Auf dass wir klug werden

Je materieller wir uns definieren, desto größer ist die Kränkung, denn all dies hat ein Ende, nicht nur unsere Körperlichkeit, sondern auch unsere Wichtigkeiten. Das ist nicht neu, aber etwas aus dem Fokus geraten.

»Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hochkommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.«125

Man liest das anders, wenn Sie wie ich gerade siebzig geworden sind.

Und dann folgt der große Satz, den Brahms in seinem Requiem vertont hat und mit dem wir im Herbst konfrontiert werden, so wir denn Musikliebhaber sind:

»Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.«

Offensichtlich wollen wir nur ungern klug werden.

Eine Folge davon ist, dass wir es uns schwer machen, den Sterbenden ihr Leiden zu erleichtern, ihnen Trost zu spenden.

Sterben ist nicht nur die diffuse Angst vor etwas, was wir uns nicht anschauen wollen, sondern oft konkretes Leid, sehr irdischer Schmerz. Denn Sterben geschieht nur selten so, dass wir sanft »einschlafen«, sondern gerade in unserer Zeit, in der die Medizin fast alles möglich machen kann, oft durch eine letzte Krankheit, die dann doch nicht mehr behandelbar ist. Und weil wir uns mit diesem Thema so gar nicht beschäftigen wollten, wachsen rund um das Sterben die Mythen, wie der Palliativmediziner Gottschling das dargestellt hat:126

Diese furchtbaren Märchen unterschlagen, dass es bei aller Skepsis einen großen Fortschritt der heutigen Medizin gibt, dass nämlich die Palliativmedizin Leiden, Schmerzen und Qual am Ende des Lebens zu verhindern und zu minimieren vermag.

Nur – wenn Sie diese Palliativmedizin für sich nutzen wollen, müssen Sie sich klargemacht haben, dass Ihr Leben jetzt in die Phase eingetreten ist, in der das Sterben vorkommt. Manche spüren das. Aber in der Regel ist es nötig, dass Sie von den Sie bisher behandelnden Ärzten aufgeklärt werden, dass die bisherige, vielleicht sehr intensiv betriebene Behandlung Ihre Krankheit nicht mehr besiegen kann. Damit wir uns richtig verstehen: Niemand, nicht einmal der begabteste und begnadetste Mediziner, weiß, wie lange Sie noch leben werden! Prognose ist überhaupt keine Stärke der Medizin, und im Bereich der noch zu erwartenden Lebensdauer sind unsere Prognosen notorisch schlecht. Aber andererseits weiß jeder halbwegs erfahrene Körpermediziner, wenn er mit seiner Kunst am Ende ist. Sich das einzugestehen, ist allerdings nicht leicht, denn Medizin ist eben in weiten Teilen Kampf gegen Sterben und Tod. Und wahrzunehmen, und es auch zu sagen, dass dieser Kampf aller Wahrscheinlichkeit nach verloren ist, was man als Niederlage bezeichnet, ist nicht leicht und setzt eine gewisse menschliche Größe voraus.

Vor allem darf die Akzeptanz dieser Niederlage nicht in dem Fazit münden, dass die Medizin nun nichts mehr für Sie tun könne: Der Kardiologe, der Leberspezialist, der Chirurg kann vielleicht nichts mehr tun und sollte es ab einem gewissen Punkt auch nicht mehr vorschlagen, aber der Palliativmediziner kann sehr wohl. Er kann Ihnen helfen, er kann Ihre Schmerzen und Ihre Qual lindern. Wenn Sie oder die Sie betreuenden Angehörigen in diese Situation kommen, sollten Sie wissen, dass dieser Paradigmenwechsel in der Behandlung Schwerkranker nicht einfach ist. Nur wenn Sie Offenheit von den Sie behandelnden Ärzten einfordern, wenn Sie klarmachen, dass Sie auch in dieser vielleicht letzten Behandlungsphase Ihres Lebens mitreden und Verantwortung übernehmen wollen, können Sie den Medizinern die Angst nehmen, dass sie Sie in Verzweiflung stürzen, wenn sie ehrlich mit Ihnen sprechen. Klingt vielleicht wie verkehrte Welt, aber am Ende Ihrer Kunst können auch Mediziner Angst bekommen, und außerdem gibt es viele, die sich mit der Endphase ihres Lebens eben nicht auseinandersetzen wollen. Auch das muss man respektieren.

Konkret: Sie wollen keine fragwürdige Prognose, Sie wollen keine Gruselgeschichten über den weiteren Verlauf Ihrer Krankheit hören, sondern Sie wollen wissen, ob es jetzt nicht sinnvoll wäre, den Palliativmediziner in die Behandlung einzubeziehen.

Was kann der denn tun?

Eine gute und ausreichende palliativmedizinische Versorgung ist also eine wesentliche Grundlage, damit wir, Sie und ich, eine Auseinandersetzung über die Frage führen können, was Sterben für unser Leben bedeuten kann, entsprechend dem berühmten Ausspruch von Cicely Saunders, der Begründerin der modernen Palliativmedizin: »Wir werden alles tun, damit Sie nicht nur in Frieden sterben, sondern auch bis zuletzt leben können.«128 Erst auf dieser Grundlage kommen wir in die Lage, das »Sterben zu leben«, als ganz persönliche Möglichkeit der Selbstgestaltung.

Der Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse hat dazu eine grundlegende Untersuchung erstellt:129

Menschen, die an einer unheilbaren Krebserkrankung litten, die mit den Mitteln der Schulmedizin nicht mehr heilbar war, wurden von einem interdisziplinären Team gut palliativmedizinisch behandelt. Mit Schmerzmitteln wurde nachhaltige Symptomfreiheit gewährleistet, außerdem wurde durch stimulierende und aktivierende Pflege, durch Physiotherapie und Krankengymnastik sowie durch medikamentöse Behandlung ein Grad an Entlastung von körperlichen Symptomen erzielt, der es den sterbenden Frauen und Männern ermöglichte, sich bewusst auf ihr nahendes Ende einzustellen. »Dieses bewusste Sich-Einstellen auf das herannahende Ende wurde von fast allen Patientinnen und Patienten als der entscheidende Gewinn der Palliativmedizin gewertet.«

Unter diesen Bedingungen gab es unterschiedliche Reaktionen auf das bevorstehende Sterben: Verdrängung, Niedergeschlagenheit, Hoffnung. »Aber die größte Gruppe bildeten Frauen und Männer, die das herannahende Ende bewusst annahmen oder die in ihrer Situation eine Quelle der Wert- und Zielverwirklichung sahen … Sie beschäftigten sich mit der Weitergabe persönlicher Erfahrungen an Angehörige … Vermittlung von Dank … und machten den Versuch, mit jenen Menschen ›ins Reine zu kommen‹, zu denen nicht selten über Jahre ein konfliktbelastetes Verhältnis bestanden hatte.«

Kruse betont, dass die Menschen, die sich als bezogen erlebten – im Hinblick auf andere Menschen, auf ihr Werk, auf Gott, oder … auf Transzendenz, viel häufiger eine akzeptierende beziehungsweise eine wert- und zielverwirklichende Haltung im Sterben zeigten, als jene, bei denen eine solche Bezogenheit nicht erkennbar war. Sie äußerten oft, dass »Sterben nichts Schlimmes« sei, oder dass sie das »Sterben als einen Übergang« deuteten.

Neben der wertvollen Erfahrung von Kruses Studie für das individuelle Sterben jedes Einzelnen, schlägt er am Beispiel von Johann Sebastian Bach einen faszinierenden Bogen zum Thema »Kreativität im Alter« zum »Mut des Menschen, etwas Neues zu wagen«, indem er seinen eigenen Weg sucht und sich aus dem Mainstream löst. Genau das hätte Bach in seiner letzten Lebensphase getan, indem er, trotz schwerem und eben noch nicht palliativ-medizinisch gelindertem Leiden, zwei seiner größten Werke schuf: er hat die »h-moll-Messe« und die »Kunst der Fuge« vollendet, und dabei, vor allem im »Credo« der »h-moll-Messe«, völlig neue, einzigartige Wege des Komponierens gefunden.130 Wer mit Musik etwas anfangen kann, bekommt hier ganz neue Einblicke. Auch in das Leben und Sterben.