserer Psyche vorhanden zu sein; im übrigen Bereich tummeln |81|sich die Geister unserer Vorfahren, die schnelle und brutale Entscheidungen fällen und uns nur wenig Zeit für differenzierte Feinheiten einräumen.
Zweitens, wir sind anpassungsfähige Opportunisten. Auch wenn rationales Denkvermögen nicht annähernd so wichtig ist, wie es uns die Wirtschaftswissenschaftler lange Zeit glauben machen wollten, so spielt es doch eine Rolle in unserem Leben. Ein Teil unseres Gehirns arbeitet analytisch und logisch, und ab und zu verhindert dieser Bereich, dass uns unsere Instinkte in Schwierigkeiten bringen. Was aber der bewusste Bereich des Geistes dem Menschen vor allem beschert, ist nicht die Fähigkeit, logisch zu denken, sondern das Geschick sich anzupassen – einen ersten Schritt aufgrund einer Regel, Idee oder Überzeugung zu unternehmen und je nach Ergebnis den zweiten entsprechend anzugleichen. Unter rationalem Denkvermögen versteht man im Allgemeinen das Prinzip von Versuch und Irrtum, um von einer ersten Annahme Schritt für Schritt zur besten Taktik zu gelangen. Das ist das eigentliche Geheimnis unserer Intelligenz: unsere Fähigkeit, in einfachen Schritten vorzugehen, uns anzupassen und zu lernen. Es ist überhaupt kein Problem, wenn eine Lösung nicht von vorneherein bekannt ist. Man probiert einfach etwas aus, weil aus jeder Interaktion mit der Umwelt und den Mitmenschen eine neue Lektion gelernt werden kann. Selbst Rationalität ist ein empirischer Prozess.
In den folgenden Kapiteln werde ich mich immer wieder auf diese Grundregeln beziehen, und sie je nach Kontext ein wenig genauer ausführen. Mit ihrer Hilfe lässt sich ein Bild über das menschliche Verhalten skizzieren, das überzeugend veranschaulicht, dass der Mensch im Rest der natürlichen Welt, wie bereits vermutet, keine Sonderstellung einnimmt. Diese Grundregeln bilden zudem die Basis für ein besseres Verständnis der Sozialphysik. Im nächsten Kapitel befassen wir uns mit den Finanzmärkten – dem Spielgrund, der für konventionelle Wirtschaftswissenschaftler scheinbar sicherer Boden ist.