Respekt! Oder: Das Paradies ist nicht verloren!
Ja, ich habe Respekt vor Ihnen, denn Sie haben das Buch mit diesem Wort auf dem Cover in die Hand genommen: »alt«! Und jetzt blättern Sie sogar darin. Sie haben Courage! Nicht umsonst hat Joachim Fuchsberger getitelt: »Alt werden ist nichts für Feiglinge«2
Viele sind lieber feige und vermeiden die Auseinandersetzung mit ihrem Alterungsprozess ein Leben lang. Ein Leben lang? Sie sind doch jetzt gerade erst alt – pardon! – älter geworden!
Naturwissenschaftlich gesehen stimmt das nicht. Wir altern fast seit Beginn unseres Lebens. Bei der Geburt haben wir ein Überangebot an Nervenzellen. Wenn wir anfangen, mit der Umwelt zu kommunizieren, und zwar vom ersten Tag an, werden Nervenzellen drastisch reduziert, das heißt, sie sterben ab. Bei Neugeborenen! Warum? Um dem Gehirn zu ermöglichen, sich zunächst effektiver um das Überleben zu kümmern. Zu viel ist nicht effektiv. Wenn Kleinkinder sich dann nach und nach ihre Welt erobern, gewinnt der Prozess eine neue Dimension: Es bilden sich aufgabenspezifische Netzwerke aus Nervenzellen, und Zellen, die nicht gebraucht werden, gehen unter.
In der Pubertät fluten die Hormone an – und ganze Netzwerke verschwinden oder werden neu strukturiert, vor allem solche, die mit unseren sozialen Fähigkeiten zu tun haben. Das merkt man am Sozialverhalten pubertierender Jugendlicher. Dieser Zustand hat übrigens einiges mit Ihrer heutigen Lebensphase zu tun, lediglich mit umgekehrten Vorzeichen.
Ihr Körper und Ihr Gehirn, damit auch Ihre geistig-seelischen Fähigkeiten, stellen sich also immer wieder um, und zwar in Abhängigkeit von den Herausforderungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Nervenzellen verschwinden, können aber auch neu gebildet werden, wenn sie gebraucht werden.
Zum Beispiel, wenn Sie jonglieren lernen. Sie sind kein Clown? Würde vielleicht nichts schaden. Es gibt da eine interessante Studie:3 Hamburger Neurowissenschaftler haben verglichen, was im Gehirn von 20-Jährigen und von 65-Jährigen passiert, wenn sie etwas lernen. Und weil die Forscher sichergehen wollten, dass das zu Lernende für die Teilnehmer neu war, haben sie das Jonglieren ausgesucht. Das macht man ja eher nicht täglich.
Was kam raus? Die Jungen lernten wie zu erwarten schneller. Aber auch bei den 65-Jährigen kam es zu einer Neubildung von grauer Nervensubstanz, den Nervenzellen und den von ihnen gebildeten Vernetzungen. Alte Menschen können, wenn nötig, neue Nervensubstanz bilden, und zwar beträchtlich. Sie übrigens auch! Eine wesentliche Voraussetzung: Das Neue muss Sie interessieren, sonst funktionieren das Lernen und auch die Neubildung der Nervensubstanz nicht.
Was ich für das Nervensystem kurz skizziert habe, spielt sich im gesamten Körper ab – Ihr Leben lang. Ab- und Aufbau passieren in Abhängigkeit von dem, was wir tun.
Dabei hat jeder Lebensschwerpunkt seine optimale Phase: Das biologische Optimum fürs Kinderkriegen beginnt sicher vor 20 und geht vor 30 allmählich runter. Aber … Ja, klar! Sie haben mit 32 angefangen und mit fast 40 Ihre Jüngste bekommen, und eine Freundin war noch später dran. Was sagt uns das? Unser Organismus hat Phasen, in denen er etwas optimal kann, aber er ist auch zu anderen Zeiten in der Lage, sich hervorragend an die Funktionen anzupassen, die gerade anstehen. Nicht beliebig, mit über dreißig gewinnen Sie keine Goldmedaille im Sprint über 100 Meter mehr, aber auch das ist flexibel, denken Sie an Claudia Pechstein, die hat ihre letzte Goldmedaille mit 34 gewonnen. Und für Nicht-Olympiasieger wie für Sie und mich gilt das allemal: Sie können Ihre Fähigkeiten trainieren, und Sie können auch etwas Neues anfangen! Es wird länger dauern als mit 25, aber es geht.
Deshalb ist das Alter die spannendste und interessanteste Lebensphase überhaupt. Weil Sie wieder frei sind! Frei für neue Erfahrungen, frei, um Neues zu lernen, frei, Ihr Leben neu zu genießen.
Als ich das für mein eigenes Leben begriffen hatte, kam mir die Idee, dieses Buch zu schreiben: Weil ich erlebe, dass so viele ältere Menschen vor dieser auf sie zukommenden Lebensphase Angst haben, weil sie fürchten, dass sie voller Leid und Plackerei sei wird und grau obendrein. Grau ist die Farbe der Depression, auch so eine Heimsuchung des Alters. All das kann eintreten, sicher kennen Sie solche Beispiele. Aber auch mit sechzig und mehr Jahren tragen Sie das Potenzial in sich, mit solchen Herausforderungen fertig zu werden und aus Ihrem Alter Ihre aufregendste und ertragreichste Lebensphase zu machen.
Sie haben gute, vielleicht wunderbare Zeiten erlebt. Nur ist das schon eine Weile her. Heil war Ihr Leben in der Kindheit, Sie fühlten sich geborgen, und Ihre Zukunftserwartungen waren Träume, die aus dieser Geborgenheit erwuchsen. Auch wenn Ihre Kindheit nicht so toll war, blieben Ihnen die Träume vom Paradies. Wenn Ihnen Paradies ungewohnt klingt, wie wäre es mit gelobtes Land? Auch nicht so richtig? Träume passen ganz gut?
Im Leben, das auf die Kindheit folgte, haben Sie diese Träume allmählich vergessen. Schule, Studium, Beruf, Ihre Beziehungen – schon okay, aber oft hatten Sie das Gefühl: So richtig war das alles nicht. Die Idee vom Ausbrechen hat schnell wieder den vernünftigen Zwängen Platz gemacht.
Schließlich sind Ihnen Ihre Träume abhanden gekommen. Sie haben sich erwachsen verhalten und Abstriche gemacht, sind nicht Dirigent geworden, sondern haben nur heimlich die CD von der h-Moll-Messe dirigiert, oder die »Meistersinger«, wenn die Eröffnungsvorstellung aus Bayreuth übertragen wurde. Eine Liebste aus dieser Zeit meinte mal, dass Menschen, die zur Radiomusik dirigieren, wohl ziemlich beschränkt seien. Aus dieser Liebe ist nichts geworden, und heimlich dirigieren Sie immer noch, gerne auch Verdi. Ihr Entdeckerdrang allerdings endete im Robinson Club oder im Dschungelcamp.
Jetzt stehen Sie an der Schwelle zum Alter und fänden es besser, wenn es das noch nicht gewesen wäre.
Machen Sie sich auf! Suchen Sie nach Ihrem ganz persönlichen gelobten Land, zu dem nur Sie Zugang haben! Tasten Sie sich heran! Nicht jeder Schritt muss passen. In Ihrer jetzigen Lebensphase ist Optimierung endlich kein Thema mehr! Sie tun damit mehr für Ihr gutes Alter, als Sie vielleicht glauben.
Ich suche gerne mit.
Der alte Vogel fängt noch ganz schön dicke Würmer
Älter wurden Sie also schon Ihr ganzes Leben lang, ohne es zu bemerken. Aber kaum fühlen Sie sich alt, denken Sie ans Ende. Dass da noch was kommt, übersehen Sie aus Ihrer depressiven Tunnelperspektive.
Aber auch wenn Sie alt sind, werden Sie älter!
Zum Beispiel sind Sie mit 65 in den Ruhestand eingestiegen und haben jetzt die Chance, 80, durchaus auch 90 Jahre alt zu werden. Noch über 20 Jahre! Eine ganze Menge Zeit. Denken Sie mal zurück: Vor 20 Jahren waren die Kinder gerade in der Pubertät, Sie hatten die vorletzte Stufe der Karriereleiter erklommen, die Zeit war knapp, der Stress erheblich, und entsprechend kriselte es in Ihrer Ehe. Was ist alles in diesen zwanzig Jahren geschehen! Und diesen Zeitraum haben Sie jetzt wieder vor sich.
Alte Menschen sind häufig mehr mit sich im Reinen als Jüngere.
Es wird sich eine Menge ändern, in den nächsten zwanzig Jahren, jede Menge Herausforderungen warten. Aber wieso sollen ausgerechnet Sie nicht damit umgehen können? Menschen wachsen an ihren Herausforderungen. Herausforderungen haben aus Ihnen die Persönlichkeit gemacht, die Sie heute sind, und nur weil Sie älter werden, verlieren Sie Ihre Fähigkeit, mit Herausforderungen klar zu kommen, nicht. Lassen Sie sich nichts einreden! In uns Alten steckt mehr, als diese Spaßgesellschaft glauben will.
Trotzdem haben Sie Angst? Ja, schon: Alter ist nicht nur das Sonnendeck. Viele denken an Alter, Krankheit, Tod.
Krankheit: Nein, Sie werden nicht automatisch krank, wenn Sie älter werden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Sie krank werden könnten, nimmt zu. Und die Hundertjährigen müssen im Schnitt vier Krankheiten behandeln lassen, zum Beispiel ihre Arthrose4. Die arthrotischen Gelenke tun weh und nerven. Doch Sie können lernen, damit zurechtzukommen. Grauer und Grüner Star, Schwerhörigkeit, der Verlust der Zähne, die Demenz: Für all das gibt es zum Teil gute, zum anderen Teil gar keine Behandlungen. Aber auf alles können wir uns einstellen.
Schon klar: Die größte Herausforderung ist der Tod, das letzte Tabu. Nachdem die Sexualität auf die Funktion eines unverzichtbaren Fitnessattributs reduziert wurde, ist er übrig geblieben. Da wollen Sie nicht ran! Ich verstehe Sie. Ich bin selbst siebzig. Aber als Psychotherapeut blieb mir irgendwann nichts anderes übrig, als eine Grundwahrheit zu lernen: Vermeiden macht alles schlimmer.
Versuchen Sie, sich mit dem Tod vertraut zu machen. Es wäre doch nicht das einzige Tabu, dem Sie sich in Ihrem bisherigen Leben angenähert haben.
Ein schöner, überraschender Versuch ist das Buch Sophia, der Tod und ich, das es immerhin auf die SPIEGEL-Bestsellerliste geschafft hat5. Ich musste beim Lesen immer wieder lachen, obwohl in jeder Zeile klar ist, um was es geht. Tiefsinniger ist Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden6. Danach ist es nicht mehr so schwer, an den Tod zu denken.
Wir wissen nicht, was nach dem Tod kommt, und das wird auch so bleiben. Am Tod scheitert die Wissenschaft. Aber tun Sie jetzt nicht so, als ob Sie Ihr ganzes bisheriges Leben nach wissenschaftlichen Kriterien ausgerichtet hätten. Bei der Annäherung verschwindet der Schrecken. Die beste Nachricht ist, dass Sie viel tun können, um gut zu sterben.
Wenn Sie mutig hinschauen, wie Fuchsberger vorgeschlagen hat, wenn Sie sich bewusst machen, dass Leben endlich ist, dann werden Sie begreifen: Heute ist es Zeit für »carpe diem«.
»Genießen ist gescheit«, sagt André Hellers Mutter7, mit 102! Genießen, in vollen Zügen wahrnehmen, sich nichts von dem entgehen lassen, was Sie wollen. Genießen statt zu malochen. Sie meinen: Genießen können doch nur die Jungen? Was für ein Irrtum! Zum Genießen brauchen Sie Erfahrung. Die haben Sie ja nun wirklich. Wie Bertolt Brecht schrieb:
»Seid nur nicht so faul und so verweicht,
denn genießen ist bei Gott nicht leicht,
starke Arme braucht man und Erfahrung auch,
und mitunter stört ein dicker Bauch.«8
BB bringt gleich noch eine zweite Information rüber: Genießen geht besser, wenn Sie sich dafür fit machen. Das wirft ein ganz anderes Licht auf das Thema Fitness, mit dem Sie sich eigentlich nun wirklich nicht konfrontieren wollten. Es spielt schon eine Rolle, wie Sie beieinander sind in den kommenden zwanzig Jahren. Zeit für Ihr persönliches »Fit für Genuß«-Programm!
Wie das Leben schmeckt – Ihre Chance!
Jetzt könnten Sie Ihr Leben so leben, wie Sie wollen. Endlich müssen Sie nicht mehr nach der Pfeife irgendwelcher anderer Menschen tanzen, Chefs, Partner – Sie können tun, was Sie mögen, sich mit dem beschäftigen, was Sie fasziniert, was Ihnen Spaß macht. Sie können noch einmal neu herausfinden, wie das Leben schmeckt. Und Sie haben den Vorteil, dass Sie schon ziemlich genau wissen, was Sie nicht wollen.
Gut leben können Sie jetzt.
Ihre Chance!
Vermasseln Sie es nicht! Denn ganz so einfach ist es nicht. Warum? Ihr bisheriges Leben war ja keine elektrische Eisenbahn, von irgendjemandem gesteuert, an dessen Stelle jetzt Sie mit dem Trafo spielen dürfen. Es setzte sich vielmehr aus Gewohnheiten, Automatismen und Routinen zusammen, die Ihnen zwar nicht so richtig bewusst waren, aber an denen Sie kräftig mitgewirkt haben.
Vom Wind der Freiheit umweht, denken Sie jetzt: »Na, dann mache ich das eben anders.« Versuchen Sie es mal! Sie werden feststellen, dass kaum etwas so schwer zu verändern ist wie Gewohnheiten. Denn auch wenn sie Ihnen lästig vorkommen, haben sie Ihr Leben stabilisiert, leichter gemacht. Ohne diese Stabilisatoren schwankt es wie auf dem wilden Ozean, und Sie müssen alle Sinne mobilisieren, um halbwegs vernünftig zu navigieren. Schadet nichts, dafür haben Sie Ihre Sinne! Die sind nur etwas ungeübt, weil sie längere Zeit wenig zum Einsatz kamen. Aber das ist ja das Wunderbare an unserem Organismus: Die Funktion folgt den Anforderungen. Ohne dieses robuste Prinzip gäbe es die Menschen nicht. Und Sie gibt es ja offensichtlich.
Wie kommen Sie nun an Ihre Gewohnheiten ran?
Behutsam, aber entschlossen. Gewohnheiten bestimmen Ihre Komfortzone, also den Bereich, in dem Sie sich wohl- und sicher fühlen. In der Komfortzone ist alles vertraut. Und sehr persönlich. Ihre Komfortzone gehört zu Ihnen.
Vielleicht ist es der Fernsehsessel. Meine Komfortzone ist das nicht, aber vielleicht Ihre: ein bequem verstellbarer, gut gepolsterter Sessel, leicht erreichbare Ablagefläche für Aschenbecher, Bierglas und eine komfortable Fernbedienung, um den hervorragenden Großbildschirm anzuwerfen. Okay.
Nein, ich habe gar nichts gegen Ihre selbst gewählte Regenerationszone, wenn Sie nach einem harten, meist mit Überstunden garnierten Arbeitstag nach Hause kamen und abschalten wollten, wenn Ihre Frau schon im Bett, bei der Nachbarin zum Prosecco, oder gar nicht vorhanden war.
Nur – jetzt, im Ruhestand? Wollen Sie aus einer Dreiviertelstunde Komfortsessel acht Stunden machen? Ehrlich gesagt ist das mit einem Leben, das diesen Namen verdient, nicht vereinbar.
Für andere ist das Bett diese Komfortzone. Schlafen hat Sie immer wunderbar regeneriert. Aber auch das können Sie nicht den ganzen Tag machen. Ja, leider, ist so.
Wenn Sie dem Gegenentwurf gefolgt sind und Ihr bester Ort das Fitnessstudio war, sind Sie schon etwas zukunftsträchtiger aufgestellt; aber wenn Sie nicht wie Sylvester Stallone aussehen wollen, können Sie dort nicht permanent trainieren.
Weiter kommen Sie, wenn Sie Ihr Leben ändern. Das Leben ändern? Nichts leichter als das – haha! Doch, schon: Sie werden zwar auch zukünftig nicht ohne Routinen und Gewohnheiten auskommen, aber welche das sind, sollten Sie neu definieren. Und dafür müssen Sie erst mal raus. Raus! Ändern Sie Ihren Horizont.
Machen Sie eine Reise. Nein, nicht so eine, bei der Sie Ihre Komfortzone auf einer der sehr beliebten Kreuzfahrten in die weite Welt mitnehmen, wo Sie Fernsehsessel, Bett, Fitnessstudio und noch einige andere Annehmlichkeiten all inclusive bekommen. Reisen Sie ins Unbekannte! In ein Land, in dem Sie noch nie waren. Wie Ihr Alter: Das ist auch ein Land, das Sie noch nie betreten haben und das Ihnen nicht vertraut ist. Gerne auch mit dem Rucksack! Da müssen Sie Ihr Gepäck reduzieren, eine neue und sehr heilsame Erfahrung. Fahren Sie in eine unbekannte Stadt, gehen Sie in die Cafés der Einheimischen, versuchen Sie, etwas von diesem anderen Leben mitzubekommen. Andere Sitten, andere Zeiten, anderes Essen – und vor allem: andere Erfahrungen. Ein paar Wochen. Wenn Ihnen das zu teuer erscheint, machen Sie es einfacher: Hostel statt Hotel? Finden Sie es raus! Andere Erfahrungen ermöglichen Ihrem danach geradezu hungerndem, aber bisher brachliegendem Nervensystem, sich auf seine Fähigkeiten zu besinnen, eben wenn Sie Neues erleben. Enriched environment nennen das die Neuro-Forscher. Diese Bereicherung hilft Ihnen, die alten Muster aus den Knochen zu schütteln und Ihr Leben auf neue Gleise zu stellen.
Diese Findungsphase für das neue Leben, die Eindrücke von Ihrer Reise nehmen Sie mit, und in der Auseinandersetzung mit dem, was Ihr veränderter Geist zu Hause vorfindet, basteln Sie sich das neue Leben.
Dafür brauchen Sie einen etwas längeren Atem. Besonders fruchtbar sind Momente der Leere: Stellen, an die eine der alten Gewohnheiten gut hinpassen würde. Machen Sie jetzt den nächsten Schritt nicht automatisch, lassen Sie ruhig eine Pause zu, ein Vakuum. Wie sollen Sie es füllen? Sie sollen gar nichts! Freiräume, Offenheit ziehen Neues an. Wenn Sie sich daran gewöhnen, Leere zu ertragen, können Sie merken, dass das eine ganz eigene Qualität hat. Es gibt Meditationen, in denen das Wesentliche zwischen den Atemzügen passiert.
Apropos Meditation: Sie müssen das wirklich nicht tun, aber glauben Sie mir. Meditation hilft ganz ungemein auf dem Weg zu sich selbst – 10 bis 20 Minuten täglich.
Frisch meditiert können Sie sich das Neue in Ihrem Leben anschauen, auch wenn es erst in Ihrem Kopf ist.
Auf ein paar Details sollten Sie aufpassen:
Sie sehen, es ist eine aufregende Lebensphase, auf die Sie sich jetzt einlassen. Dennoch: Alt werden ist kein Angebot aus einem Freizeitpark oder aus einem Wellness-Center, auch wenn Wellness schon mal einen Platz in Ihrem Zeitplan haben könnte. Selbst wenn Sie viel für sich tun, körperlich und geistig in einem guten Zustand bleiben, werden Sie allmählich weniger. Ihr Leben verändert sich von der aktiven zur kontemplativen Seite: Anschauen, betrachten ersetzt das Machen.
Das ist Ihnen fremd? Bei aller intellektuellen Offenheit, auch gegenüber problematischen Themen, damit wollen Sie sich nun nicht beschäftigen? Einschränkungen hinnehmen ist ja so furchtbar.
Entschuldigen Sie, ich glaube, Sie machen einen Denkfehler. Denn Sie können heute nicht beurteilen, wie Sie sich später einmal, in einer ganz anderen Situation, verhalten werden; Sie können nicht einschätzen, wie sich das andere Leben anfühlt. Das finden Sie immer nur im Hier und Jetzt heraus. Oder wussten Sie als 10-Jähriger, wie sich der erste Sex mit 17 anfühlen würde, oder als 16-Jährige, wie es sein würde, mit zwei Kindern und in der Tretmühle eines nervigen Jobs zu leben?
Alfred Biolek, mit dem ich als überzeugter Nicht-Fernseher erst in Kontakt kam, als ich ein Interview mit dem 83-Jährigen las, antwortete auf die Frage, was er heute genieße:
»Es ist eigenartig. Obwohl ich fast alles, was mein Leben ausgemacht hat, nicht mehr machen kann, lebe ich immer noch gern. … Ein Blick aus dem Fenster auf den Park. Ich beobachte, wie sich die Jahreszeiten ablösen und die Natur sich verändert. Ich habe immer Blumen in der Wohnung …«
Und auf die Frage:
»Was für ein Verhältnis haben Sie zum Älterwerden?«, antwortete er:
»Ein entspanntes, es gibt ja keine Alternative.«9
Um mit diesem unausweichlichen Prozess zurecht zu kommen, ist ein entspanntes Verhältnis in der Tat die sinnvollste Haltung. Das hilft Ihnen auch bei den vielen neuen Dingen, die Sie lernen wollen.
Chance hin, Chance her – Ihnen ist nicht geheuer, dass Sie alt werden?
Das wurde Ihnen in dem Moment klar, als Sie in den Spiegel schauten, als Sie die Treppe nicht so schnell hochkamen wie sonst, als Ihre Tochter plötzlich feststellte: Papa, du hast ja Altersflecken auf den Händen!
Und nun? Sie brauchen sich nicht zu genieren, denn Sie sind in guter Gesellschaft!
»Wenn es (das Alter) sich unseres eigenen Lebens bemächtigt, sind wir bestürzt.«10
Wenn die schon so scharfsinnige Simone de Beauvoir »bestürzt« schreibt und sich dabei ausdrücklich mit einschließt, dann kann Sie erst recht niemand zwingen, heiteren Sinnes in den Lebensabend hineinzuschreiten. Alter zu realisieren, ist irritierend.
Der Beginn ist nicht eindeutig. Beauvoir schreibt, dass sich das Alter unseres Lebens bemächtige. Das tut es natürlich nicht. Vielmehr können Sie irgendwann den Gedanken nicht mehr unterdrücken, weil sich die Hinweise mehren. Hinweise, die Sie wahrscheinlich längere Zeit verdrängt haben und von denen Sie nicht genau wussten, wie Sie sie einordnen sollten: dass Sie die anderen schlechter verstehen – die nuscheln ja immer so! –, dass die Beine steif sind, dass Sie Namen so schnell vergessen – sie kommen zwar wieder, aber nicht auf die erste Anforderung –, diese eine Alterswarze, bei deren Erscheinen Sie an schwarzen Hautkrebs dachten und so schnell, wie Ihnen unser Gesundheitssystem einen Termin gab, zum Hautarzt rannten, der nur gutmütig lachte: Es ist kein klarer Schnitt, es hängt auch kein Etikett dran, »ab jetzt Alter«, nein, es ist für lange Zeit ein Zwischenzustand: Sie werden älter.
Die Beauvoir hat es wohl selbst so erfahren, sonst könnte sie es kaum so präzise beschreiben:
»… alte Leute … nehmen den Standpunkt eines noch jungen Menschen ein, der es beunruhigend fände, wenn er schwerhörig oder weitsichtig wäre, wenn er gesundheitliche Beschwerden hätte oder rasch ermüdete.«11
Diese Beunruhigung begleitet Sie lange Zeit, ein inneres Hin und Her zwischen realisieren und nicht realisieren, das Sie quälen kann, wenn es zur inneren Unruhe wird, die ein häufiges Symptom der Depression ist.
Sie treibt die Frage um, ob es wieder wird. Genau davon handelt dieses Buch: Was können Sie tun, dass es wieder wird? Meine Antwort dazu ist glasklar: Nur wenn Sie etwas für sich tun, kann es wieder werden. Und wenn wir nun schon bei den härteren Wahrheiten sind: Sie müssen erhebliche Disziplin reinstecken! Einfach ein bisschen rummachen, hier mal ein bisschen Gymnastik, da mal eine Zigarette weniger – das wird Ihnen kaum etwas bringen.
Bereits das Wort Disziplin fanden Sie immer nervig; es genügte, so zu sein, wie Sie eben sind, und jetzt, ausgerechnet jetzt, wo Sie es mit dem Älterwerden ohnehin schon schwer genug haben, sollen Sie auch noch diszipliniert sein?
Vielleicht hilft Ihnen das hier: Es ist Ihre Disziplin. Andere geht das nichts an.
Noch eine Wahrheit – und danach reicht es erst mal: Sie werden sich verändern in den kommenden Jahren, nicht nur äußerlich, sondern auch in Ihrer inneren Einstellung. Vieles wird Ihnen nicht mehr so wichtig sein, und zu vielem werden Sie eine neue Haltung entwickeln. Man könnte sagen, Sie werden reifer. Natürlich, Sie kennen das Spiel ja jetzt schon, hilft es, wenn Sie auch dafür etwas tun. Sie können sich dagegen sträuben, aber das ist dann eher komisch.
Wenn Sie Ihren Frieden mit dem Älterwerden machen, wird es Ihnen besser gehen. Dem damals 83-jährigen, also ganz schön alten Alfred Biolek scheint es gut zu gehen. Entspannt älter werden klingt nicht so schlecht, oder?
Ich habe den Vortrag eines ZEN-Meisters gehört, Thich Nhat Hanh, der auch im Westen bekannt ist. Zu jenem Zeitpunkt war er schon ziemlich alt, über siebzig mindestens. Das Verblüffende war, dass ich sein Alter nicht schätzen konnte. Als er seinen Vortrag begann, saß da ein schlanker, aber unverkennbar alter Mann. Und während seiner Rede dachte ich plötzlich: Er spricht ja wie ein Junger, er ist noch ganz jung. Später habe ich ihn am Flughafen gesehen, ich stand hinter ihm in der Schlange. Er hatte eine dicke Mütze auf dem Kopf, und wieder dachte ich, er ist ja noch ein ganz junger Kerl.
Wenn Sie Ihr Alter akzeptieren, können Sie jung wirken – und in gewisser Weise auch jung sein. Oder vielleicht zeitlos?
Und noch eine gute Nachricht: Das Alter hat sich verändert. Simone de Beauvoir zitiert in ihrem Buch die Äußerungen berühmter Persönlichkeiten. Manche werden Sie nicht kennen, aber sie waren zu ihrer Zeit bedeutsam: Mark Aurel, Michel de Montaigne, Sigmund Freud und natürlich Jean-Paul Sartre, der Lebensgefährte Beauvoirs. Deren Meinungen über das Alter sind negativ gefärbt, pessimistisch. Aber das Alter hat sich gewandelt. In den vergangenen 30 Jahren wurde nicht nur unsere Lebenserwartung länger, sondern diese gewonnenen Jahre sind auch mit einer, noch vor zwei Generationen unvorstellbaren, verbesserten Lebensqualität verbunden. Die Rolling Stones, die Stars meiner Jugend – obwohl ich die Beatles lieber mochte –, treten immer noch auf! Rockstars! Sie sind allesamt über 70! Und der Reporter Kurt Kister, der Chefredakteur der SZ ist, schreibt:12
»Ich hätte 1975 nicht gedacht, dass ich mal 60 würde. Und ich hätte schon gar nicht gedacht, dass ich in diesem schrecklichen, haarverlierenden, weltmüden Alter dann mit ein paar Zehntausend Leuten in einem Stadion darauf warten würde, ob Mick Jagger, faltig, fertig, dynamisch, ganz der Alte, ins Mikro schreien würde: Pleased to meet you, hope you guess my name.«
Weltmüde sind die über 60-Jährigen eben nicht mehr!