|163|Kapitel 7
Vereint, entzweit
Die große Macht der Wissenschaft liegt in ihrer Fähigkeit, uns mit schonungsloser Objektivität die Wahrheit aufzuzeigen, mit der wir nicht gerechnet haben.
Robert Laughlin
Im Juli 1995 hatte die Journalistin Samantha Power von der Washington Post bereits knapp zwei Jahre über die brutalen Auseinandersetzungen zwischen bosnischen Muslimen und Serben berichtet. Sie hatte mit den traumatisierten Überlebenden von Konzentrationslagern und Massenvergewaltigungen gesprochen und mit Menschen, die ansehen mussten, wie ihre Familien vor ihren Augen ermordet wurden. Sie erlebte, wie ein an Irrsinn grenzender Hass durch überschäumende Rachegelüste für über 700 Jahre zurückliegende Niederlagen geschürt wurde. Es ist für den menschlichen Geist, der sich auf die so vertraute Normalität der zivilisierten Gesellschaft verlässt, alles andere als leicht, das Reich der grausamen Möglichkeiten zu begreifen, das sich jenseits dieser Normalität eröffnet. Wie Power sich später erinnerte, kamen ihr die eigenen Erfahrungen nebulös vor, fast wie ein Produkt ihrer Fantasie:
Ich habe in Sarajewo gearbeitet, wo serbische Heckenschützen ihre Schießübungen auf alte Frauen machten, die Kanister mit brackigem Wasser durch die Stadt schleppten, und wo aus wunderschönen Parks Friedhöfe wurden, weil man nicht mehr wusste, wohin mit den Bergen an Leichen. Ich habe mit ausgemergelten Männern gesprochen, die 40 oder 50 Pfund an Gewicht verloren hatten und von Narben entstellt waren, die ihnen in den serbischen Konzentrationslagern zugefügt worden waren. Und ich habe erst neulich eine Titelgeschichte über das Massaker an vier Schulmädchen geschrieben. Doch trotz, oder vielleicht gerade wegen |164|dieser Erfahrungen, kann ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nur ausmalen, was ich bereits persönlich erlebt habe.
Aufgrund ihrer Distanz zu der sie umgebenden Realität beunruhigte es Power nicht sonderlich, als sie am 11. Juli in Srebenica erfuhr, dass die serbischen Streitkräfte unter General Ratko Mladic gerade die Stadt eingenommen hatten, obwohl sie von den Vereinten Nationen als »sicheres Gebiet« eingestuft worden war. Wie viele andere ging auch die amerikanische Journalistin davon aus, dass die bosnischen Serben nichts tun würden, was ein internationales Eingreifen provozieren würde. Auf das, was als Nächstes geschah, war sie gänzlich unvorbereitet: »Ein paar Tage, nachdem Srebenica gefallen war, rief mich ein Kollege aus New York an und erzählte mir, dass der bosnische Botschafter der UN behauptete, die bosnischen Serben hätten über tausend muslimische Männer aus Srebenica in einem Fußballstadion umgebracht. Das konnte nicht sein. ›Nein‹, sagte ich bloß. Mein Freund wiederholte den Vorwurf. ›Nein‹, sagte ich, diesmal entschiedener.«
Wie sich herausstellte, hatte sie recht, aber nicht in ihrem Sinn. Mladic hatte keine 1 000 Menschen exekutieren lassen, sondern bei dem größten Gemetzel in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg mehr als 7 000 Männer und Jungen.1
Wie Samantha Power es ausdrückt, finden es die meisten Menschen schwierig, »die Fantasie aufzubieten, um sich das Böse um einen herum begreiflich zu machen«. Wir erwarten nun einmal – und meist bestätigt es sich ja auch –, dass Menschen, abgesehen von ein paar Soziopathen, Schwerverbrechern und ähnlichen Ausnahmen, relativ vernünftig und vor allem friedvoll miteinander umgehen. Geistig gesunde Menschen, also ganz normale Sterbliche, zerstückeln nun mal keine Babys oder alte Frauen als Hobby, sammeln Köpfe und Ohren oder zwingen Mütter dazu, ihre Söhne zu erschießen. Monströse Dinge müssen unserem Verständnis nach auch monströse Ursachen haben. Völkermord und vergleichbare Ausbrüche von Massengewalt assoziieren wir mit |165|Wahnsinn, mit dem Bösen, weshalb wir spontan versuchen, solche Horrorereignisse der gespaltenen Persönlichkeit einiger Schurken (»den blutrünstigen Serben«) oder ein paar Wahnsinnigen wie Slobodan Milosevic oder Ratko Mladic und seinen Gesinnungsgenossen zuzuschreiben. Beide Erklärungsversuche bringen uns den tröstlichen Glauben daran zurück, dass Massenmord nicht zum »normalen« menschlichen Verhaltensrepertoire gehört, sondern vielmehr das soziale Gegenstück zu einem heftigen Erdbeben oder Vulkanausbruch ist.
Wenn aber ein wünschenswerter sozialer Umgang als natürliches Produkt der menschlichen Natur angesehen wird, scheint es zweifelhaft, unerwünschtes Verhalten nicht ebenfalls als eine perverse Spielart der menschlichen Natur zu betrachten. Empirisch gesehen lehrt uns die Geschichte der Menschheit, dass unsere Fähigkeit zu Hass und Gewalt ebenso natürlich ist wie unsere Veranlagung zu Freundschaft und Zusammenhalt. Eine authentische Erklärung dessen, was in Bosnien geschehen ist – oder wenigstens, wie es möglich sein kann, dass so etwas geschieht –, darf sich nicht damit begnügen, auf Wahnsinn und das Böse zu verweisen. Schließlich war die Tragödie in Bosnien in der Geschichte der Menschheit nicht die einzige ihrer Art. Viele solcher Katastrophen – in Ruanda 1994, in Armenien 1915 oder in Nazi-Deutschland – waren das Gemeinschaftsprodukt von Millionen gewöhnlicher Menschen, von denen die meisten im Anschluss an diese Gräuel ihr normales Leben wieder aufnahmen. Der österreichische Ökonom Friedrich von Hayek schrieb während des Zweiten Weltkriegs: »Die größte Tragödie aber wird noch nicht erkannt, nämlich dass es in Deutschland zum großen Teil Menschen guten Willens waren, die bewundert wurden und als Vorbild für das ganze Land dienten, und die den Weg bereiteten, für die Kräfte und Mächte – um nicht zu sagen, dass sie diese erschaffen haben –, die nun für alles stehen, was nun verachtet wird.«2
In diesem Kapitel soll mithilfe des simplen Bildes vom sozialen Atom eine natürliche Erklärung von Rassenhass und Massenmord |166|vorgestellt werden. Im vorherigen Abschnitt dieses Buches haben wir zwar erfahren, dass die große Bereitschaft zu altruistischem Verhalten – die Tendenz zu starker Reziprozität – für Kooperation und Gemeinschaftssinn eine wichtige Rolle zu spielen scheint. Aufgrund ihrer Fähigkeit zur Zusammenarbeit konnten unsere Vorfahren Ernten auch unter schwierigen Bedingungen einfahren. Sie konnten sich gegen Feinde verteidigen oder aber – wie man vermuten kann – ihre Nachbarn bekriegen und niedermetzeln, um sich deren Land und Ressourcen anzueignen. In dieser Hinsicht entwickelte sich der Altruismus des Einzelnen paradoxerweise aus dem Gruppenzusammenhalt. Er lässt sich nicht als Verhaltensweise erklären, die dem Individuum Vorteile verschafft. Stattdessen scheint altruistisches Verhalten das Bindemittel der sozialen Kohäsion zu sein, das sich aus dem tumultreichen Überlebenskampf frühzeitlicher Gruppen entwickelte. Dies impliziert, dass die individuelle menschliche Natur die Spuren unserer kollektiven Geschichte in sich birgt.
Doch hinter Kooperation und Gruppensinn steckt weitaus mehr als eine starke Reziprozität oder die dem reziprokem Altruismus zugrunde liegende Logik von »Wenn du mir hilfst, helfe ich dir auch«. Die offensichtlichste Gemeinsamkeit jeder beliebigen Gruppe ist, dass sie sich über etwas definiert. Alle Mitglieder haben etwas gemein, ob nun ihre Nationalität, ihre Hautfarbe, ihren Kleidungsstil, ihr Alter, ihren Wohnort, ihren Dialekt – oder eine irgendwie geartete Gegnerschaft einer anderen Gruppe gegenüber. Ihre Mitglieder verfügen über ein charakteristisches Merkmal, die Außenstehenden nicht. Leider wirken diese Abgrenzungsmerkmale stark auf psychologischer Ebene, weshalb sie vielen Menschen Anlass genug sind, andere aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ihres Kleidungsstils zu diskriminieren. Es wird selten gefragt, woher die Fähigkeit und Bereitschaft zur Diskriminierung eigentlich stammt oder weshalb viele Menschen andere, denen sie noch nie zuvor in ihrem Leben begegnet sind und über die sie nichts wissen, schon beim geringsten Anlass hassen |167|können. Wie wir noch sehen werden, liegt die Antwort darauf nicht gerade auf der Hand und lässt sich weder durch die genaue Beobachtung unserer Mitmenschen noch durch das Studium der Geschichte des Rassismus und Nationalismus finden. Doch möglicherweise hilft uns an dieser Stelle die Sozialphysik weiter.
Gewalttätiger, nationalistischer, rassistischer oder kultureller Hass entspringt einem sozialen Paradoxon: Es sind identische Kräfte, die uns entweder vereinen oder entzweien. So unglaublich es auch klingen mag, sogar blinde Vorurteile können zusammenschweißen, wie das folgende Beispiel veranschaulicht.
Das Elend mit der Gruppe
Im Sommer 1954 fuhren der Sozialpsychologe Muzafer Sherif und seine Kollegen von der University Oklahoma zusammen mit 22 ganz normalen Jungen im Alter von ungefähr zwölf Jahren in ein etwa 80 Hektar großes Pfadfinderlager im Robbers Cave State Park, Oklahoma. Die Forscher teilten die Jungen in zwei Gruppen ein, wobei sie explizit darauf achteten, dass sie sich hinsichtlich der körperlichen, mentalen und sozialen Fähigkeiten nicht unterschieden. Mithilfe dieses Experiments sollten zwei Dinge untersucht werden: Erstens, reicht es aus, eine Gruppe zu bilden, die ein gemeinsames Ziel erreichen soll, damit eine Hierarchie entsteht und deren Mitgliedern individuelle Rollen zugewiesen werden? Zweitens, führt der Wettbewerb zwischen den beiden Gruppen zu Loyalität und einer starken Identifizierung mit den jeweils eigenen Gemeinschaften, obwohl diese willkürlich gebildet wurden?
In den ersten Tagen waren die beiden Gruppen voneinander getrennt, und die Wissenschaftler führten Übungen zur Teambildung durch, in denen sich manche der Jungen als Anführer profilierten und andere zu Mitläufern wurden. Jede Gruppe hatte sich einen Namen gegeben, die Eagles und die Rattles (die Adler und die Klapperschlangen). Einige Tage später protzen bereits beide |168|Teams mit ihren Taten und machten sich über den traurigen Haufen an Jammergestalten in der anderen Gruppe lustig – und das, obwohl sie einander bislang noch nicht einmal begegnet waren. Die Stimmung wurde noch feindseliger, als die Forscher einen Wettkampf ankündigten. Die Rattles besetzten das Baseballfeld, brachten ihre Fahne an dem Netz hinter dem Fänger an und drohten damit, jeden Eagle zu verprügeln, der es wagen würde, auch nur einen Fuß auf das Spielfeld zu setzen. Als die beiden Mannschaften sich schließlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, beleidigten und verspotteten sie sich gegenseitig, so als wären sie schon immer erbitterte Feinde gewesen. Diese Fehde eskalierte in den darauf folgenden Tagen, als beide Gruppen versuchten, die Fahne ihres jeweiligen Gegners zu verbrennen.
Dieser Versuch Sherifs und seiner Kollegen weist die schlichte Eleganz eines physikalischen Experiments auf.3 Man bilde zwei Gruppen aus Elementarteilchen, lasse sie miteinander reagieren und schaue zu, was passiert. Wenn die Atome jedoch keine Atome, sondern Menschen sind – oder vielmehr zwölfjährige amerikanische Jungen – passiert zweierlei: eine starke Affinität der Einzelnen zu ihrem Team und Feindseligkeit gegenüber Außenstehenden. Natürlich gibt es solche »kollektiven« Vorurteile nicht nur bei Zwölfjährigen.
Die wenigen Stammesgemeinschaften auf unserer Erde, die fernab der sogenannten menschlichen Zivilisation noch immer unter Bedingungen leben, wie sie vor Hunderttausenden von Jahren geherrscht haben, begegnen allen Fremden auch heute noch extrem intolerant. Am 27. Januar 2005 landeten zwei unglückselige indische Fischer, die offenkundig zu sehr dem Palmwein zugesprochen hatten, am Strand der westlichsten Insel der Andamanen, North Sentinel Island, in der Bucht von Bengal. Kurze Zeit später wurden sie von den nur mit einem Lendenschurz bekleideten Kriegern der Sentinelesen, die diese Insel bewohnen, ergriffen und in Stücke gehackt. Die jungen Krieger warfen Speere und schossen Giftpfeile auf einen Helikopter der indischen Küstenwache, |169|dessen Mannschaft ohne Erfolg versuchte, die Leichen zu bergen. Solch blinde Feindschaft gegenüber Fremden hat in unserer modernen Welt sicherlich nichts mehr verloren, gleichwohl hat er den Sentinelesen ebenso wie unseren Vorfahren in der Vergangenheit gute Dienste geleistet.
Der stumpfe und oft tödlich endende Hass zwischen den berüchtigten Gangs von South Central Los Angeles, den Bloods und den Crips, die sich schon seit drei Jahrzehnten bekriegen, unterscheidet sich davon nicht sonderlich. Traditionsgemäß tragen die Bloods rote, und die Crips blaue Kleidung. Beide Gangs haben eine lange und komplexe Geschichte, und ihr Konflikt beruht zum Teil auf der gegenseitigen Rivalität im Drogenhandel und anderen kriminellen Aktivitäten. Die extreme Feindseligkeit dieses Zwistes wird jedoch eindeutig durch die tief verwurzelten Instinkte geschürt, die mit der Gangzugehörigkeit einhergehen. Obwohl die Kids beider Gangs unter ähnlichen Umständen aufwachsen und mit denselben Problemen kämpfen. Vermutlich würde sich die eine oder andere Freundschaft entwickeln, wenn es da nicht die Zugehörigkeit zu den verfeindeten Gangs gäbe. In einem Interview (ich weiß allerdings nicht mehr, wo ich es gelesen habe), begeisterten sich die jugendlichen Bandenmitglieder sogar über den Mut und die Tapferkeit ihrer Feinde. »Wir haben großen Respekt vor den Jungs«, sagte einer von ihnen, »sie sind echt hart im Nehmen.« Umbringen würde er die anderen natürlich trotzdem bei der erstbesten Gelegenheit – weil sie einer anderen Gruppe angehören und andere Farben tragen.
Aufgrund unserer seit Urzeiten verankerten Voreingenommenheit allem Fremden gegenüber gibt es in modernen Gesellschaften Gesetze, Institutionen und soziale Normen, die allesamt dazu dienen, ihre verabscheuenswürdigsten Auswüchse in Grenzen zu halten. Und doch zeigen sich ihre Folgen ganz offensichtlich in unverhohlenem Rassismus und Nationalismus, in anderen Dingen weniger augenscheinlich. Ein typisches soziales Phänomen ist die extreme Loyalität zur eigenen Gruppe und das Bedürfnis|170|, sich um den Anführer zu scharen, sobald eine Krisensituation entsteht. Am 10. September 2001 lag die Beliebtheit von George W. Bush Umfragen zufolge in einem Rekordtief. Einen so niedrigen Wert hatte kaum ein Präsident vor ihm in der ersten Amtsperiode hinnehmen müssen. Nur Gerald Ford wurde in den Tagen und Wochen nach der Begnadigung Nixons mit ähnlich schlechten Umfrageergebnissen abgestraft. Doch bereits kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erreichten Bushs Zustimmungsraten ungeahnte Ausmaße: Rund 90 Prozent der Amerikaner vertraten auf einmal die Ansicht, er leiste gute Arbeit. Seine Anhänger interpretierten diese Zahlen nur allzu bereitwillig als Zeichen seiner Führungsstärke, doch im Grunde war es nichts anderes als ein Muster, das sich wie ein roter Faden durch die amerikanische Geschichte zieht: Bei nationalen Krisen erlebte bisher noch jeder US-amerikanische Präsident einen unerhörten Aufschwung in der Beliebtheitsskala. In solchen Zeiten wird jeder Anführer prinzipiell als starke Persönlichkeit geachtet, ganz gleich, wie er sich verhält. Der Zusammenhalt wird stärker, ebenso wie das Misstrauen gegenüber Außenstehenden und Mitgliedern anderer Gruppen. So erließ am 2. Mai 2006 die Regierung Montanas einen höchst offiziellen Gnadenerlass für 79 US-amerikanische Staatsbürger deutscher Herkunft, die während des Ersten Weltkriegs gegen ein bundesstaatliches Gesetz verstoßen hatten. Es verbot ihnen, deutsch zu sprechen, in dieser Sprache verfasste Bücher zu lesen oder zu besitzen und »unloyale, lästerliche, gewaltverherrlichende, unflätige, geringschätzige oder beleidigende« Aussagen über die US-amerikanische Regierung oder das Sternenbanner zu machen. Einer der Verurteilten, die zu sieben bis 20 Jahren Haft im Staatsgefängnis verurteilt worden waren, hatte nichts anderes getan, als die für die Lebensmittelzuteilungen während des Krieges zuständige Behörde als »großen Witz« zu bezeichnen.4
Die Gemeinsamkeit all dieser und anderer Beispiele für blinde Gruppenergebenheit und kollektive Vorurteile ist die Inflexibilität |171|des damit verbundenen Verhaltens. Ohne über mögliche Alternativen zu reflektieren, treffen Menschen Entscheidungen und handeln danach, als ob sie für immer und ewig in vorgegebenen gedanklichen Bahnen festgefahren wären. In diesem Fall wird der Mensch wieder zu einem primitiven, frühzeitlichen Geschöpf, für das nur gilt: Wir oder sie, Eagles oder Rattles. Die instinktive Identifikation mit der eigenen Gruppe beeinflusst unser Leben natürlich auch auf Ebenen, die weit weniger dramatisch sind als Rassenhass oder Bandenkriege. Im Vorfeld der Präsidentenwahl von 2004, zum Beispiel. Als sich die beiden Kandidaten George W. Bush und John F. Kerry um die Gunst der Wähler bemühten, hatten Forscher unter der Leitung des Psychologen Drew Westen der Emory University sowohl vehemente Anhänger der Republikaner als auch der Demokraten gebeten, sich Wahlsprüche und Zitate anzusehen, in denen sich Bush und Kerry ganz offensichtlich selbst widersprachen. Während die Probanden versuchten, die Widersprüche zu erklären, zeichneten Westen und seine Kollegen die Gehirnaktivität auf. In dem Bereich, der für das logische Denken zuständig ist, fand keine gesteigerte Aktivität statt. In den Bereichen dagegen, die für Emotionen und Konfliktlösung zuständig sind, war eine hohe Geschäftigkeit zu beobachten. Westen zog daraus den Schluss: »Keiner der Gehirnbereiche, die für bewusste Denkvorgänge zuständig sind, war besonders aktiv. ... Unsere Untersuchung legt vielmehr nahe, dass die politischen Eiferer ihr kognitives Kaleidoskop so lange schütteln, bis sie zu der erwünschten Erklärung gelangten.« Es scheint eine verbreitete Taktik zu sein, die Realität durch einen emotionalen Filter zu betrachten, um die Gruppe, zu der man sich zugehörig fühlt, zu schützen und zu unterstützen.
Woher kommt dieses instinktive Bedürfnis? Primitives Verhalten erfüllt wahrscheinlich einen ebenso primitiven Zweck, was uns nicht weiter überraschen sollte. Und genau das scheint auch der Fall zu sein – der Grund wird über ein Computermodell ersichtlich.
|172|Die erbarmungslose Logik des Vorurteils
Über die Ursachen und Folgen von Rassismus und Nationalismus könnte man zahlreiche Bücher schreiben; und natürlich gibt es schon viele zu diesem Thema. Doch um die Ursache dieses weltweit verbreiteten Phänomens zu begreifen, sollten die Details zunächst ignoriert und stattdessen nach einem einfachen, grundlegenden Prozess gefahndet werden. Auf diese Weise kann die reale Welt vernachlässigt und eine stark vereinfachte untersucht werden, wie es Thomas Schelling mit seinen Münzen tat.
Stellen wir uns also eine Welt vor, in der sich die Menschen regelmäßig treffen, um Waren zu tauschen, Geschäfte abzuschließen und so weiter. Außerdem gehen wir davon aus, dass für jede Begegnung dieselbe Bedingung gilt, mit der die beiden Bauern in ihrem Erntedilemma konfrontiert waren: Beide können von der gegenseitigen Hilfe profitieren, zugleich aber besteht der Anreiz, den anderen über den Tisch zu ziehen. Wenn die Menschen lernten, miteinander zu kooperieren, hätte jeder etwas davon – aber das ist leichter gesagt als getan. Denn wer sich bemüht, anderen zu helfen, riskiert, betrogen zu werden. Damit das Dilemma für unsere virtuellen Menschen etwas verzwickter und unsere Modell-Welt zugleich weiter vereinfacht wird, nehmen wir zudem an, dass die Population so groß ist, dass sich zwei Menschen garantiert kein zweites Mal begegnen. Sie brauchen sich nicht zu merken, wie sich jemand in der Vergangenheit verhalten hat.
Keine Frage, diese Versuchsanordnung entspricht in keiner Weise der Realität. Im echten Leben unterscheiden sich die Menschen deutlich in ihrer Persönlichkeit, ihrem Charakter, ihrer Intelligenz, ihren Fähigkeiten und Erfahrungen. Wir versuchen daher, andere aufgrund ihrer typischen Eigenschaften einzuschätzen, um für uns zu entscheiden, wem wir vertrauen können. In unserem Modell aber spielen wir in Gedanken durch, was geschieht, wenn nichts davon möglich ist. Ganz klar, dass in einem so genau umrissenen Umfeld, in dem Informationen über Mitmenschen |173|so spärlich wie Regentropfen in der Wüste sind, nicht viel Handlungsspielraum vorhanden ist. Entweder betrügt man immer, oder man kooperiert immer, oder man verfährt ganz nach Lust und Laune einmal so und einmal so. Es ist sinnlos, sich für eine beliebige Person eine Taktik zu überlegen, weil über niemanden irgendetwas bekannt ist. Unser Gedankenspiel lässt vermuten, dass das soziale Chaos droht und vertrauensvolle Beziehungen unmöglich sind, wenn Menschen außer einer mehr oder weniger identischen äußeren Hülle über keine Persönlichkeit verfügen und nicht auf ihren Erfahrungsschatz zurückgreifen können.
Durch eine winzige Veränderung wird dieses Gedankenspiel noch interessanter: Verleihen wir unseren virtuellen Menschen etwas Farbe – rot, blau, grün und gelb. Die Unterschiede sind rein zufällig und vollkommen bedeutungslos. Stellen Sie sich einfach vor, jeder würde unmittelbar nach seiner Geburt angemalt. Rote Menschen sind nicht kooperativer als blaue, grüne sind keine geborenen Betrüger und so weiter. Obwohl also die Farbe tatsächlich völlig egal ist, heißt das noch lange nicht, dass alle Menschen glauben, sie mache keinen Unterschied. Nachdem ein Gelber mit 15 verschiedenfarbigen Personen zu tun hatte, bildet er sich womöglich ein, dass die anderen Gelben viel kooperativer sind als die Blauen, Roten und Grünen, die ziemlich oft betrügen. Natürlich ist das zufallsbedingt, doch unser Gelber wird trotzdem in Zukunft lieber mit denen zusammenarbeiten wollen, die ebenfalls in seiner Farbe angemalt sind. Andererseits wäre es ebenso möglich, dass ein Blauer dreimal von anderen Blauen über den Tisch gezogen worden sein könnte, während seine Arbeit mit Roten und Grünen ein voller Erfolg war. So beschließt er, künftig nur noch mit Andersfarbigen zu kooperieren, aber niemals mehr mit weiteren Blauen.
All diese Menschen wären in höchstem Maße darüber verblüfft, wie wichtig die Farbe plötzlich ist, obwohl sie doch im Grunde gar keine Rolle spielt. Schon oft hat sich gezeigt, dass wichtige Muster offenbar aus dem Nichts entstehen, und das scheint auch hier der |174|Fall zu sein, wie die Politikwissenschaftler Robert Axelrod und Ross Hammond vor einigen Jahren herausgefunden haben. Sie kamen zu dem Schluss, dass das »Farbenbewusstsein« in diesem Modell dazu führt, dass sich jeder virtuelle Agent eine von vier Handlungsstrategien aneignet: 1) Mit jedem kooperieren, 2) mit niemandem kooperieren, 3) immer nur mit Gleichfarbigen kooperieren oder 4) immer nur mit Andersfarbigen kooperieren.5 Die Forscher stellten sich dann eine einfache Frage: Wird sich mit der Zeit eine der vier Strategien als die beste herausstellen? Anders ausgedrückt: Kann eine Person aufgrund einer bestimmten Vorgehensweise die Interaktion mit ihren Mitmenschen verbessern?
Um diese Frage zu lösen, entwickelten Axelrod und Hammond ein einfaches Computermodell dieser künstlichen Welt. Sie bevölkerten sie mit »Menschen«, die zufällig und paarweise miteinander interagieren konnten, wobei natürlich galt, dass diese sich umso wahrscheinlicher wechselseitig beeinflussen, je näher sie zusammenleben. Auch virtuelle Menschen sterben oder ziehen um. Am Anfang gab es von jeder Farbe gleich viele Personen, und auch die vier Strategien wurden in gleicher Anzahl zufallsbedingt unters Volk gebracht. Außerdem fügten die Forscher noch eine neue Fähigkeit in das Spiel ein: Die Menschen der virtuellen Welt waren – ebenso wie in der realen – in der Lage, aus dem Erfolg ihrer Mitmenschen zu lernen.6 Stellte also ein Gelber fest, dass jemand mit Strategie eins besser fuhr als diejenigen, die sich für Strategie zwei entschieden haben, konnte er, wie im richtigen Leben, die Erfolgsstrategie Nummer eins übernehmen. Und dann ließen Axelrod und Hammond ihren Computer rechnen.
In einer Reihe von Experimenten überließen sie die virtuelle Welt so lange sich selbst, bis jeder mindestens 1 000 Begegnungen mit anderen hatte. Dann stoppten die Forscher die Berechnungen, und sahen nach, was passiert war. Das Ergebnis war stets dasselbe: Strategie drei (immer nur mit Gleichfarbigen kooperieren) hatte sich in der Population durchgesetzt. Die Simulation zeigte, dass sich etwa drei Viertel aller virtuellen Agenten für die »Vorurteilsstrategie|175|« entschieden. Nur weshalb? Nun, die Antwort ist so einfach wie tiefgründig.
Axelrod und Hammond stellten fest, dass sich im Chaos der Zufallsbegegnungen eine natürliche Abgrenzung nach Farben vollzieht – früher oder später kristallisierten sich rote, blaue, grüne oder gelbe Hochburgen heraus. Der Erfolg der Vorurteilsstrategie trieb diese Ausgrenzung wie ein sich selbst verstärkendes System voran. Irgendwann bildete sich rein zufällig immer eine kleine Gruppe gleichfarbiger Menschen mit ähnlicher Befangenheit, deren Interaktionen sehr erfolgreich verliefen – sie kooperierten grundsätzlich miteinander. Die in der Nähe angesiedelten virtuellen Menschen, die eine andere Farbe besitzen oder eine vorurteilsfreie Strategie verfolgten, schnitten weniger gut ab, da sie kaum Unterstützung aus der skeptischen Nachbarschaft erhielten und ihre Kooperationsbereitschaft nicht erwidert wurde. Folglich wurde erkannt – und gelernt – dass sich die voreingenommenen Agenten erfolgreicher entwickelten als die neutralen. Dieser Lernprozess führte dazu, dass es schließlich immer mehr Menschen mit Vorurteilen gab. Was allerdings wirklich überraschte, war, dass die Kooperation in dieser Welt mit der Zeit insgesamt zunahm, obwohl die Anzahl intoleranter Menschen stetig wuchs. Je größer die homogene Gruppe wurde, umso mehr Menschen lebten in einer Gemeinde mit Ihresgleichen zusammen und teilten quasi Farbe und Vorurteil (abgesehen von den Bewohnern der Grenzgebiete zwischen zwei Farben). Bei nahezu allen Begegnungen kam es zur Zusammenarbeit. Durch die Abgrenzung in »Farbghettos« hatten Andersfarbige nur selten Kontakt miteinander. Die Ressentiments verbreiteten sich also in dieser einfachen Simulation, weil die virtuellen Menschen Erfolg damit hatten.7
Rein logisch betrachtet, kann Diskriminierung auf der Grundlage bedeutungsloser Differenzen also ein wirkungsvoller Mechanismus sein, um Kooperation zu erzeugen. Abgrenzungsmerkmale verleihen einer ansonsten strukturlosen sozialen Realität eine Form und erleichtern es den Menschen, durch diese Art der |176|»Stammeszugehörigkeit« bessere Entscheidungen zu treffen. Das wirklich Absurde daran ist, dass die anfangs belanglosen Differenzierungen im Laufe der Zeit an Bedeutung gewinnen. Selbst eine aufgeschlossene rote Person, der durchaus bewusst ist, dass jeder Mensch bei seiner Geburt willkürlich in einen Farbtopf getaucht wird, sich sonst aber durch nichts von anderen unterscheidet, muss den Anstrich ihrer Mitmenschen beachten. Denn außer den anderen Roten wird sich kaum ein blauer, grüner oder gelber Mensch kooperativ verhalten. In einer Welt der Bigotterie überleben eben nur die Bigotten.
Mit der Beschreibung von Hammonds und Axelrods Arbeit möchte ich nun jedoch keineswegs den Eindruck erwecken, es handle sich hierbei um die einzig mögliche Erklärung von Ethnozentrismus. Die Anthropologen Peter Richersen und Robert Boyd von der University of California in Los Angeles beispielsweise haben eine überzeugende Alternative erarbeitet, bei der soziale Normen in etwa die Funktion der Farbgebung bei Axelrod und Hammond übernehmen. Im Großen und Ganzen bleibt das Ergebnis aber dasselbe: Vorurteile – so hässlich und schädlich sie auch sein mögen – können vermutlich als Teil natürlicher Verhaltensmuster erklärt werden, die unsere Vorfahren im Zuge der Anpassung an ihre Umwelt entwickelt haben. Richersen und Boyd führen ins Feld, dass Menschen, die nach gemeinsamen sozialen Normen leben, im Allgemeinen positive Erfahrungen bei der Interaktion miteinander sammeln, da sie die gleichen Erwartungen an das in einer bestimmten Situation angebrachte Verhalten haben. Richersen und Boyd ziehen den Schluss, dass die Tatsache, dass Ethnizität überhaupt existiert – das Entstehen fester Gruppen, die sich über bestimmte Regeln bezüglich Kleidung, Sprache, Sexualverhalten und so weiter definieren – sich letztlich auf den Vorteil zurückführen lässt, dass dadurch ein koordiniertes Vorgehen überhaupt erst möglich und die Kooperation insgesamt erhöht wird.8
Ohne moderne Computertechnik wäre dieser seltsame Aussortierungsprozess wohl niemals entdeckt worden. Keiner der großen |177|Sozialtheoretiker oder Philosophen wie Karl Marx oder Èmile Durkheim ist je auf diese Logik gestoßen, da die komplizierte Verkettung von Ursache und Wirkung die menschliche Vorstellungskraft sprengt. Doch wie bereits gesagt: Man darf nicht vergessen, dass diese farbenfrohe Computersimulation weit entfernt davon ist, die wirkliche Welt realistisch abzubilden. Um die richtigen Schlüsse ziehen zu können, müssen wir uns noch etwas intensiver damit auseinandersetzen.
Die ethnozentrische Falle
Axelrods und Hammonds »Farbenspiel« lehrt uns zwei bemerkenswerte Dinge: Erstens, wenn Menschen in einem primitiven Umfeld nur wenige Strategien zur Verfügung stehen, um von der Interaktion mit anderen zu profitieren, sind Vorurteile von Vorteil. Voreingenommenheit – oder besser Ethnozentrismus – mag zwar hässlich sein, ist aber auf der untersten Ebene menschlicher Interaktion höchst effektiv. Zweitens, das Entstehen und die Verbreitung ethnozentrischen Verhaltens in weiten Kreisen der Bevölkerung führen überraschenderweise zu einer kooperativeren Welt. Der Grund dafür ist, dass der Ethnozentrismus von einer spontanen Gruppenbildung nach Farben begleitet wird, weshalb die Agenten in dem vorgestellten Modell meist nur mit Gleichfarbigen interagieren. Wenn wir nun »Farbe« durch »Religion«, »Nationalität« oder »Sprache« ersetzen, stellen wir fest, dass auch in der realen Welt vergleichbare Dinge geschehen.
Doch all dies ist ausgesprochen abstrakt. Um diese Erkenntnis richtig auslegen zu können, müssen wir uns nun eingehend damit auseinandersetzen, was sie in Bezug auf die reale Welt aussagen kann. Schauen Sie sich einfach mal in Ihrem Umfeld um. Sie haben hoffentlich nicht das ausgesprochene Pech, in Darfur im Westsudan aufgewachsen zu sein, wo die arabischen Milizen der Janjaweed gnadenlos und systematisch alle Nicht-Araber aus |178|der Region vertreiben. Vermutlich haben Sie auch die ethnischen »Säuberungsaktionen« im ehemaligen Jugoslawien oder ähnliche Terrorakte in den Krisenregionen unserer Welt nicht am eigenen Leib erfahren müssen. Der Durchschnittsmensch macht kaum die Art von radikal ethnozentrischen Erfahrungen, welche die Simulation von Axelrod und Hammond auszeichnen. In den meisten Ländern leben Menschen unterschiedlicher Religion, Kultur und Sprache glücklicherweise friedlich zusammen, machen miteinander Geschäfte, schließen Freundschaften und verbringen zusammen ihre Freizeit. In Metropolen wie New York oder London, Mumbai oder Mexico City leben Menschen unterschiedlicher Kulturkreise im selben Stadtviertel und kooperieren täglich miteinander. Auch im ehemaligen Jugoslawien lebten Kroaten, Serben und Muslime friedlich über Jahre hinweg als multikulturelle Gemeinschaft den Traum ihres kommunistischen Anführers Marschall Tito. Der Ethnozentrismus in Reinform weist mit diesen Verhältnissen natürlich keinerlei Ähnlichkeit auf. Das kann er auch nicht, wie wir gleich sehen werden.
In den meisten Gesellschaften interagieren die Menschen – anders als in der Welt von Axelrod und Hammond – als Individuen und nicht als Repräsentanten einer Hautfarbe, Kultur oder anderweitig klar definierten Gruppe. Die Interaktionen sind nicht einmalig, sondern wiederholen sich ständig und führen dadurch zu einem selbstverständlichen und vertrauensvollen Umgang, der den verhängnisvollen Kräften vorurteilsbehafteter Ausgrenzungsmerkmale entgegenwirkt. Durch die Mechanismen der positiven sozialen Interaktion – wiederholte Kontakte mit anderen Gruppen, starke Institutionen und effiziente soziale Normen – wird dem Ethnozentrismus ein Riegel vorgeschoben. Das Farbenspiel jedoch zeigte, was passieren kann oder wird, wenn Menschen sich dazu gezwungen sehen, Entscheidungen ausschließlich auf der Grundlage simpler und oberflächlicher Ausgrenzungsmerkmale zu fällen. Unter solchen Bedingungen handeln sie voller blinder Vorurteile, da sie davon am meisten profitieren. Das heißt, das |179|Farbenspiel bildet die reale Welt also nur ab, wenn Menschen ihrer Individualität beraubt und durch Terror, Zwang, Gehirnwäsche und dergleichen dazu gezwungen werden, andere nicht mehr als ihresgleichen wahrzunehmen und zu respektieren. Man nehme den Menschen die normalen Möglichkeiten, miteinander zu interagieren und Vertrauen aufzubauen, und schon hat man, laut dem Farbenspiel, das beste Rezept für einen gefährlichen Ethnozentrismus-Cocktail. Dieser ist kein Produkt menschlicher Perversität; er entsteht durch etwas, das zum normalen Verhaltensspektrum gehört. Die Tendenz zu ethnischer Abgrenzung ist ebenso wie Rassensegregation ein universell zu beobachtender Vorgang, es sei denn, andere Kräfte wirken ihr entgegen.
Die virtuelle Welt mit ihrer bunt angemalten Bevölkerung legt also den Schluss nahe, dass ethnisch begründete Hass- und Gewaltausbrüche eine Art Rückfall in eine weitaus barbarischere Form des menschlichen Zusammenlebens darstellen. Dieser Prozess lässt sich jedoch nicht begreifen, indem man die daran beteiligten Individuen oder ihren jeweiligen kulturellen Hintergrund analysiert, da beides für sich genommen nichts mit Barbarei zu tun hat. Auch hier gilt wieder, auf Muster, und nicht auf Menschen zu achten. Wenn zum Beispiel plötzlich alle Systeme der Energieversorgung zerstört wären, würden wir uns wohl ein Feuer schüren und dicht zusammenrücken. Wenn stark ausgeprägter ethnischer Hass auftritt, der schließlich in Gewaltausbrüchen gipfelt, ist davon auszugehen, dass zuvor genau jene gesellschaftlichen Mechanismen zusammengebrochen sein müssen, die unter normalen Bedingungen dafür sorgen, dass Menschen dank geregelter Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und so weiter ungeachtet aller ethnologischen Unterschiede soziale Bande knüpfen und pflegen. Im Chaos einer zusammenbrechenden Wirtschaft, inmitten eines Bürgerkriegs oder politischer Unruhen fällt das ganze Universum der bewährten Interaktionsmöglichkeiten zusammen wie ein Kartenhaus, und die Menschen greifen auf primitivere Mechanismen zurück, um für sich entscheiden zu können, wem sie |180|noch trauen und wie sie überleben können. Sämtliche vernünftige Überlegungen, mit denen im Normalfall Charakter und Vertrauenswürdigkeit der Mitmenschen beurteilt werden, werden über Bord geworfen und durch weitaus oberflächlichere Kriterien ersetzt. Von Außenseitern und Fremden, Angehörigen einer anderen Volksgruppe, scheint plötzlich eine Gefahr auszugehen.
Im ehemaligen Jugoslawien begann der Krieg in der abtrünnigen Republik Slowenien und weitete sich dann auf Kroatien und später auch auf Bosnien aus. Der wirtschaftliche Abschwung hatte zu dieser Zeit schon begonnen, zumal das Land 50 Jahre lang stark von der ehemaligen Sowjetunion abhängig gewesen war. Als militarisierter Satellitenstaat war es dem ehemaligen Jugoslawien nicht gelungen, selbst eine gesunde ökonomische Infrastruktur aufzubauen. Mit dem plötzlichen Untergang der Sowjetunion 1987 brach auch das normale Gesellschaftsgefüge zusammen, wodurch ein Raum für archaische Kräfte eröffnet wurde. In diesem speziellen Fall waren die Grundzutaten, die geeigneten Merkmale für eine ethnozentrische Abgrenzung, bereits vorhanden, nur war das seit Jahrhunderten bestehende ethnische Misstrauen aufgrund der sowjetischen Kontrolle nicht ausgelebt worden. Doch ethnisch begründeter Hass und Misstrauen müssen nicht zwangsläufig zu Plünderungen und Gewalt führen. Lebensumstände in sozialer Armut reichen nicht aus, um ethnischen »Säuberungen« Vorschub zu leisten. Unabhängig davon, wo Völkermord stattfindet, ist immer ein weiteres gemeinsames Element vorhanden: die gezielte Taktik eines politischen Anführers oder einer Partei, die Dynamik ethnisch begründeten Hasses für die eigenen Zwecke einzusetzen, was weit über das hinausgeht, was Axelrod und Hammond mit ihrem Farbenspiel abbilden können. Der US-amerikanische Historiker Henry Brooks Adams hat einmal geschrieben, dass es in der Politik »ganz gleich, was sie auch verkünden mag, in der Praxis immer auf die systematische Organisation von Hass hinausläuft«. Das mag vielleicht ein wenig zu weit gehen, spricht aber nichtsdestotrotz einen wichtigen Punkt |181|an: Es gibt Menschen, deren Macht so gewaltig ist, dass sie den Verlauf der Geschichte beeinflussen können. Nicht, weil sie tatsächlich so einflussreich, intelligent oder charismatisch wären, sondern weil sie soziale Muster mit großem Erfolg für ihre Zwecke manipulieren können.
Von wahnsinnigen Tyrannen und sozialen Kräften
Historiker und Geschichtsphilosophen debattieren schon lange darüber, ob mächtige Individuen der Geschichte tatsächlich ihren Willen aufzwingen können, oder ob sie nicht doch von »sozialen Kräften« geschrieben wird, die nicht individueller, sondern kollektiver Art sind. Wird eine Nation von rücksichtslosen und machthungrigen Anführern in einen mörderischen Krieg getrieben oder durch tiefer wirkende Kräfte, die wesentlich stärker sind als es ein Einzelner jemals zu sein vermag? Für die Mehrheit der Historiker bestand Geschichte lange Zeit aus den »Biografien großer Männer«. In jüngerer Zeit gingen sie nach und nach dazu über, nicht einzelne Personen, sondern ökonomische, demografische und kulturelle Einflüsse als die treibenden Kräfte zu verstehen. Welche der beiden Sichtweisen ist richtig? Keine von beiden ist von der Hand zu weisen.
Als sich Jugoslawien aufspaltete und seine multiethnische Kultur am empfänglichsten für das entzweiende Gedankengut war, goss Milosevic mit seiner Verteufelungspropaganda gegen alle Nicht-Serben genau zum »richtigen« Zeitpunkt Öl ins Feuer. Mit dem Mythos vom leidenden und unterdrückten serbischen Volk gelang es ihm, seine Anhänger zu vereinen und um sich zu scharen. In seinen über Funk und Fernsehen verbreiteten Ansprachen stellte er die Kroaten als wieder erstarkende Faschisten dar, die seit dem Zweiten Weltkrieg auf eine neue Chance lauerten. Die bosnischen Muslime denunzierte er als blutrünstige ottomanische Türken und die Kosovo-Albaner als ein Volk kaltblütiger Mörder|182|, welches die Serben um jeden Preis ausrotten wollte. In seinen Appellen an die serbischen Paramilitärverbände beschwor er Erinnerungen an die schmerzliche Niederlage gegen die Türken und den serbischen Kosovo-Mythos herauf, in dem Prinz Lazar die Niederlage und den Verlust seines irdischen Reichs auf dem Amselfeld bei Priština im Jahre 1389 akzeptiert und stattdessen ein »himmlisches Reich« erhält. Der tschechische Politikwissenschaftler Miroslav Hroch sagte dazu, dass Milosevic sich »des Nationalismus als Ersatz für integrierende Faktoren in einer sich auflösenden Gesellschaft bediente«.
Auch hinsichtlich der Katastrophen von Ruanda, Armenien oder Nazi-Deutschland waren es die politischen Anführer, die den Boden für die Gräueltaten bereiteten. Vor dem Massaker in Ruanda begannen die Radiosender und Tageszeitungen, die sich im Besitz einiger Hutu-treuer Beamter befanden, die Tutsi als »Untermenschen« zu bezeichnen. Die Regierung finanzierte und organisierte radikale Hutu-Verbände, die Waffen horteten und Menschen zu Killermaschinen ausbildeten. In den Kabinettssitzungen wurden Pläne für den bevorstehenden Völkermord offen debattiert. Eine Ministerin sagte, sie sei »persönlich dafür, alle Tutsi loszuwerden. ... Ohne Tutsi wäre Ruanda mit einem Schlag sämtliche Probleme los.« Als der Staatschef Ruandas, Juvénal Hayarimana, und sein Amtskollege aus Burundi, Cyprien Ntaryamira, bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz am 6. April 1994 in Kigali ums Leben kamen, war das Schicksal von einer Million Tutsi besiegelt.9
Ohne die konzertierte und gezielte politische Taktik eines oder mehrerer Individuen endet ethnischer Hass nicht in Völkermord. Zumindest im jugoslawischen Zusammenhang scheint es zu stimmen, dass ein Mensch allein das Rad der Geschichte drehen konnte. Andererseits hat Slobodan Milosevic persönlich keinen einzigen Menschen erschossen, was ihn nicht von seiner Schuld freispricht. Doch es ist auch schwierig, eine einzelne Person dafür verantwortlich zu machen, dass Zehntausende von Menschen von |183|Zehntausenden von Einzelpersonen ermordet wurden. Das nationalsozialistische Deutschland war auch nicht allein Hitlers Werk, sondern konnte nur entstehen, weil der damalige Zeitgeist und das deutsche Volk für dessen Botschaften empfänglich waren. Geschichte wird vom Individuum und dem Kollektiv gemeinsam geschrieben. Wie das konkret funktioniert, lässt sich am besten verstehen, wenn man in Mustern denkt – und sich auch hier bei der Physik bedient.
Sicherlich besteht die soziale Welt aus einzelnen Menschen, und sie sind es, die Entscheidungen treffen und entsprechend handeln. Doch die Geschichte allein über das Individuum erklären zu wollen ist, als hätte man vor, den Ozean über die Wassermoleküle zu beschreiben, ohne zu erwähnen, dass er gewaltige Wellen hervorbringen kann. Auch der zerstörerische Tsunami von 2004 in Asien bestand nur aus Molekülen, doch in ihrem kollektiven Zusammenwirken entwickelten sie immense destruktive Kräfte. Eine Welle ist nichts anderes als ein Muster, in dem unzählige atomare Teilchen so strukturiert und kanalisiert werden, dass Trägheit und Bewegung entstehen. Die Kohärenz einer Welle wirkt auf die Moleküle zurück, aus denen sie sich zusammensetzt. Durchaus vergleichbar setzt sich die menschliche Lebenswelt aus Individuen zusammen, und die sozialen Kräfte oder Muster wirken auf Tausende oder Millionen Menschen in einer Weise zurück, die ihre Entscheidungen so kanalisiert, dass sich das ursprüngliche Muster weiter verstärkt. Im Falle von Ethnozentrismus entwickelt das kollektive Muster eine starke Eigendynamik, sobald es einmal begonnen hat. Selbst die tolerantesten und vernünftigsten Menschen entwickeln Misstrauen und zeigen Gewaltbereitschaft, nachdem sie wiederholten Angriffen aus ihrer Nachbarschaft ausgesetzt waren.
Die Energie des kollektiven Musters verleiht Individuen vom Schlage eines Milosevic eine immense Macht, sobald sie sich der Logik dieses Musters bewusst sind und es für ihre ureigenen Zwecke missbrauchen. Wäre er unter anderen Umständen aufgewachsen|184|, hätte Slobodan Milosevic vielleicht nicht das Leben so vieler Menschen verändert. Doch weil er – intuitiv oder intellektuell – in der Lage war, die kollektiven Kräfte in seinem Land zu verstehen, konnte er zu einem schrecklichen Werkzeug des Bösen werden. Jeder – ob großer Staatsmann oder abscheulicher Diktator –, der gewaltige soziale Strömungen aufrührt, kann diese nur deshalb durch gezielte politische Aktionen lenken und formen, weil er sich die darin wirkenden Kräfte zunutze macht. Und diese sind weit größer als der Einfluss, den er als Einzelner jemals auszuüben vermag. Das bedeutet zugleich, dass er die Dinge nicht allein kraft seines Willens lenken kann, sondern sich den Gesetzen der Sozialphysik beugen, den gegebenen Handlungsspielraum erkennen und für sich nutzen muss.
In diesem Kontext ist auch interessant, sich Gedanken über die hierarchische Struktur unserer Gesellschaft zu machen, in der einige wenige Menschen enorme Macht besitzen. Man könnte vermuten, dass die Mächtigen der Welt ihre Position der eigenen Großartigkeit zu verdanken haben, ihrer Führungsstärke, die widerspiegelt, dass Einzelne eben doch über die Macht verfügen, das Rad der Geschichte zu drehen. Will man sich jedoch tiefergehend mit diesem Thema befassen, sollte die Frage beantwortet werden, weshalb moderne Gesellschaften überhaupt hierarchisch strukturiert sind. Von primitiven Stämmen, die sich um einen Häuptling oder »wichtigen Mann« scharen, bis hin zu zeitgenössischen Gesellschaftsformen lehrt uns die Geschichte der Menschheit, dass eine Gruppe insofern leistungsfähiger ist, als dass die Handlungen von Hunderten bis hin zu Millionen von Menschen gebündelt und koordiniert werden können. Eine hierarchische Struktur ist eine bewährte und effiziente Möglichkeit, genau dies zu erreichen, da die Anstrengungen vieler aufgrund einiger Anweisungen desjenigen, der die Führungsposition einnimmt, in die gewünschte Bahn gelenkt werden können. Es ist jedoch falsch, dieser Person eine besondere Macht zuzusprechen. Vielmehr entstammt sie der kollektiven Selbstorganisation und |185|nicht der Besonderheit oder Größe desjenigen, der sie innehat oder repräsentiert
Die Sozialphysik lehrt den Lernwilligen also folgende Lektion: Ethnischer Hass ist ein primitiver »Modus« des kollektiven menschlichen Verhaltens, das wie eine Gitarrensaite oder ein Pendel natürliche Schwingungen verursacht. Wenn die politische Taktik, ethnischen Hass systematisch zu schüren, menschlichen Neigungen und Wünschen zuwiderliefe, würde sie wirkungslos verpuffen. Politiker spielen gerne mit ethnischen Ängsten, da sie wissen, dass dieses diffuse Gefühl auf grundlegendere und unmittelbarere Weise als jedes andere motivieren kann. Unter den passenden Bedingungen kann die opportunistische Intelligenz eines machthungrigen Individuums die Handlungen von Millionen von Menschen lenken.
Die einfache Wahrheit
Es mag anmaßend erscheinen zu behaupten, etwas so Komplexes wie ethnische Auseinandersetzungen, die vom Willen und Verhalten von Millionen von Menschen abhängen, das Leben Unzähliger ruinieren und ein Extrem darstellen, könnte mit etwas so Simplem wie Axelrods und Hammonds Farbenspiel zu tun haben. Die Menschen, ihre Welt und alle in ihr existierenden Kulturen sind kompliziert und das Produkt einer langen Geschichte. Deshalb ist es vermutlich unwahrscheinlich, dass ein geradezu triviales mathematisches Modell eine ausreichende Erklärung liefern könnte. Wenn Sie ebenfalls dieser Meinung sind, teilen Sie sie mit vielen anderen Normalsterblichen, aber auch Sozialwissenschaftlern. Diese Skepsis beruht jedoch auf einem Mythos über die Wissenschaft an sich und auf einer tiefen Verständnislosigkeit gegenüber der Relevanz und Möglichkeit, höchst komplexen Dingen mittels extrem vereinfachter Modelle auf den Grund zu gehen. Allein die theoretische Möglichkeit mag vielen schon wie ein wissenschaftliches |186|Wunder anmuten. Vielleicht ist es das ja auch. Doch ohne solche Wunder gäbe es keine Wissenschaft.
Die Physik gilt als »exakte« akademische Lehre. Auch wenn ihre Vertreter und Protagonisten mit Gleichungen arbeiten und das Ziel verfolgen, diese präzise zu lösen, liegt die konzeptionelle, philosophische und praktische Stärke der Physik in der Kunst, sich den Lösungen durch geeignete Annahmen anzunähern – darin, unwichtige Details zu ignorieren und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir Physiker es uns in den meisten Fällen auch nicht erklären können, weshalb wir aus stark vereinfachten Abbildern der Realität so viel lernen können. Anscheinend meint es das Universum gut mit uns; vielleicht ist die Welt doch einfacher zu verstehen, als wir dachten.
Sie kennen sicher die Art von Magneten, mit denen man wie durch Zauberei Zettel am Kühlschrank befestigen kann. Und Sie wissen auch, dass diese Magneten genauso gut Nägel anziehen können. Wird einer davon jedoch in einem Heizofen auf 770 Grad Celsius erhitzt, geht seine Anziehungskraft verloren, die Nägel fallen zu Boden. Sobald der Magnet abkühlt, kehrt seine Kraft zurück. Physiker haben die Ursache für dieses Phänomen übrigens erst vor rund einem Jahrhundert herausgefunden, und die theoretische Erklärung wurde erst in den letzten Dekaden formuliert. Sicherlich erinnern Sie sich noch, dass wir uns in Kapitel 5 Eisenatome als winzige Magneten mit kleinen Pfeilen vorgestellt haben. Bei Raumtemperatur ziehen und zerren diese aneinander, bis sie üblicherweise in eine Richtung zeigen. In »Teamarbeit« ziehen sie Nägel an.10 Was passiert nun in dem Heizofen? Temperatur ist ein Maß für die Energie desorganisierter atomarer Bewegung. Wenn es sehr heiß ist, sorgt die natürliche Bewegung der Atome dafür, dass die Pfeile hin- und herschwanken, zugleich nach oben und unten drängen und sich kaum noch aneinander ausrichten können. Bei 770 Grad Celsius geht deshalb die magnetische Wirkung verloren – weil die Ordnung zerstört ist.
Die mathematischen Details einer sich auflösenden Ordnung |187|sind faszinierend, und moderne Theorien, die auf dem Bild von Atomen als Pfeilen basieren, liefern beeindruckend exakte Prognosen, wie dieser Übergang vor sich geht. (Die Theorie der Phasenübergänge, zu der auch oben genanntes Beispiel zählt, dient fast jedem Fachbereich der Physik als Quelle grundlegender Erkenntnisse, von der Fadentheorie bis hin zur Kosmologie.) Am erstaunlichsten – und deshalb erwähne ich es überhaut – ist jedoch, dass die Erklärung haargenau zutrifft, obwohl das physikalische Modell alles andere als ein präzises Abbild der Realität darstellt, sondern im Gegenteil in schockierendem Maß von ihr abweicht. Ein Eisenatom ist eine höchst komplizierte Sache. Sein Kern mit 26 Protonen und 30 Neutronen ist von einer Wolke aus 26 Elektronen umgeben. Die Protonen und Neutronen bestehen ihrerseits aus Quarks, die beinahe mit Lichtgeschwindigkeit kreisen. Die Elektronen interagieren auf eine Weise miteinander, die noch lange nicht vollständig geklärt ist. Ein getreues Abbild der Realität müsste all diese Fakten im Rahmen der Quantenphysik berücksichtigen. Es wäre schon außerordentlich schwierig, die exakten Gleichungen auf Papier zu bringen, sie aber auch noch zu lösen, überstiege selbst die Fähigkeiten eines mathematischen Genies.
Wie auch immer – Physiker haben gelernt, dass man die Quantenphysik ignorieren und nicht auf Neutronen und Protonen, Elektronen und Quarks eingehen muss, sondern stattdessen so tun kann, als wären Atome kleine Pfeile. Und daraus ergibt sich ein unglaublich genaues Bild darüber, wie ein Magnet funktioniert. Ein Wunder? Ja, vielleicht. Der Schlüssel zur Erkenntnis scheint aber zu sein, dass das Modell von den Pfeilen richtig darstellt, was bei einem Magneten wichtig ist. Es berücksichtigt die Tatsache, dass jedes Atom in eine bestimmte Richtung zeigt ist, und dass es eine bestimmte Kraft auf seine Nachbaratome ausübt, wodurch sich alle aneinander orientieren. Der Übergang von einem Magneten zu einem Nichtmagneten vollzieht sich vor allem, weil sich die Atome umorganisieren, und um diese Neuausrichtung darstellen |188|zu können, sind kaum Details nötig. Das heißt nicht, dass jedes beliebige, stark vereinfachte Modell alles erklären kann, sondern dass ein stark vereinfachtes Modell, das die wesentlichen Details korrekt berücksichtigt, sehr viel erklären kann.
Alle seriösen Wissenschaften machen sich dieses kleine »Wunder« zunutze – die Tatsache, dass die wichtigen Muster selten von Tausenden von Faktoren, sondern nur von einigen wenigen abhängen. Aus diesem Grund sind in der Wissenschaft keine exakten Modelle erforderlich, die versuchen, die Realität samt ihren vielschichtigen und unzähligen Details abzubilden. Ganz im Gegenteil muss in der Wissenschaft alles Unwesentliche ignoriert und jede Theorie so einfach wie möglich formuliert werden. Diese auf den ersten Blick trivial erscheinende Logik eines »Spielzeugmodells« kann mit ihrer Erklärung realer Geschehnisse sehr gut mitten ins Schwarze treffen, selbst wenn an diesen Geschehnissen Menschen beteiligt sind.