|132|Kapitel 6
Das kooperative Atom
Der Freund soll dem Freunde Freundschaft gewähren und Gabe gelten mit Gabe. Hohn mit Hohn soll der Held erwidern, und Bosheit mit Lüge.
Aus der Älteren Edda, einer Sammlung nordischer Dichtungen aus dem 13. Jahrhundert
Das katastrophale Seebeben im Indischen Ozean vor der Küste Sumatras, das sich am 26. Dezember 2004 gegen 8 Uhr Ortszeit ereignete, hatte eine Stärke von 9,15 auf der Richterskala. Die plötzliche Aufwerfung des Meeresbodens löste aus, was der amerikanische Tourist John Thompson zwei Stunden später am Strand von Khao Lak in Thailand im Abstand von nur sieben Sekunden auf zwei Fotos bannte. Das erste Bild zeigt Hunderte von schaulustigen Einheimischen und Touristen, die fasziniert beobachten, wie sich das Meer immer weiter zurückzieht. Auf dem zweiten Bild ist die sich auftürmende Wasserwand zu sehen, die unaufhaltsam auf eben diesen Strand hereinzubrechen droht – der verheerende Tsunami, dem so viele Menschen zum Opfer fielen. Während er um sein Leben rannte, hielt Thompson die Kamera über die Schulter und drückte blindlings auf den Auslöser. Es gelang ihm, sich in die oberen Stockwerke eines Hotels zu retten, während hinter ihm alles von den gewaltigen Wassermassen fortgerissen wurde. Ganz Asien wurde von ähnlichen Flutwellen heimgesucht, die etwa 283 000 Menschenleben forderten und uns klarmachten, wie hilflos und zerbrechlich der Mensch angesichts der entfesselten Naturgewalten ist.1
Was der enormen Zerstörungskraft der Flutwellen jedoch entgegengesetzt werden konnte, waren die Welle der weltweiten Hilfsbereitschaft und die Entschlossenheit der Überlebenden, mit der Katastrophe fertig zu werden. Innerhalb weniger Wochen flossen |133|Spendengelder in Höhe von über 700 Millionen US-Dollar von Privatpersonen und Nationen an die Hilfsorganisationen und Behörden der betroffenen Regionen. Viele Menschen spendeten wildfremden Leuten in fernen Ländern hohe Geldbeträge. Thompson blieb, wie viele andere auch, die das Glück gehabt hatten, mit dem Leben davon gekommen zu sein, auf eigene Kosten in der Region, um bei der Verteilung der Hilfsgüter zu helfen. Ein Jahr nach der Katastrophe belief sich die von Privatpersonen, Unternehmen und Regierungen gespendete Summe auf über 13 Milliarden US-Dollar.
Für die meisten Menschen ist Hilfsbereitschaft etwas Selbstverständliches, zählt doch der Wille, sich für andere Menschen einzusetzen und Opfer zu bringen, zu einem unserer edelsten Wesenszüge. Leute stürzen sich in reißende Fluten, um Kinder vor dem Ertrinken zu retten, und so manch einer setzt sein Leben auch für sein Haustier aufs Spiel. Nachdem am 11. September 2001 die beiden entführten Linienmaschinen in die Türme des World Trade Centers eingeschlagen waren, starb ein Mann, weil er seinen gelähmten Kollegen nicht alleine lassen wollte. Die Mitarbeiter eines anderen Büros schleppten mit vereinten Kräften eine behinderte Kollegin in ihrem Rollstuhl 60 Stockwerke hinunter. In seinem Buch Utmost Savagery, in dem Joseph Alexander, Oberst im US-Marine Corps, die blutige und verlustreiche Schlacht um Iwo Jima schildert, die zwischen den US-amerikanischen und japanischen Streitkräften ausgefochten wurde, berichtet er von einem amerikanischen Soldaten, der, obwohl er bereits eine Hand verloren hatte, eine Granate aufsammelte und sich mit einem Hechtsprung in den nächsten Schützengraben stürzte. Um vielen seiner Kameraden das Leben zu retten, gab er ganz bewusst sein eigenes hin.2
Unter den moralischen Prinzipien jeder Kultur nimmt Selbstaufopferung einen hohen Stellenwert ein, nichtsdestotrotz stellt sie uns vor ein Rätsel. Wie lassen sich Edelmut und Selbstlosigkeit mit der brutalen biologischen Realität vereinen? Die Evolution geht mit Kreaturen, die ihre eigenen Interessen vernachlässigen, um |134|dem Wohl anderer zu dienen, nicht gerade zimperlich um. Keine Löwin, die ihren Nachwuchs durchfüttern muss, würde ihre mit großem Zeit- und Energieaufwand gerissene Beute aus purer Hilfsbereitschaft einem Rudel Wildhunde oder anderer Löwen überlassen. Kein Bär hat Mitleid mit dem Lachs, den er verschlingt, und für seine gleichgeschlechtlichen Artgenossen empfindet er nichts als Aggression, sobald sie ihm zu nahe auf den Pelz rücken. In Anbetracht des unbarmherzigen Konkurrenzkampfs in der Natur ist das auch nicht weiter verwunderlich. Selbst Pflanzen konkurrieren miteinander um das Sonnenlicht, und winzige Mikroben sind Meister der biochemischen Kriegsführung.
Tatsächlich sind sich Biologen und Sozialwissenschaftler darin einig, dass der Mensch ebenso egoistisch ist wie jede andere Lebensform auch; dass jede Art der Selbstlosigkeit entweder auf einem Irrtum oder einem eigennützigen Hintergedanken beruht, der sich einem nicht sofort aufdrängt. Biologen wissen beispielsweise, dass die Verfolgung eigener Interessen direkt in einen Altruismus zwischen engen genetischen Verwandten münden kann. Aus biologischer Sicht bestehen diese »Interessen« unserer Gene im Prinzip darin, ihren Fortbestand in den kommenden Generationen zu sichern. Um die Erfolgsaussichten zu verbessern, lassen uns unsere Gene für unser eigenes Wohl und das unserer Kinder sorgen. Dasselbe gilt für unsere Geschwister sowie Cousins und Cousinen, deren Erbfaktoren zur Hälfte beziehungsweise zu einem Viertel mit den unseren identisch sind. Für unsere »egoistischen Gene« ist es nur zweckmäßig, dass wir Geschwistern und anderen engen Blutsverwandten helfen, da sie sich dadurch ihr eigenes Überleben sichern. Man kann seinen Bruder oder seine Schwester aufrichtig lieben und bereitwillig eine Niere spenden, um ihn oder sie am Leben zu erhalten, doch ist diese Hilfsbereitschaft tatsächlich so selbstlos?3
Der Ansicht einiger Ökonomen nach ist es in Wahrheit Eigennutz, der uns Trinkgelder geben oder Arbeitskollegen Gefallen erweisen lässt, und auch die unglaubliche Summe von 10 Millionen |135|US-Dollar, die Michael Schumacher den Tsunami-Opfern spendete, fällt in diese Kategorie. Von dem Trinkgeld, das man heute auf dem Tisch liegen lässt, erwartet man sich das nächste Mal einen besseren Service. Der Kollege, dem wir heute einen Gefallen erweisen, wird sich sicherlich revanchieren, wenn wir selbst einmal Hilfe benötigen. Und wie jeder Prominente weiß auch Michael Schumacher, wie unbezahlbar wertvoll ein gutes Image ist. Schon im 17. Jahrhundert fasste der englische Philosoph Thomas Hobbes die gängige ökonomische Ansicht über die menschliche Motivation sinngemäß so zusammen, dass jeder von uns unbestritten aus rein egoistischen Motiven, aber auch aus einem Gerechtigkeitssinn heraus, um des lieben Friedens willen und nach dem Zufallsprinzip handelt.4
Ist damit wirklich schon alles gesagt? Ist »wahrhaft« selbstloses Handeln tatsächlich eine Illusion? Wie erklärt sich dann, dass Soldaten immer wieder extreme Gefahren auf sich nehmen, um verwundete Kameraden zu retten? Warum haben Menschen wie Sie und ich ihr Leben riskiert, indem sie Juden vor den Nazischergen versteckten? Vor dem Hintergrund der Eigennutztheorie ist ein solches Verhalten ebenso widernatürlich wie quadratische Planetenumlaufbahnen, wie es der Ökonom Robert Frank ausdrückte.5
In diesem Kapitel soll das soziale Atom in der Interaktion mit anderen seiner Art untersucht werden. Wie es Probleme löst und Fehler begeht, wie es die Artgenossen in seiner Umgebung als Orientierungshilfe nutzt und ihr Verhalten imitiert, um sich dadurch – manchmal – Vorteile zu verschaffen, wurde bereits besprochen. Die direkte Interaktion, die sowohl konkurrierende als auch kooperierende Formen annehmen kann, fehlt jedoch noch in unserer Betrachtung. Natürlich ist jeder Mensch einzigartig, doch sind im zwischenmenschlichen Miteinander rund um den Erdball, in westlichen wie in östlichen Kulturen, in hoch entwickelten Gesellschaften ebenso wie in primitiven Sippenverbänden, erstaunlich übereinstimmende Tendenzen zu erkennen. |136|Die Forschungsergebnisse der vergangenen zehn Jahre brachten die Eigennutztheorie gehörig ins Wanken. Es stellte sich heraus, dass das Zusammenleben nur zu einem Teil von egoistischen Motiven geprägt ist, und die meisten Menschen lange nicht so selbstbezogen sind, wie es lange Zeit behauptet wurde. Außerdem scheint es tatsächlich so etwas wie wahrhaft aufrichtigen menschlichen Altruismus zu geben – und das gar nicht einmal so selten.
Noch überraschender mag sein, dass zur Erklärung die Erkenntnisse der Sozialphysik darüber dienen, wie individuelle Verhaltensweisen kollektive Muster ergeben, sobald eine Vielzahl sozialer Atome aufeinandertreffen. Es wird sich zeigen, dass unsere »prosoziale« Einstellung und unsere edlen altruistischen Neigungen tief in den Gesetzmäßigkeiten der sozialen Selbstorganisation verwurzelt sind und unsere Spezies zu einem beispiellosen Erfolg befähigen, wenn es darum geht, große Gruppen und Institutionen zu koordinieren – ob Tante-Emma-Läden oder internationale Konzerne, Gemeinden oder Staatsregierungen.
Der Mensch ist edel, hilfreich und gut – aus Eigennutz
Wie bereits anklang, wird die Kooperation von Menschen normalerweise und vor allem damit begründet, dass wir anderen nur dann helfen, wenn wir uns davon einen Nutzen versprechen. Und natürlich arbeiten zwei Individuen zusammen, wenn beide Parteien unmittelbar davon profitieren. Hat ein Bauer zwei Pflüge und ein Pferd, ein zweiter Bauer zwei Pferde und einen Pflug, kann der eine dem anderen einen Pflug, der zweite dem ersten ein Pferd ausleihen, und beide haben etwas davon, ohne ein Risiko eingehen zu müssen. Doch so einfach ist es ja nicht immer. Oft gehen einer Kooperation komplizierte Verhandlungen voraus, weil nicht nur die Aussicht besteht, dass beide Parteien profitieren, sondern auch das Risiko besteht, dass eine Partei über den Tisch gezogen wird. |137|Schon vor 250 Jahren beschrieb der schottische Philosoph und Historiker David Hume dieses Dilemma folgendermaßen:
Dein Korn ist heute reif, das meinige wird es morgen sein. Es ist für uns beide vorteilhaft, dass ich heute bei dir arbeite und du morgen bei mir. Ich habe keine Neigung zu dir, und weiß, dass du ebenso wenig Neigung zu mir hast. Ich strenge mich daher nicht um deinetwillen an; und würde ich um meinetwillen, das heißt in Erwartung einer Erwiderung bei dir arbeiten, so weiß ich, dass ich enttäuscht werden und vergeblich auf deine Dankbarkeit rechnen würde. Also lasse ich dich bei deiner Arbeit allein. Und du behandelst mich in gleicher Weise. Nun aber wechselt das Wetter; wir verlieren beide unsere Ernte vermöge des Mangels an gegenseitigem Vertrauen und der Unmöglichkeit, uns einer auf den anderen zu verlassen.6
Dieses für beide Seiten unvorteilhafte Ergebnis ist laut der modernen Spieltheorie, einem wichtigen Teilgebiet der mathematischen Ökonomie, programmiert, da sie besagt, dass Individuen, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen, unter diesen Bedingungen zu keiner Kooperation fähig sind. In Anlehnung an Hume lautet die Argumentation in der Spieltheorie wie folgt: Wenn zwei egoistische Bauern sich das erste und letzte Mal mit dem oben beschriebenen Erntedilemma konfrontiert sehen, kann einer von beiden von der Hilfe seines Nachbarn profitieren, ohne sich dafür revanchieren zu müssen. Da beiden diese Situation klar ist, wird keiner von beiden am ersten Tag seinem Nachbarn helfen, die Ernte einzubringen, weil beide davon ausgehen, am zweiten Tag keine Hilfe als Gegenleistung zu erhalten. Die beiden Bauern – sofern sie sich nur einmal begegnen, was ein wichtiger Punkt ist, wie wir noch sehen werden – werden sich also weigern zusammenzuarbeiten.7
Andererseits kooperieren Menschen in derartigen Situationen natürlich trotzdem. Möglich wird dies durch vertrauensbildende und -bewahrende Mechanismen, die in der Biologie als reziproke Altruismen bezeichnet werden. Wesentlich ist hierbei, dass sich die Lage von Grund auf ändert, wenn Personen wiederholt aufeinander |138|angewiesen sind. Im Falle unserer Bauern könnte es sein, dass sich das Erntedilemma jedes Jahr aufs Neue einstellt. Vielleicht treten über das ganze Jahr verteilt immer wieder Situationen auf, in denen sich die gegenseitige Unterstützung für beide Seiten als lohnend erweist. Dann käme ein »Verrat« am Nachbarn tatsächlich teuer zu stehen, da Misstrauen entstünde und dieser sich wahrscheinlich rächen würde, indem er seine Hilfe verweigert. Durch Wiederholung wird zwischen den beiden Parteien eine Art »Diskussion« ermöglicht, was die zugrunde liegende Logik verändert. Jeder ist so lange bereit zu kooperieren, wie es der andere ist. Und jeder Betrugsversuch wird unmittelbar dadurch bestraft, dass bei der nächsten Gelegenheit die Hilfe abgelehnt wird. Wie der Politikwissenschaftler Robert Axelrod in seinem Klassiker Die Evolution der Kooperation nachwies, trifft diese Logik nicht nur auf Bauern, sondern auf jeden zu, der sich in einer Situation befindet, in der Zusammenarbeit einen Gewinn, Betrug aber einen Verlust bedeuten kann.8
1915 traf der britische Armeekommandant Geoffrey Dugdale mit seinen Männern an der englisch-deutschen Front in Belgien ein, um die erschöpften Soldaten in den Schützengräben abzulösen. In den Tagen, in denen er und seine Männer sich vorbereiteten und ein Bild über das Frontgeschehen verschafften, fiel ihm etwas höchst Erstaunliches auf. Die britischen Soldaten verhielten sich den Deutschen gegenüber seltsam nachsichtig und eröffneten noch nicht einmal auf leichte Ziele das Feuer. Dugdale erzählte später, dass die Briten deutsche Soldaten ignoriert hätten, obwohl diese in Schussweite gewesen wären. Sobald er das Kommando übernehmen würde, wäre damit Schluss, nahm er sich vor. Seiner Ansicht nach war das kein akzeptabler Zustand, immerhin befand man sich im Krieg. Es schien, als hätten beide Seiten beschlossen, nach dem Motto zu handeln »leben und leben lassen«.9
Für Dugdale mag dieses Verhalten rätselhaft gewesen sein, vom logischen Standpunkt aus betrachtet ist es jedoch nicht weiter verwunderlich. Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, einer |139|Phase, in der die Truppen mobil gewesen waren und viel Blut vergossen wurde, folgten erbitterte Stellungskriege, in denen nur wenige hundert Meter verwüstetes Gelände zwischen den Kriegsparteien lag. Auf beiden Seiten standen sich dieselben Soldaten zum Teil über Monate hinweg gegenüber. Beiden Seiten drohte, durch anhaltendes Granantenfeuer alles zu verlieren, sie konnten aber auch durch die stillschweigende Abmachung, sich das Leben nicht unnötig schwer zu machen, alles gewinnen. Durch wiederholte Interaktionen lernten die Gegner zu kooperieren, wobei das Entgegenkommen des Feindes mit eigenen Zugeständnissen belohnt, ein Bruch der stillschweigenden Abmachung aber äußerst brutal gerächt wurde. Veteranen des Ersten Weltkriegs erinnern sich daran, dass das Artilleriefeuer nach einem festen Zeitplan erfolgte und sich auf offensichtliche Ziele richtete, sodass jede Seite dem Feind als Warnung das eigene Können vorführen konnte, gleichzeitig aber die Bereitschaft unter Beweis stellte, auf tödliche Treffer zu verzichten. Der wahre Grund, weshalb die Frontlinie in manchen Sektionen unverändert blieb, war, dass niemandem etwas daran lag vorzupreschen, erklärte ein Veteran. Eröffneten die Briten das Feuer auf die Deutschen, schlugen diese mit gleicher Kraft zurück, und beide Seiten erlitten mehr oder weniger dieselben Verluste. Schlug eine deutsche Granate in einem vorgerückten feindlichen Schützengraben ein und tötete fünf Soldaten, rächten sich die Briten mit einem Gegenschlag, der fünf Deutschen das Leben kostete.10
Abgelöste Soldaten legten ihren Nachfolgern nahe, sich ebenfalls an die höchst sinnvolle Vereinbarung zu halten, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen.11
Genau genommen handelt es sich hier jedoch nicht um echten Altruismus, sondern um eine kluge Strategie, das Beste aus einer schwierigen Situation herauszuholen. In den letzten 30 oder 40 Jahren sind viele Biologen und Soziologen zu der Überzeugung gelangt, dass jede Form von Altruismus auf ähnlich strategischen Überlegungen beruht, und dass sich jeder Altruist eine Gegenleistung |140|für seine Freundlichkeit erwartet – in anderen Worten, er ist lediglich ein gut getarnter Egoist. Neben dem reziproken Altruismus sind der Wissenschaft noch andere Mechanismen bekannt, die alle demselben Zweck dienen: sich aus eigenem Interesse für andere einsetzen, um zu einem späteren Zeitpunkt davon zu profitieren. Durch wiederholte Akte der Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit lassen sich bei den Mitmenschen Pluspunkte sammeln, und man verpflichtet sie zu den gleichen Verhaltensweisen uns gegenüber. Akte der Selbstlosigkeit verschaffen einem Menschen den Ruf, vertrauenswürdig zu sein, und den kann er sich später einmal zunutze machen.
In jeder Situation, in der es möglich ist, sein Gegenüber zu betrügen, ist es für eine »strategische« Kooperation zwischen egoistischen Parteien notwendig, wiederholt miteinander zu interagieren, damit eine von ihnen ihre diesbezügliche Bereitschaft als strategisches Druckmittel nutzen kann, um die andere Partei zur Zusammenarbeit zu zwingen.
Streicht man die Möglichkeit zur Wiederholung – die zukünftigen Begegnungen – heraus, ist es mit der Kooperation recht schnell vorbei. Die ergreifende Geschichte vom »leben und leben lassen« im Ersten Weltkrieg schlug etwas später ins deprimierende Gegenteil um. Gegen Ende des Krieges sorgte der Einsatz von Panzern für den Abbruch der langen und relativ intimen Stellungskriege. Das Kriegsgeschehen kam in Fahrt, die Truppen wurden mobiler, und die Logik, den anderen leben zu lassen, um selbst zu überleben, wurde davon regelrecht überrollt.
Das oben Gesagte fasst in aller Kürze zusammen, was in der Betrachtung der menschlichen Kooperationsbereitschaft als Stand der Dinge gilt – oder bis vor kurzem galt. Vieles wird noch immer mit kluger Berechnung erklärt, da das soziale Atom in vielen Fällen egoistisch handelt und sich nur aus strategischen Überlegungen auf eine Zusammenarbeit einlässt. Es besteht kaum Zweifel darüber, dass wir Menschen geborene Spieler sind, ja dass wir sogar über spezielle biologische Mechanismen verfügen, um »Schummler|141|« entlarven zu können, wie Studien gezeigt haben. So können wir beispielsweise subtile Muster viel besser erkennen, wenn im zugehörigen Szenario Möglichkeiten zum Schummeln vorhanden sind. Befassen wir uns dazu mit einer Rätselaufgabe: Stellen Sie sich vor, Sie wären kürzlich in einen Vorort von Boston gezogen, und jemand erzählt Ihnen, dass jeder, der in die Innenstadt fahren will, die U-Bahn nimmt. Jetzt sehen Sie sich diese vier Karten an:
Auf der einen Seite jeder Karte steht der Ort, zu dem eine Person gefahren ist, auf der anderen steht das Verkehrsmittel, das diese Person dafür benutzt hat. Ihre Aufgabe ist es herauszufinden, welche Karte(n) Sie umdrehen müssen, um festzustellen, ob die auf der jeweiligen Karte enthaltenen Informationen der Aussage widersprechen, dass jeder, der nach Boston hineinfährt, die U-Bahn nimmt.
Logischerweise lautet die Antwort: die erste und die letzte Karte. Die erste Karte müssen Sie umdrehen, weil das Ziel Boston lautet und daher auf der Rückseite »U-Bahn« stehen muss. Die letzte Karte müssen Sie umdrehen, weil die Person mit dem Taxi gefahren ist und daher auf der Rückseite nicht »Boston« stehen darf. Zweifeln Sie nicht an sich, wenn Sie nicht gleich auf diese Lösung gekommen sind. Bei dieser Aufgabenstellung geben üblicherweise nur 25 Prozent der Testpersonen die richtige Antwort. Kommen wir nun zum interessanten Teil. Wir wiederholen den Versuch mit geändertem Informationsgehalt, aber gleichbleibender Logik. Stellen Sie sich vor, man erzählt Ihnen, dass die Kinder in manchen Schulen nachmittags Kekse essen dürfen, falls sie |142|mitgeholfen haben, den Aufenthaltsraum aufzuräumen. Auf der einen Seite der Karte steht nun, ob ein Kind beim Aufräumen geholfen hat, auf der Rückseite steht, ob es Kekse gegessen hat.
Wieder müssen Sie herausfinden, welche Karte(n) Sie umdrehen sollten, um festzustellen, dass kein Kind gegen diese Regel verstoßen hat. Die Antwort lautet auch hier: die erste und die letzte Karte. Fiel es Ihnen diesmal leichter? Bei dieser Aufgabenstellung nennen üblicherweise rund 65 Prozent der Testpersonen die richtigen Karten, die sich oft geradezu »aufzudrängen« scheinen, weil der Inhalt das Gehirn irgendwie dazu stimuliert, die Informationen anders zu verarbeiten. Es ist offensichtlich, dass die Karten mit den Informationen »Keine Kekse gegessen« und »Beim Aufräumen geholfen« nicht umgedreht werden müssen, weil hier keine Möglichkeit besteht, die Regel zu verletzen. Nur bei den Kindern, die entweder Kekse gegessen haben oder nicht beim Aufräumen geholfen haben, muss überprüft werden, was auf der Rückseite der Karte steht. Die Ergebnisse einer ganzen Reihe ähnlicher Experimente lassen den Schluss zu, dass wir ein instinktives Gespür dafür haben, Betrüger und Schummler zu entlarven – vermutlich deswegen, weil es in unserer Evolutionsgeschichte so wichtig war, die Kooperation mit anderen zu lernen, ohne dabei betrogen zu werden.12
Diese Tatsache erklärt für sich genommen aber noch nicht, weshalb wir auch außerhalb bewährter Beziehungen zur Zusammenarbeit bereit sind. Eine Sache, die Soziologen in den letzten 20 Jahren gelernt haben, ist, dass reale Personen längst nicht |143|immer so handeln, wie es die Theorie besagt. Die dem puren Eigennutz zugrunde liegende Logik hätte zur Folge, dass sich jeglicher Altruismus in Nichts auflöst, falls keine Hoffnung auf zukünftige Gegenleistungen besteht. Dies ist nach heutigen Erkenntnissen schlicht und ergreifend falsch. Es scheint unter uns Menschen tatsächlich einige Exemplare zu geben, die wahrhaft selbstlos und absolut uneigennützig handeln.
Unsere sozialen Instinkte
Stellen Sie sich vor, ich führe Sie in einen Raum, setze Sie zu einem Ihnen fremden Menschen an den Tisch und gäbe Ihnen 100 Dollar. Dann fordere ich Sie auf, dem Fremden einen beliebigen Teil des Geldes abzugeben. Akzeptiert er Ihr Angebot, dürfen Sie beide das Geld behalten, das Sie jeweils in der Hand haben. Lehnt er Ihr Angebot aber ab, müssen Sie mir die ganzen 100 Dollar wieder zurückgeben. Sie dürfen dieses Angebot nur ein einziges Mal unterbreiten, anschließend trennen sich Ihre Wege für immer. Was würden Sie tun?
Als echter Rationalist, der davon überzeugt ist, dass menschliches Verhalten letztendlich immer von Eigeninteresse gesteuert wird, liegt die Antwort auf der Hand. Die Begegnung ist einmalig, und der Fremde, der schließlich auch nur seine Interessen verfolgt, hat keine große Wahl. Er kann auf Ihr Angebot eingehen oder es ablehnen. Und da auch ein noch so geringes Geldgeschenk besser ist als keines, wird er es sicher annehmen. Sie können ihm also nur einen Bruchteil der Summe anbieten – sagen wir, 1 Dollar –, und ziemlich sicher davon ausgehen, dass er ihn annehmen wird. Dadurch gewinnen Sie 99 Dollar.
Die Logik der ökonomischen Spieltheorie ist in diesem Punkt so eindeutig und offensichtlich, dass diese Situation – die in Fachkreisen als Ultimatumspiel bekannt ist – bei den Theoretikern noch nicht einmal mildes Interesse weckte. Bis vor ungefähr 15 Jahren |144|galt es als absolut überflüssig, diese Spielsituation der Probe aufs Exempel zu unterziehen und mit echten Personen durchzuspielen. Warum sollte man auch Experimente durchführen, deren Ergebnisse auf der Hand liegen? Nun, ganz einfach deswegen, weil es in der wissenschaftlichen Forschung kaum etwas Gefährlicheres gibt, als auf die immerwährende Gültigkeit der reinen Logik zu vertrauen. Zum Glück hat man während der letzten zehn Jahre in der Sozialwissenschaft erkannt, dass sich die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens nicht unbedingt über die theoretischen Vorteile der reinen Vernunft oder des bloßen Egoismus erklären lassen. Man ging dazu über, das soziale Atom wie ein physikalisches zu untersuchen: durch Experimente im Labor, um Aufschluss über Gedankengänge und Emotionen zu erhalten. Und ein exzellentes Beispiel hierfür ist eben jenes Ultimatumspiel.
Zahllose freiwillige Studenten haben dazu beigetragen, dass inzwischen Hunderte von Studien dazu vorliegen. Der übliche Versuchsaufbau ist, dass die Probanden in zufällig zusammengestellten Paaren mit Beträgen um die 10 bis 20 Dollar spielen. Zur Bestürzung der Theoretiker haben die Testreihen ergeben, dass die meisten Personen, die als »Anbieter« agieren, ihrem Gegenüber rund 40 Prozent des verfügbaren Geldbetrags offerieren, weil dies entweder als fair empfunden oder weil befürchtet wird, dass ein geringerer Betrag abgelehnt wird. Auf der Seite der »Empfänger« dagegen war zu beobachten, dass ungefähr die Hälfte Angebote zurückweist, die 20 Prozent oder weniger des Gesamtbetrags darstellen, selbst wenn es nicht mehr nur um 10 oder 20, sondern um mehrere 100 Dollar geht. Ganz klar handelten nur die wenigsten Studenten nach rein eigennützigen Überlegungen.
Diese Ergebnisse standen in einem so krassen Kontrast zu den Erwartungen der Verhaltensökonomen, dass sich anfangs viele weigerten, sie zu akzeptieren. So warfen beispielsweise einige ein, die Versuchsergebnisse wären deshalb verfälscht, weil sich die Spieler von Angesicht zu Angesicht begegneten, und weil sie sich in Erwartung einer möglichen späteren Begegnung ihr Gegenüber |145|einprägten. Daher ließe sich ihre Kooperationsbereitschaft ganz einfach über den reziproken Altruismus erklären. Der Versuchsaufbau wurde daraufhin so abgeändert, dass die Spieler anonym über Computer miteinander kommunizierten, was sämtliche Hintergedanken im Hinblick auf zukünftige Begegnungen ausschloss. Das Ergebnis blieb jedoch dasselbe – Kooperation. Ein weiterer Einwand konservativer Eigennutztheoretiker lautete, dass das Ergebnis vor allem belege, wie hoffnungslos naiv und idealistisch die vorwiegend studentischen Versuchspersonen seien. Weitere Experimente haben aber auch diesen verzweifelten Rettungsversuch der orthodoxen Anschauung zunichte gemacht.
Erst vor wenigen Jahren führte der an der Emory University tätige Anthropologe Joseph Henrich mit seinem Team Ultimatumspiele durch, an dem tansanische Bauern aus dem Kulturkreis der Sango ebenso wie peruanische Machiguenga-Indianer und weitere Testpersonen aus insgesamt 15 verschiedenen Kulturkreisen rund um den Erdball teilnahmen. Um sicherzustellen, dass die Probanden das Spiel ernst nahmen, wurden Geldbeträge gewählt, die in den jeweiligen Heimatregionen einem oder zwei Tageslöhnen entsprechen. In den Versuchsreihen stellte sich heraus, dass sich Angehörige bestimmter Kulturkreise unglaublich großzügig verhielten. So belief sich das durchschnittliche Angebot der Aché aus dem Nordosten Paraguays und der Lamelara aus Indonesien zum Beispiel auf über 50 Prozent des verfügbaren Geldbetrags. Noch bemerkenswerter war, dass sämtliche Testpersonen systematisch vom ökonomischen »Ideal« des reinen Eigennutzes abwichen, betrug doch sogar das knauserigste Angebot im Durchschnitt mindestens 25 Prozent des Gesamtbetrags. Über alle Kulturkreise hinweg lehnten die »Empfänger« sämtliche Angebote unter rund 25 Prozent ab. Henrich und seine Kollegen kamen zu dem Schluss, dass viele Testpersonen neben ihrem eigenen materiellen Vorteil großen Wert auf Fairness und Gegenseitigkeit legten, freiwillig bereit waren, persönliche Abstriche hinzunehmen, kooperative Partner belohnten, |146|unkooperative aber bestraften, selbst wenn dadurch Nachteile für das Individuum entstanden.13
Um auszuschließen, dass die Ergebnisse des Ultimatumspiels seltsame Ausnahmefälle darstellten, wurden mittlerweile viele ganz unterschiedlich aufgebaute Experimente durchgeführt, die lediglich eine Gemeinsamkeit aufweisen: die Testpersonen mit der schwierigen Entscheidung zu konfrontieren, entweder strikt die eigenen Interessen zu verfolgen, um sich auf einfache Weise zu bereichern, oder nach den gesellschaftlich durchgesetzten Regeln der Fairness zu handeln, obwohl daraus ein persönlicher Nachteil entsteht. Eine leicht abgewandelte Form des Ultimatumspiels ist das Diktatorspiel, bei dem der »Empfänger« nicht die Möglichkeit hat, das Angebot abzulehnen. Der »Anbieter« entscheidet, wie viel er hergeben will, und damit hat sich die Sache. Und obwohl bei diesem Spiel keinerlei Gefahr besteht, dass der Empfänger den Betrag zurückweist, machen viele »Diktatoren« ihrem Gegenüber ein durchaus vernünftiges Angebot – aus Gründen der Fairness, wie es scheint.14 Alle Spielexperimente führten zu dem Ergebnis, dass sich Angehörige aus den verschiedensten Gesellschaften tendenziell als »starke Reziprokatoren« erweisen. Dieser von Verhaltensökonomen geprägte Begriff bezeichnet Menschen, die in ihren Beziehungen zu anderen großen Wert auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Geben und Nehmen legen, die kooperativ sind, ohne auf einen zukünftigen Vorteil zu spekulieren und diejenigen bestrafen, die sie als unkooperativ empfinden.
Die Forschungsergebnisse deuten zudem auf eine weitere, leicht beunruhigende Kuriosität hin, nämlich, dass die moderne Wirtschaftslehre einen schleichenden Einfluss darauf ausüben könnte, wie sich Ökonomen im Vergleich zu »normalen« Menschen verhalten. In einer Studie wurde zum Beispiel untersucht, inwiefern sich das Spielverhalten von Studenten verschiedener Fachrichtungen unterscheidet. Der Aufbau ähnelte dem Erntedilemma der Bauern, deren Egoismus David Hume so trefflich beschrieben hatte.15 Studenten der Psychologie und der Mathematik legten |147|dasselbe Spielverhalten an den Tag wie die meisten anderen Menschen auch. Die große Ausnahme bildeten die Studenten der Wirtschaftswissenschaften, die offensichtlich der Überzeugung waren, dass jeder Mensch nur seine eigenen Interessen verfolgt, weshalb auch sie sich entsprechend verhielten und deutlich häufiger als alle anderen Studentengruppen die Kooperation verweigerten. Die ökonomischen Lehren – zumindest jene, die in der Vergangenheit im Studium vermittelt wurden – scheinen sie habgierig gemacht zu haben. Die intensive Beschäftigung mit der Eigennutztheorie, so der Kommentar der Studienleiter, fördert tatsächlich eigennütziges Verhalten. Meiner Meinung nach ist dies in Anbetracht des immensen Einflusses, den Ökonomen als Berater vieler Regierungspolitiker überall auf der Welt ausüben, eine ziemlich beunruhigende Beobachtung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der in den Experimenten beobachtete Altruismus tatsächlich »echt« zu sein scheint, wenngleich er ein Verhalten ist, das vom Standpunkt der Eigennutztheorie aus völlig unlogisch erscheint. Betrachtet man das soziale Atom unter diesem neuen Aspekt, der immerhin nicht auf Mutmaßungen, sondern auf harten Fakten beruht, sind die großzügigen Spenden für die Tsunami-Opfer gar nicht mehr so überraschend, sondern lassen ein weit verbreitetes menschliches Verhaltensmuster erkennen. Es erkannt zu haben, heißt jedoch nicht, es auch erklärt zu haben. Immerhin wäre da noch die unangenehme Tatsache zu berücksichtigen, dass jeder Organismus, der zugunsten anderer auf seinen eigenen Vorteil verzichtet, mit evolutionären Nachteilen zu kämpfen hat. Wie also lässt sich echter Altruismus wissenschaftlich erklären?
Die Wurzeln der Freundlichkeit
Oberflächlich betrachtet scheint sich also alles mit menschlichen Emotionen begründen zu lassen. Wer selbstlos handelt, fühlt sich |148|gut, um es einmal ganz banal zu sagen. Wer anderen hilft, fühlt sich als guter Mensch, wer egoistisch und geizig ist, den plagt das schlechte Gewissen. Wir empfinden es als emotional bereichernd, uns erwiesene Gefälligkeiten zu erwidern, und als befriedigend, es denjenigen heimzuzahlen, die uns im Stich gelassen haben. Um das Für und Wider jeder Handlung abzuwägen, muss der Einzelne nicht nur ein externes, sondern auch ein internes »Abrechnungskonto« führen. Die meisten Menschen werden dem aus eigener Erfahrung zustimmen können, aber auch die fortschrittlichen Möglichkeiten, mit denen die Gehirnfunktionen während der Spielexperimente gemessen werden, belegen diese Aussage. Einige Jahre vor seinen Versuchen über die soziale Anpassung führte der Verhaltensforscher Gregory Burns ein Spielexperiment mit einem Freiwilligenteam aus Wissenschaftlern durch. Die Situation ähnelte dem Erntedilemma, das heißt, die Teilnehmer konnten von einer Kooperation profitieren, ihren eigenen Nutzen sogar noch erhöhen, wenn sie ihren Partner über den Tisch zogen. Bei der Abbildung der Gehirnfunktionen zeigte sich, dass bei einer Zusammenarbeit der Partner der Nucleus accumbens und der orbifrontale Kortex – die Belohnungszentren – zu den aktivsten Gehirnregionen zählten.16 Vor einem Jahr entdeckten der Verhaltensökonom Ernst Fehr und der Psychologe Dominique de Quervain, die an der Universität Zürich tätig sind, im Verlauf ähnlicher Experimente, dass wir einen mentalen Kick dabei empfinden, wenn wir Betrüger bestrafen, selbst wenn dies für uns mit einem finanziellen Verlust verbunden ist.17
All dies ist als Erklärung jedoch noch immer nicht wirklich ausreichend. Es versteht sich von selbst, dass kein Organismus von einem Reichtum an Gefühlen leben kann, sondern auf Nahrung, einen sicheren Unterschlupf und seine Artgenossen angewiesen ist. Die spannende Frage ist jedoch, weshalb wir diese Emotionen überhaupt empfinden, und inwiefern sie uns in biologischer Sicht nutzen. Insbesondere stellt sich diese Frage bei Empfindungen, die Menschen zu extrem altruistischen Heldentaten veranlassen: Wie |149|der bereits erwähnte Soldat, zum Beispiel, der sein Leben für das seiner Kameraden hingab. Lässt sich eine solche Tat überhaupt bio-»logisch« erklären? Und es stellt sich gleich die nächste Frage: Warum sind die Exemplare der menschlichen Spezies, die diesen Emotionen entsprechend handeln, nicht schon längst der natürlichen Auslese zum Opfer gefallen und ausgestorben? Diese Fragen sind Gegenstand anhaltender wissenschaftlicher Debatten.
Es besteht die Möglichkeit, dass die natürliche Auslese dieser Menschen schon längst in Gang, aber eben noch nicht abgeschlossen ist. Man darf nicht vergessen, dass unsere moderne Zivilisation in ihrer jetzigen Form noch gar nicht lange existiert. Wie es die Autoren eines NASA-Berichts aus den sechziger Jahren formulierten, ist die uns so vertraute moderne Welt vor dem Hintergrund der menschlichen Entwicklungsgeschichte erst vor einem Augenblick entstanden. In dem NASA-Bericht heißt es:
800 Lebensspannen können einen Zeitraum von über 50 000 Jahren umfassen, und 650 Lebensspannen hat die Menschheit in Höhlen verbracht. Nur 70 Lebensspannen ist es her, dass Menschen effektiv miteinander kommunizieren können, und Bücher oder Instrumente, um die Temperatur zu messen, gibt erst seit sechs Lebensspannen. Seit vier Lebensspannen ist es möglich, die Zeit mehr oder weniger präzise zu messen, Elektromotoren gibt es seit zwei Lebensspannen. Der überwiegende Teil aller Güter unseres Alltagslebens wurde erst in der letzten, in der von uns heute erlebten achthundertsten Spanne entwickelt.18
Um unsere heutigen Verhaltensweisen verstehen zu können, müssen wir uns klarmachen, dass unsere Urahnen tatsächlich bis vor kurzem als Jäger und Sammler in kleinen, isolierten Verbänden lebten. Anthropologen beschreiben diesen Zeitraum als »Environment of Evolutionary Adaptiveness« (EEA), die Umwelt der evolutionären Anpassung, in der unsere Urahnen 99 Prozent der Menschheitsgeschichte verbrachten. Was über diesen Zeitraum Tag für Tag über viele Generationen hinweg zwischen zahllosen Menschen stattfand, waren wiederholte Interaktionen innerhalb |150|einer Gruppe. Anders ausgedrückt, unsere Urahnen agierten aufgrund unzähliger Erfahrungswerte mit Sicherheit im Sinne des reziproken Altruismus. Und wir haben unser heutiges Dasein größtenteils der Tatsache zu verdanken, dass unsere Urahnen diese Logik in ihrer Denkweise verankerten und von den Vorteilen profitierten, die ein kooperatives Miteinander mit sich bringt.
Doch selbst die tief verwurzelte biologische Affinität zu reziprokem Altruismus erklärt noch immer nicht das echte gemeinnützige Verhalten, das man in modernen Experimenten bei Teilnehmern beobachtet, die anonym bleiben und sich bestimmt kein zweites Mal begegnen werden. Die Voraussetzung dafür, dass reziproker Altruismus als vernünftige Strategie gelten kann, ist die wiederholte Interaktion zwischen den Beteiligten. Viele Evolutionsbiologen und Anthropologen glauben, dass unsere gewohnten Verhaltensweisen so tief verwurzelt sind, dass sie uns instinktiv das Falsche tun lassen. Auch wenn einer Testperson noch so genau erklärt wird, dass sie an einem Spielexperiment teilnimmt und ihrem Partner mit Sicherheit nie wieder begegnen wird, mag es sein, dass die Botschaft zwar auf der bewussten Ebene durchaus verstanden wird, die unbewusste Ebene aber nicht erreicht. Wie auch Studenten instinktiv Fehler bei ganz simplen Arithmetikaufgaben unterlaufen, begehen die Teilnehmer der Spielexperimente vielleicht nur den Lapsus, sich so zu verhalten, als ob sie sich in einer wiederholten Interaktionssituation befänden. Im Jahr 2005 wurde ein sehr fundierter Artikel zu diesem Thema veröffentlicht, der in der Fachwelt auf großes Interesse stieß. Die Autoren argumentierten, dass sich das menschliche Gehirn in einer Umwelt entwickelte, in der all diejenigen definitive Vorteile genossen, die spontan kooperierten und Betrügereien bestraften. Die Neigung zur Zusammenarbeit hat sich daher über Millionen von Jahren als Evolutionsvorteil verankert. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie bis heute unser Verhalten bestimmt, unabhängig davon, dass unsere Umwelt anders als damals heute von |151|Großstädten, Zivilisation und anonymen Laborversuchen mit wildfremden Menschen, die uns nur ein einziges Mal begegnen, geprägt ist.19
Falls das stimmt, ist eine starke Reziprozität schlicht eine »Fehlanpassung«. In 99 Prozent seiner Entwicklungsgeschichte hat der Mensch gelernt, dass jede Interaktion mit anderen sozialen Atomen eine Wiederholung darstellt, weshalb es ihm – wie wir soeben gesehen haben – schwerfällt, in einem Experiment, das auf einer einmaligen Begegnung aufgebaut ist, anders zu handeln. In dieser künstlichen Umgebung werden wir zu Verhaltensweisen verleitet, die definitiv nicht unserem Eigeninteresse entsprechen. In diesem Fall müsste eine stark ausgeprägte Reziprozität in die lange Liste der Fehlanpassungen aufgenommen werden, die der moderne Mensch heutzutage in seinem Verhalten an den Tag legt. Dazu gehören unter anderem einige der zwangsläufigen – weil instinktiven – Denkfehler, die in Kapitel 3 besprochen wurden. Verwunderlich wäre dies ebenso wenig wie die Tatsache, dass pornografische Abbildungen oder Filme sexuell erregen, obwohl sexuelles Verlangen ursprünglich nur der Fortpflanzung dienen sollte.
Die Erklärung scheint plausibel, doch viele Argumente sprechen gegen sie. So ist es beispielsweise nicht sehr wahrscheinlich, dass unsere Urahnen nur innerhalb ihrer kleinen Gruppen miteinander interagierten. Insbesondere nach Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder Dürreperioden legten Einzelne weite Strecken zurück, um Wasser oder Nahrung zu finden, und dabei trafen sie mit ziemlicher Sicherheit auf Angehörige fremder Stämme. Und da diese Begegnungen weit entfernt von ihrem angestammten Territorium stattfanden, war die Wahrscheinlichkeit wiederholter Zusammentreffen äußerst gering. Anhand der Daten, welche Strecken heutige Jäger und Sammler zurücklegen, schätzt Henrich, dass kritische Einmalbegegnungen sogar recht häufig stattgefunden haben mussten. Henrich und Fehr schreiben dazu sinngemäß:
|152|Würde man von der heute verfügbaren empirischen Beweislage eine »umgekehrte Prognose« über die Umwelt der evolutionären Anpassung – Environment of Evolutionary Adaptiveness (EEA) – unserer frühzeitlichen Urahnen anstellen, erscheinen häufige Begegnungen mit Fremden sehr wahrscheinlich. Diese Begegnungen konnten beträchtliche Konsequenzen für das eigene Überleben mit sich bringen. ... Daten über nomadisierende Kleingruppen und Schimpansen weisen eindeutig darauf hin, dass Interaktionen mit Fremden häufig waren und die Überlebenstauglichkeit entscheidend mitbestimmten.20
In Anbetracht der Tatsache, dass jedes Individuum in einer überlebenskritischen Situation seinen eigenen Stamm repräsentierte, waren diese Begegnungen mit großer Wahrscheinlichkeit extrem gefährlich. Die Evolution würde niemanden dafür belohnen, dass er bei einmaligen Begegnungen jeweils denselben Willen zur Kooperation zeigte, wie bei wiederholten Interaktionen und aus Hilfsbereitschaft die Hand reicht, nur um erschlagen zu werden. Eine derartige Fehlanpassung sollte doch schon längst von der Bildfläche verschwunden sein.
Starke Reziprozität kann damit also auch nicht begründet werden. Doch es gibt noch einen anderen Erklärungsversuch, der das Phänomen als etwas ganz Natürliches betrachtet. Starke Reziprozität könnte ein essenzieller Baustein des sozialen Zusammenhalts (Kohäsion) sein, ein Kernelement der Mechanismen, die unsere Urahnen dazu befähigten, funktionierende, zusammenhängende Gruppenverbände zu bilden. Vielleicht ist starke Reziprozität tatsächlich eine der Eigenschaften, die uns zum sozialsten aller Lebewesen machen.
Die Physik der sozialen Kohäsion
Niemand zahlt gerne Steuern. Doch wer asphaltierte Straßen und funktionierende Ampeln, ein für jedermann zugängliches Bildungs- |153|und Gesundheitssystem, Schutzimpfungen und eine Streitkraft zur Verteidigung haben möchte, muss Steuern zahlen, damit der Staat all dies bereitstellen kann. Diese dem Gemeinwohl dienenden Einrichtungen sind öffentliches Eigentum, von dem jeder Bürger profitiert, unabhängig davon, ob er direkt zu seiner Finanzierung beiträgt oder nicht. Dieses Auseinanderklaffen von Geldbeschaffungsanteil und Nutzung ist nach den Erkenntnissen der Sozialtheoretiker oft Auslöser für gravierende gesellschaftliche Probleme. Wenn auch jeder, der nichts dazu beisteuert, das Gut verwenden kann, ist der Anreiz verschwindend gering, selbst einen Beitrag zu leisten. Warum nicht die Straßen benutzen und andere dafür zahlen lassen? Die letzte Konsequenz daraus ist die soziale Dysfunktion, die auch unter dem Namen »Tragik der Allmende« bekannt ist.
Im Jahr 1968 umriss der Ökonom Gareth Hardin als Erster ganz konkret diese Problematik, die zu der grundlegendsten in den Sozialwissenschaften zählt.21 Hardin beschrieb sie anhand einer simplen Parabel: Die Weide eines Dorfes ist gemeinschaftliches Eigentum, und jeder Bewohner kann dort seine Kühe grasen lassen, das heißt, die Gemeinde als Ganzes profitiert davon. Um eine Abgrasung zu vermeiden, dürfen jedoch nicht alle Kühe gleichzeitig auf die Weide. Falls die Nutzung aber nicht von höherer Stelle geregelt, sondern den Dorfbewohnern überlassen wird, endet die Situation mit dem Konflikt, den David Hume vor langer Zeit für seine zwei Bauern beschrieben hat, mit der Ausnahme, dass hier eine ganze Dorfgemeinschaft beteiligt ist. Wenn jeder strikt seine eigenen Interessen verfolgt, führt kein einziger Bewohner freiwillig weniger Kühe auf die Weide, da er davon ausgeht, dass sein Nachbar ebenso eigennützig handelt. Im Wissen darum, dass die Weide vielleicht morgen schon abgegrast sein könnte, lasse ich meine Kühe sich heute noch satt fressen – denkt jeder. Das sichere Endergebnis: Alle versuchen, so viel wie möglich für sich herauszuholen, bevor nichts mehr übrig ist, womit das gemeinschaftliche Gut zu jedermanns Nachteil zerstört wird. |154|Und all das nur, weil die zugrunde liegende Sozialphysik dabei versagte, einen funktionstüchtigen Mechanismus für nachhaltige Kooperation hervorzubringen.
Wie auch andere soziale Phänomene lässt sich die »Tragik der Allmende« sehr einfach experimentell nachstellen. An der Universität Zürich beobachteten Ernst Fehr und seine Kollegen vier Testpersonen beim sogenannten Allmendeklemme-Spiel. Dabei erhält jeder Spieler zu Beginn einen bestimmten Geldbetrag, den wir einmal mit 10 Dollar festsetzen wollen. In jeder Runde muss sich der Teilnehmer entscheiden, welchen Betrag er in einen Gemeinschaftstopf einzahlen möchte, wobei alles zwischen 0 und 10 Dollar erlaubt ist. Nachdem die jeweiligen Beiträge gespendet wurden, kassiert der Spielleiter diesen im Gemeinschaftstopf ein, verdoppelt die Summe, teilt sie durch die Anzahl der Spieler und zahlt jedem denselben Betrag aus. Entscheidend ist hierbei, dass die Summe verdoppelt wird, da hiermit ausgedrückt werden soll, dass Investitionen in gemeinschaftliche Güter wie Straßen, Felder und so weiter der Gruppe als Ganzes finanzielle Gewinne bescheren. Je mehr jeder beisteuert, umso höher ist der Ertrag. Gibt jeder 10 Dollar, liegen 40 Dollar im Topf, die der Spielleiter auf 80 Dollar verdoppelt und anschließend jedem Spieler 20 Dollar zurückzahlt. Der Gewinn für jeden beträgt somit immerhin 10 Dollar oder 100 Prozent Profit.
Was das Spiel aber erst spannend macht, ist, dass jeder Teilnehmer den Anreiz hat, zu betrügen. Wenn alle anderen ihren Beitrag leisten, kann sich ein »Dorfbewohner«, der nichts beiträgt, über den größten Gewinn freuen. Gibt ein Spieler 0 Dollar, alle anderen aber 10, liegen 30 Dollar im Topf. Der Spielleiter verdoppelt auf 60 Dollar und zahlt jedem Spieler 15 Dollar zurück. Der egoistische Geizhals bekommt so statt 10 sogar noch 5 Dollar mehr. In den Experimenten bereitet die verlockende Möglichkeit, sich durch Betrug zu bereichern, der Kooperationsbereitschaft schnell ein Ende. Die Wissenschaftler stellen immer wieder fest, dass der Wille zur Zusammenarbeit in den ersten Runden sehr |155|hoch ist. Auch wenn echte Egoisten von Anfang an betrügen, sind doch die meisten Spieler als starke Reziprokatoren zu Beginn sehr großzügig, was der Gruppe als Ganzes gute Erträge sichert. Doch einige Betrüger gibt es immer, und deren Verhalten wirkt sich ansteckend auf alle anderen aus. Sobald die Täuschung bemerkt wird, will keiner mehr dazu beitragen, dass der Betrüger die größten Erträge einstreicht. Mit jeder Spielrunde wächst das Misstrauen in der Gruppe, und die Teilnehmer rächen sich für die Hinterlist, indem sie selbst betrügen. Nach zehn Runden sind üblicherweise das Engagement für die Gemeinschaft und somit die Beiträge für Kofinanzierungen bei den meisten Spielern auf dem Nullpunkt angelangt.22
Dieses einfache Experiment lässt vermuten, dass die kurzsichtige Verfolgung ausschließlich eigener Interessen der Bildung einer nachhaltigen Zusammenarbeit in großen Gruppen nicht gerade dienlich ist. Theoretische Studien kamen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass reziproker Altruismus und andere Mechanismen, die bei egoistischen Akteuren die Kooperationsbereitschaft fördern, nur in sehr kleinen Gemeinschaften greifen. Bei größeren Gruppen ab 30 oder 40 Menschen ist damit Schluss. Bis vor kurzem war den Sozialtheoretikern nur eine Lösung für dieses Dilemma bekannt. Sie ahnen vermutlich schon, welche. Eine übergeordnete Instanz, eine Regierung zum Beispiel, die über geeignete Druckmittel verfügt, um Individuen über die glaubwürdige Androhung von Strafmaßnahmen zu zwingen, ihren Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten und nicht zu betrügen. Wie gut das funktioniert, sieht man daran, wie brav wir (fast) alle unsere Steuern zahlen.
Durch weitere Experimente, bei denen die sozialen Atome unter verschiedenen Bedingungen angeordnet wurden, um zu sehen, was dabei wohl herauskommt, haben Wissenschaftler nun eine weitere Möglichkeit entdeckt, mit der die sogenannte Allmendeklemme vermieden werden kann: ein Rezept für Kooperation, das möglicherweise das größte Rätsel der menschlichen Sozialstruktur lösen wird. In einer Abwandlung des ursprünglichen Spiels |156|führten Fehr und seine Kollegen eine neue Regel ein: Jeder Spieler darf, sofern er 1 Dollar zahlt, einen anderen, dessen Beitrag in der vorherigen Runde als zu niedrig empfunden wurde, mit einem »Bußgeld« von 2 Dollar belegen. Der Bestrafende zahlt also 1, der Bestrafte 2 Dollar in den Gemeinschaftstopf. Spieler, die das Bußgeld verhängen, haben dadurch keinen direkten Vorteil, sie verlieren ja 1 Dollar. Bei vielen Teilnehmern war jedoch die Empörung über die Mitspieler, die beim Betrügen erwischt wurden, groß genug, um diesen Verlust bereitwillig hinzunehmen. Durch die neu eingeführte Strafmaßnahme wurde der Anreiz, die anderen zu hintergehen, deutlich geringer, was sich auch in den Versuchsergebnissen zeigte: Die Spieler kooperierten auch noch nach zehn Runden. Es scheint also so zu sein, dass eine starke Reziprozität die Bereitschaft zur Zusammenarbeit fördern, stabilisieren und dauerhaft etablieren kann.23
Das Ergebnis dieses einfachen Experiments leuchtet umso mehr ein, wenn wir uns noch einmal die Lebensumstände der frühen Jäger und Sammler vor Augen halten. Die Existenz unserer in kleinen Gruppen organisierten Urahnen hing davon ab, dass die Zusammenarbeit bei der Nahrungssuche, der Jagd und der Verteidigung gegen zweibeinige Feinde funktionierte – und das ganz ohne Regierungsgewalt. Wie es nun scheint, ist starke Reziprozität vielleicht genau die Verhaltensweise, die den sozialen Atomen damals das erforderliche Maß an Kooperationsbereitschaft ermöglichte. Sie ist das soziale Bindemittel, das physikalische »Gesetz«, das auf individueller Ebene wirkt, um auf ganz natürliche Weise auf kollektiver Ebene Kooperation und Zusammenhalt entstehen zu lassen. Dies ist vergleichbar mit der physikalischen Anziehungskraft, die einzelne Atome zu kohärenten Festkörpern anordnet. Vielleicht sind wir heute deshalb so starke Reziprokatoren, weil unsere Urahnen es sein mussten, um haltbare Gruppen zu bilden, die das Überleben sicherten, während ihre stark egoistischen Vettern mangels Bereitschaft zur Zusammenarbeit der natürlichen Auslese anheim fielen.
|157|Herbert Gintis, Ökonom an der University of Massachusetts, Amherst, Robert Boyd, Anthropologe an der University of California, Los Angeles, und andere geben dieser Erklärung mithilfe theoretischer Studien mathematische Rückendeckung. Über groß angelegte Computersimulationen stellten sie den natürlichen Konkurrenzkampf nach, der innerhalb und zwischen den frühen Jäger- und Sammlergruppen geherrscht haben muss. Es ist anzunehmen, dass die Gruppenverbände intern und extern kontinuierlich um die besten Territorien, um Nahrung und Fortpflanzungspartner wetteiferten, wobei die Fähigkeit, in großem Maßstab zu kooperieren, mit Sicherheit einen enormen Vorteil darstellte. Die Wissenschaftler führten zwei entscheidende Faktoren in ihre Simulationen ein. Erstens, dass die Individuen innerhalb einer Gruppe miteinander um Ressourcen jeder Art konkurrierten. In diesem Fall ist starke Reziprozität kein Vorteil, sondern ganz klar ein Nachteil, da derart orientierte Individuen von den egoistischeren Gruppenmitgliedern ausgenutzt werden. Nach dem Gesetz der natürlichen Auslese wäre zu erwarten, dass die Anzahl der starken Reziprokatoren langsam, aber sicher abnimmt, was schon vor langer Zeit zu ihrem Aussterben geführt hätte, wenn es da nicht noch den zweiten Faktor gäbe.
Dieser nämlich wirkt in die genau entgegengesetzte Richtung: Im externen Konkurrenzkampf zwischen den Gruppen erweisen sich diejenigen als erfolgreicher, die sich intern kooperativer verhalten. Es ist davon auszugehen, dass sich in einem Kampf jene Gemeinschaft als siegreich erwies, die den größeren Anteil an starken Reziprokatoren aufwies. Dasselbe galt sicherlich auch im Kampf ums Überleben während einer langen Dürreperiode, da eine solche Gruppe zu weit effizienteren kollektiven Handlungsweisen fähig war. Im Konkurrenzkampf zwischen den Kollektiven sollten also tendenziell die stärker egoistisch geprägten ausgemustert werden, die mehr altruistischen jedoch fortbestehen. Gintis und Boyd wiesen mit ihren Simulationen daher Folgendes nach: Falls die Konkurrenz zwischen den Gruppen stark genug ausgeprägt |158|war – wovon ausgegangen werden kann –, erklärt sich allein darüber, weshalb sich ein hoher Anteil von starken Reziprokatoren in der menschlichen Population halten konnte. Das heißt, Altruismus bringt dem Individuum selbst nichts, der Gruppe, der es angehört, aber umso mehr. Je wichtiger Kooperation für das Überleben einer Gemeinschaft ist, desto häufiger wird man in ihr echten Altruismus vorfinden, da dies unseren Urahnen half, unter den widrigsten Umständen zu überleben. (Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Auf der individuellen Ebene wird starke Reziprozität aussortiert, auf der Gruppenebene wird sie reproduziert. Ist sie für die Gemeinschaft ausreichend relevant, um das kollektive Überleben zu sichern, stellt das Fortbestehen der starken Reziprozität eine natürliche Entwicklung dar.)
Die Ergebnisse lassen also vermuten, dass echter Altruismus keinesfalls eine Fehlanpassung ist, sondern tatsächlich das entscheidende Erfolgsrezept unserer Spezies sein könnte, da unsere Urahnen dank dieses sozialen Bindemittels in der Lage waren, stabile überlebensfähige Gruppenverbände zu bilden. So habgierig und egozentrisch sind wir also doch nicht. Wahrscheinlich musste die Evolution so etwas wie uneigennützige Hilfsbereitschaft hervorbringen. Ebenso wahrscheinlich ist es, dass sie auch heute noch entscheidend dazu beiträgt, dass unser soziales Geflecht die Welt zu einem besseren Ort und unser Leben lebenswert macht. Wir sind evolutionsbiologisch auf Kooperation konditioniert.
Unser »kollektives« Selbst – eine seltsame Sache
Im Juli 1793 reiste die damals 25 Jahre alte Charlotte Corday heimlich von der an der französischen Westküste gelegenen Stadt Caen nach Paris. Am nächsten Tag kaufte sie sich auf dem Markt ein großes Messer, ging damit zu Jean-Paul Marat, einem als skrupellos berüchtigten Rädelsführer der Französischen Revolution, und erstach ihn. Anstatt zu fliehen, stellte sich Corday freiwillig |159|der Polizei, obwohl sie wusste, dass ihr das Todesurteil sicher war. Ganz bewusst opferte sie ihr Leben, da sie in der Ermordung Marats die Rettung für Frankreich sah. Am Tag ihrer Hinrichtung, die bereits nach einer Woche stattfand, schrieb sie in einem Brief an ihren Vater sinngemäß folgende Zeilen:
Vergebt mir, mein lieber Papa, denn ich habe meinem Leben ohne Eure Erlaubnis ein Ende gesetzt. Doch durch meine Tat habe ich viele unschuldige Opfer gerächt und viel Unheil verhindert. Eines Tages werden die Menschen aufgeklärt genug sein, um voller Freude zu erkennen, dass sie von einem Tyrannen befreit wurden. ... Ich bitte Euch, vergebt mir. Noch besser, freut Euch über mein Schicksal, denn ich diene einer ruhmreichen Sache.24
Um wirklich nachvollziehen zu können, weshalb Charlotte Corday ihr Leben zum Wohle ihres Volkes opferte, müsste man natürlich detaillierte Nachforschungen über ihren familiären Hintergrund, ihre Persönlichkeit und ihre Erfahrungen vor und während der Französischen Revolution anstellen, in Erfahrung bringen, was sie über Jean-Paul Marat und seine Machenschaften wusste, und weshalb sie glaubte, sein Tod würde etwas Gutes bewirken. Wollte man den selbstlosen Einsatz der Feuerwehrmänner am 11. September 2001 erklären, müsste man ebenfalls ihre Persönlichkeiten analysieren und herausfinden, welche Motivation jeder Einzelne hatte, um überhaupt diesen Beruf zu ergreifen. Von ihm ist allgemein bekannt, dass er im Sinn des Wortes lebensgefährlich ist. Dies gilt generell für Erklärungsversuche von wahrhaft altruistischen Taten, die Menschen überall auf der Welt schon zu jeder Zeit begangen haben.
Die Erklärung, weshalb aufrichtig selbstlose Handlungsweisen im gnadenlosen Überlebenskampf der Natur biologisch aber überhaupt zulässig sind, ist nicht Sache der Historiker oder Psychologen, sondern der Naturwissenschaftler. Das traditionelle Urteil, das soziale Atom verfolge ausschließlich seine eigenen Interessen, ist – wie wir gesehen haben – schlichtweg falsch. Es versagt |160|kläglich bei der Erklärung, weshalb Tag für Tag Millionen von Menschen ohne berechnende Hintergedanken auf zukünftige Gegenleistungen uneigennützig handeln. Viele von ihnen scheinen biologisch auf altruistisches Handeln konditioniert zu sein. Wir geben nicht unbedingt gleich unser Leben hin, aber wir helfen einander, wir spenden Geld, wir nehmen uns Zeit für unsere Mitmenschen, ohne etwas dafür einzufordern oder darauf zu spekulieren, dass sich der Einsatz schon irgendwann lohnen wird. Ohne zu zögern, wird einem Fremden auf der Straße der Weg zu seinem Ziel erklärt, ein falsch zugestellter Brief an den richtigen Empfänger weitergeleitet und eine gefundenes Portemonnaie samt Inhalt an seinen Besitzer zurückgegeben.
Auch die immense Kooperationsbereitschaft, die in Gemeinden, Firmen, Universitäten und Vereinen zu finden ist, kann nicht darüber erklärt werden, dass sie letztendlich der Verfolgung individueller Interessen dient. Doch langsam zeichnet sich die Lösung ab. Uneigennütziges Verhalten ist ein Kernelement des sozialen Atoms, da es Kooperation in großem Maßstab überhaupt erst ermöglicht, und genau das ist der Grund, weshalb es bis heute überdauert hat. In der menschlichen Entwicklungsgeschichte haben sich Gruppen mit altruistischen Mitgliedern anderen gegenüber als überlegen erwiesen, was die natürliche Folge hat, dass sich gemeinschaftsorientiertes Verhalten stärker verbreitet. Wie es schon an anderen Stellen in diesem Buch der Fall gewesen ist, scheint auch hier Einfachheit der Erkenntnis besser zu dienen als Komplexität. Das bedeutet, sich einen Überblick über soziale Atome zu verschaffen, viele von ihnen zueinander zu führen und zu beobachten, was passiert. In diesem Fall wird ersichtlich, dass uns weniger das individuelle Verhalten auszeichnet, das uns persönlich Vorteile verschafft, sondern dasjenige, welches das kollektive Verhalten der Gruppe beeinflusst, der wir angehören. Persönliche Gewohnheiten lassen sich kaum getrennt von denen der Gruppe betrachten. Vielleicht stimmt es, was Robert Wright in seinem Buch Nonzero behauptet, nämlich dass die Entwicklungsgeschichte der |161|Menschheit am besten als fortwährender Kampf zwischen mehr und weniger kooperativen Gruppenverbänden verstanden werden kann. Dabei erweisen sich die besser zusammenarbeitenden tendenziell als Sieger, und es ist nicht weiter verwunderlich, dass wir die Nachfahren der Gewinner und tatsächlich auf Kooperation konditioniert sind.25
Ähnlich wie elektrische und magnetische Kräfte in der Chemie zu neuen Verbindungen führen, führt der eigenartig altruistische Charakter des sozialen Atoms zu der Bereitschaft, innerhalb unserer Gemeinschaften kollektiv tätig zu sein. In den Wirtschaftswissenschaften zerbricht man sich schon lange den Kopf darüber, weshalb viele Unternehmen ihren Angestellten überdurchschnittlich hohe Gehälter bezahlen. Als ebenso rätselhaft gilt, weshalb sich viele Mitarbeiter trotz nur mäßiger Bezahlung mit Begeisterung für ihre Firma engagieren. Diese und viele andere offensichtliche »Anomalien« des Alltagslebens können jetzt aber nur dann noch als abnormal empfunden werden, wenn man sich weiterhin hartnäckig weigert, das soziale Atom realistisch als eines zu betrachten, das aufrichtig am Wohl seiner Gruppe interessiert ist und ein Gerechtigkeitsempfinden verspürt, das weit über rein materielle Überlegungen hinausgeht.26
Dies hat jedoch auch eine Kehrseite, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Ein Faktor spielte bei dieser scheinbar evolutionär bedingten starken Reziprozität eine Schlüsselrolle: die enge Bindung zur eigenen Gemeinschaft – der Wille, mit deren Mitgliedern zu kooperieren, ohne einen individuellen Nutzen daraus zu ziehen. Die Kehrseite der Medaille besteht aus einer tief verwurzelten Neigung, Mitgliedern anderer Gruppen mit Furcht und Misstrauen, manchmal sogar mit Hass und Verachtung zu begegnen. Wir alle waren schockiert, als im ehemaligen Jugoslawien im Herzen des modernen Europas unvermittelt ein blutiger Konflikt ausbrach, der in seiner barbarischen Grausamkeit an das finsterste Mittelalter erinnerte. Das genauere Bild, das wir uns mittlerweile vom sozialen Atom machen können, lehrt uns, |162|dass dieser Konflikt alles andere als überraschend ausbrach, denn der Hass und das Misstrauen, die Konflikte zwischen ethnischen Gruppen schüren, stellen die Schattenseite unserer edlen Instinkte dar. Der vielleicht größte Widerspruch in der Sozialphysik könnte sein, dass der Mensch aus ein und denselben Gründen ebenso gut Frieden schließen wie Krieg führen kann.