Ein verkrümmter Körper, die Hände an die Kopfseiten gepresst, der Mund weit aufgerissen, schreckerfüllt, vielleicht verzweifelt. Der Schrei. Edvard Munchs ikonisches Motiv von 1893 gleicht einer Zeitdiagnose. Es stellt einen Menschen dar, dem in der entfremdeten modernen Welt nichts weiter bleibt, als zu schreien.108 Zur selben Zeit – Ende des 19. Jahrhunderts – zeigt sich ein selig lächelndes Gesicht auf der Bühne europäischer Öffentlichkeit: die Buddhastatue. Dieser aufrecht sitzenden Gestalt mit halb geschlossenen Augen scheint die Welt nichts anzuhaben. Voller Gelassenheit ruht sie in sich. Der verzweifelte Schrei der Moderne verhallt im stillen Lächeln der meditativen Versenkung.

Es ist das blühende Versprechen, dieser Welt nicht ausgeliefert zu sein, das sich bei aller Heterogenität in der Achtsamkeitsbewegung fortsetzt, sie durchzieht, ihren Aufschwung trägt. Und es ist ein Versprechen, das zunehmend auf beißende Kritik stößt: Ruhe und Gelassenheit in einer aus den Fugen geratenen Welt, höhere Leistungsfähigkeit in einem widrigen Alltag, die Entdeckung der alltäglichen Wunder in einer gründlich entzauberten Zeit – all das klingt in den Ohren der Kritiker:innen wohlfeil. Achtsamkeit sei zu selbstbezogen, kapitalistisch vereinnahmt, ein Tool für den endlosen Sprint im Hamsterrad, der den ganzen Laden erst am Laufen halte. Die ruhigen Momente der Achtsamkeit? Nichts weiter als Tropfen auf heißen Steinen.

Es wird Zeit, sie endlich zu betreten: die Arena der Achtsamkeit.

Ich gestehe, ich nähere mich diesem Deutungskampf mit gemischten Gefühlen. Der Modus der Kritik an der Achtsamkeitsbewegung löste bei mir häufig Unbehagen aus – zu paternalistisch der Ton, zu sehr vom Seitenrand aus vorgetragen. Achtsamkeit fokussiere sich lediglich aufs »Ich«, zu wenig auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. »Welch Überraschung!«, dachte ich mir nicht selten, wenn ich solche Kritiken im Feuilleton oder in wissenschaftlichen Büchern las. Wer in großen Maßstäben denkt und etwa den Kapitalismus überwinden will, der kann mit so etwas wie Achtsamkeit a priori natürlich nicht viel anfangen. Zudem fehlte mir oft eine angemessene Detailtiefe. Zumindest müssten die Kritiken doch, meinte ich, der Heterogenität der Achtsamkeitsbewegung Rechnung tragen. All diese in den vergangenen Kapiteln herausgearbeiteten Unterschiede nonchalant über einen Kamm zu scheren, schien mir der Sache nicht gerecht zu werden.

Und dennoch: Ich halte die Kritik an der Achtsamkeitsbewegung für unverzichtbar, denn auch mir behagt sie immer weniger, wie ich in diesem Kapitel begründen will. Doch wir sollten unser Unbehagen nicht bequem von den Rängen aus äußern. Ergiebiger ist es, wenn wir uns ins Getümmel stürzen, die Kritik sozusagen aus der Sache selbst heraus formulieren. Diese interne Kritik hat den Vorteil, die Widersprüche, Abwege und Verstrickungen tatsächlich zu verstehen, in die wir uns begeben, wenn wir uns dem Phänomen zuwenden. Vielleicht erhöht dieses Vorgehen nebenbei auch die Chance, von den Akteur:innen selbst rezipiert zu werden. Was nützt es, wenn sich diejenigen, die mit Achtsamkeit nichts anfangen können, durch eine mehr oder weniger pointiert vorgetragene Kritik bestätigt sehen, während die Wohlgesinnten mit allzu pauschaler Kritik wenig anfangen können?

Eine verhängnisvolle Reduktion

Warum sollten wir Achtsamkeit üben? Warum sollten wir uns eine nicht ganz unerhebliche Zeit dafür nehmen – und das am besten täglich? Mein Unbehagen an der Achtsamkeit gründet in der seltsamen Strategie, mit der innerhalb der Achtsamkeitsbewegung auf diese Fragen geantwortet wird. Diese Legitimationsstrategie, wie man sie nennen könnte, lässt sich als ein Vierschritt rekonstruieren, der einen folgenreichen und problematischen Reduktionismus offenbart. Schauen wir uns diesen Vierschritt einmal genauer an.

Die Argumentation beginnt mit einer Diagnose des Leidens. Dieses wird, wie ich im ersten Kapitel geschrieben habe, unterschiedlich bestimmt – mal global im theravadischen Sinne als ein umfassendes dukkha, das auch glückliche Momente umfasst; mal spezifischer als Vereinsamung oder als Gefühl, das Leben ziehe an einem vorbei; mal alltäglicher als Stress und Überforderung; mal vager als Sehnsucht, »das Leben müsse mehr sein als das, was es ist«.109

Der zweite Schritt besteht in einer gesellschaftlichen Einbettung. Das individuelle Leiden wird kontextualisiert durch gesellschafts- oder kulturkritische Zeitdiagnosen. Hier haben wir es mit einem ganzen Spektrum solcher Diagnosen zu tun: Sie reichen von der einfachen Benennung eines hektischen und dichten Alltags bis hin zu der Fundamentalkritik einer materialistischen und konsumorientierten Kultur.

Besonders prominent und ausführlich tritt diese gesellschaftliche Einbettung bei Jon Kabat-Zinn und Jack Kornfield hervor. Sie zeichnen das Bild einer krisenhaften, von Umweltkatastrophen und Ungerechtigkeiten gebeutelten Welt. Kabat-Zinn beschäftigt sich besonders umfangreich mit der Zeitdiagnose der Beschleunigung. Er sieht das zunehmende Lebenstempo als dominante gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte an, angefeuert von der fortschreitenden Digitalisierung und den neuen Kommunikationsmitteln. Gerade darin liege die zentrale Bedingung für den zunehmenden Stress oder das steigendende »Un-Wohlsein« (engl.: »Dis-Ease«), wie Kabat-Zinn das »Leiden« in seinem dritten Buch Zur Besinnung kommen nennt.110

Diesen beiden Diagnosen verweisen, dritter Schritt, auf eine Ätiologie. Dieser vor allem in der Medizin Begriff kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus »Ursache« und »Lehre« zusammen. Ich bezeichne damit die in der Achtsamkeitsbewegung und ausgeführten Theorien über die Ursache des Leidens. Und von diesen Theorien über die Ursache des Leidens haben wir bereits in den vergangenen Kapiteln einige Varianten kennengelernt: zum Beispiel die »Drei Wurzeln des Bösen« im distanziert-sezierenden Achtsamkeitstyp oder den »zerstreuten Geist« in der funktionalistischen Achtsamkeit. Vor allem aber ist ein Begriff zu einem geflügelten Wort innerhalb der Achtsamkeitsbewegung avanciert: der von Kabat-Zinn eingeführte und mehrdeutig verwendete Begriff »doing mode«. Dieser beschreibt ein unbewusstes und automatisiertes, ein mechanistisches Selbst- und Weltverhältnis, also ein Leben, das von Routinen gekennzeichnet ist und vom immer wiederkehrenden Abspulen gleicher Verhaltensweisen. Kabat-Zinn nennt dies auch den »Autopiloten«. An anderer Stelle meint dieser »doing mode« eine zwanghafte Haltung, immer gleich für alles Lösungen suchen zu wollen, genauer: das permanente Abgleichen von dem, was ist, mit dem, was eigentlich sein sollte.111 Und dann wird der »doing mode« zeitdiagnostisch verwendet, wenn Kabat-Zinn unsere Gesellschaft als eine Gesellschaft des unentwegten Beschäftigtseins beschreibt.112

All diese Ätiologien basieren – vierter, letzter und springender Punkt – auf einer Grundannahme. Diese besagt, dass das Leiden auf die Individuen oder genauer auf ihren Geist oder ihre Psyche zurückzuführen sei. Ganz besonders klar tritt diese Annahme bei Nyanaponika zutage, der sie »Die Lehre vom Geiste« (engl.: mind doctrine) nennt. Er bezeichnet diese Lehre sogar als den Kern der buddhistischen Lehre. Dabei beruft er sich auf das Dhammapada, einer Verssammlung, die zu den populärsten Texten des Pali-Kanons gehört. Nyanaponika zitiert daraus unter anderem die folgende Passage: »Vom Geiste gehen die Dinge aus, sind geistgeboren, geistgeführt.«113 (Im englischen Original ist diese Passage etwas verständlicher: »Mind precedes things, dominates them, creates them.«114)

Aus diesem und anderen Versen des Dhammapada leitet er nun seine »Lehre vom Geist« ab. Ich halte die Passage für so aufschlussreich, dass ich noch etwas ausführlicher zitieren möchte:

Daher [im Anschluss an die zitierten Verse; J.S.] ist die Umkehr, die der menschliche Geist in seiner gegenwärtigen Krise zu vollziehen hat, notwendig eine Einkehr in sich selbst. Nur durch innere Wandlung wandelt sich das Außen, auch wenn es noch so langsam nachfolgt. Ist die innere Mitte stark und geordnet, so bleibt es nicht aus, daß das Wirrsal der Peripherie sich allmählich klärt und sich wie von selbst ordnet um die Klarheit der inneren Mitte. Die Ordnung oder Wirrnis der Gemeinschaft folgt aus der Ordnung oder Wirrnis des Geistes.

Der Dreh- und Angelpunkt einer möglichen Transformation des Selbst und der Welt ist also eines: der menschliche Geist oder die Psyche.

Nyanaponika steht mit dieser Ansicht innerhalb der Achtsamkeitsbewegung nicht allein. Sie ist vielmehr ihr Fundament, auf dem sie bei aller Heterogenität aufbaut.115 Kabat-Zinn formuliert die Annahme explizit in Bezug auf die von ihm diagnostizierten Krisen der Welt. Alle entspringen, wie er schreibt, dem »menschlichen Geiste und menschlicher Aktivität«.116

Genau hier, so glaube ich, haben wir den springenden Punkt gefunden, der in der Arena der Achtsamkeit verhandelt wird. Denn aus dieser Annahme lässt sich ja eben beides ableiten: einerseits – und das ist die Deutung des »Teams Achtsamkeit« – spricht daraus das ungeheure Versprechen individueller Macht: Du kannst etwas an deiner Situation, an dem Übel der Welt ändern! Andererseits – die Gegenposition des »Teams Kritik« – erklärt sich daraus das Unbehagen, dieses Gefühl, dass etwas mit dieser versprochenen Selbstermächtigung nicht stimmt.

Und in der Tat: In diesem Vierschritt steckt ein ziemlich unumwundener Reduktionismus. Schauen wir uns dazu den Vierschritt noch mal auf einen Blick an:

  1. Diagnose des Leidens: die vielfältig ausbuchstabierte Diagnose individuellen Leidens.
  2. Gesellschaftliche Einbettung: die Kontextualisierung des Leidens durch kulturelle und gesellschaftliche Zeitdiagnosen.
  3. Ätiologie: die Bestimmung psychologischer Ursachen für das Leiden.
  4. Grundannahme: die Geist als Angelpunkt für eine Transformation.

Ohne die Grundannahme steht die Ätiologie in einem luftleeren Raum, die Legitimation der Achtsamkeit insgesamt käme gehörig ins Wanken. Der Reduktionismus besteht also genau darin, das individuelle Leiden zwar gesellschaftlich und weltlich zu rahmen, aber letztlich in der Ätiologie nur Individuen zu adressieren. Ich nenne diesen Reduktionismus der Achtsamkeitsbewegung deshalb auch einen gesellschaftskritischen Individualismus.117 Dieser führt die Achtsamkeitsbewegung auf Abwege, wie ich nun anhand von vier problematischen Konsequenzen zeigen möchte.

Abwege des gesellschaftskritischen Individualismus

»There is no such thing as society«

Beginnen wir mit einer Klarstellung: Der Reduktionismus besagt nicht, dass es innerhalb der Achtsamkeitsbewegung »nur« um einzelne Individuen und deren Transformation gehe. Das mag hier und da so sein. Aber es wird, und daraus entsteht ja erst der Reduktionismus, häufig der Anspruch vertreten, dass Achtsamkeit das Individuum und die Welt transformieren könne.

Besonders deutlich wird dies etwa bei Kabat-Zinn, dessen Buch Zur Besinnung kommen im Englischen den Untertitel Healing Ourselves and the World Through Mindfulness führt und der mit anderen das Buch Wer sich verändert, verändert die Welt herausgegeben hat. Achtsamkeit stellt für Kabat-Zinn eine notwendige Praxis für das Überleben der menschlichen Spezies dar.118 Aber auch bei der unternehmerischen Achtsamkeit ist dieser Anspruch zu finden. Im Buch zum ursprünglichen Google-Kurs Search Inside Yourself von Tan lesen wir bereits im Titel: The Unexpected Path to Achieving Success, Happiness (and World Peace). Das ist zwar etwas ironischer formuliert als bei Kabat-Zinn und passt bestens zum Silicon-Valley-Mindset, wonach mit den dort entwickelten »bahnbrechenden Technologien« zugleich die Welt zu einer besseren wird. Der Titel verdeutlicht aber dessen ungeachtet den umfangreichen Anspruch, der mit Achtsamkeit verbunden wird.

Die entscheidenden Fragen, die sich aus dem gesellschaftskritischen Individualismus ergeben, sind deshalb: Welcher Status kommt den beiden Ebenen zu, der individuellen und der gesellschaftlichen? Und wie stehen sie zueinander im Verhältnis? Wie wird also die »Selbst-« und »Welt-Transformation« konzeptualisiert?

Auch auf die Gefahr hin, dass es nun für ein oder zwei Absätze etwas theoretischer wird, muss ich hier einen kleinen soziologischen Exkurs einschieben. Denn diese Fragen nach dem Motor gesellschaftlicher Veränderung und dem gegenseitigen Bedingungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft sind Grundfragen der Soziologie, zumindest dort, wo ich soziologisch sozialisiert wurde.119

Ganz vereinfacht gesprochen, stehen sich zwei unterschiedliche Ansätze gegenüber. Vertreter:innen des »methodologischen Individualismus« beginnen beim Individuum, dessen Handlungen und Intentionen. Dieser Ansatz geht also nach dem Prinzip bottom up vor. Er erklärt soziale Veränderungen durch das Zusammenwirken von Veränderungen auf individueller Ebene. Dagegen wenden Vertreter:innen des »methodologischen Holismus« ein, dass die Handlungen von Individuen bereits immer gesellschaftlich geprägt oder gar determiniert seien. Soziale Veränderungen – und damit auch die Veränderungen von Individuen – erklären sie durch die Transformation von Strukturen, also nach dem Prinzip top down. Diese beiden Ansätze spiegeln sich in politischen Strömungen wider – etwa dem Liberalismus oder Marxismus – und führen zu ganz unterschiedlichen Deutungen von konkreten Praktiken: Während die einen zum Beispiel das gekonnte Hantieren mit Gabel und Messer als Zeugnis individueller Errungenschaft sehen, analysieren es die anderen als Merkmal und Reproduktion einer bestimmten sozialen Klasse oder Schicht, sagen wir des gehobenen Bürgertums. Während die einen die Konsumgesellschaft auf bestimmte Eigenschaften von Individuen zurückführen, zum Beispiel dem Wunsch nach individueller Entfaltung, sehen die anderen darin eine Strukturnotwendigkeit des fortgeschrittenen Kapitalismus, der auf einen Absatzmarkt angewiesen ist.

Wie lässt sich nun aber der gesellschaftskritische Individualismus der Achtsamkeitsbewegung zwischen diesen Polen verorten? Gar nicht, wie ich meine. Die Position liegt sogar noch jenseits des methodologischen Individualismus. Denn indem das Individuum zum Dreh-, Angel- und, wie es bei Nyanaponika sogar wörtlich heißt, »Höhepunkt« der Transformation wird, bleibt völlig unklar, was denn die gesellschaftlichen Effekte der individuellen Transformation sein könnten. Der methodologische Individualismus versucht, soziale Praktiken, Institutionen und so weiter zu verstehen. Aber die Achtsamkeitsbewegung kreist um die Veränderung von Individuen durch Individuen. Der Reduktionismus der Achtsamkeit erweist sich also als ein bottom-Ansatz. Was das up sein könnte, lässt sich nicht erkennen.

Die Gesellschaft kann so nur als Versammlung einzelner Individuen verstanden werden – womit sich der Begriff »Gesellschaft« eigentlich erübrigt. Achtsame Menschen laufen eventuell etwas weniger gestresst durch die Welt, wie aber dadurch eine rasende Welt transformiert werden soll, bleibt mehr als vage. Ich komme darauf zurück. Das unverbundene Nebeneinander von Individuen jedenfalls, so könnte man es abstrakt formulieren, schafft eine unüberbrückbare Kluft – zwischen einem selbstermächtigten Individuum auf der einen und einer phantomhaft bleibenden Welt auf der anderen Seite.120

Der gesellschaftskritische Individualismus der Achtsamkeitsbewegung ist so gesehen ein gesellschaftskritischer Radikalindividualismus. Und daraus ergibt sich eine entscheidende sozialtheoretische Verwandtschaft zu einem wirkmächtigen Paradigma unserer Gegenwart, dem Neoliberalismus. Unter diesem, mittlerweile zu einem Kampfbegriff avancierten Wort versammeln sich verschiedene wirtschaftstheoretische, politische und gesellschaftliche Überzeugungen und Maßnahmen, die seit den 70er-Jahren nach und nach durchgesetzt wurden. Der Neoliberalismus richtete sich anfangs vor allem gegen die Macht von Gewerkschaften und gegen den starken Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit.121 Ich verstehe den Neoliberalismus im Kern als ein Programm, in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen die Logik der Ökonomie und der Privatisierung zu verankern: Wettbewerb, Gewinnstreben und die Betonung von Eigenverantwortung und individueller Leistung. Gesellschaft indes, ist kein emphatischer Begriff des Neoliberalismus. Im Gegenteil. Die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher, Vorreiterin des Neoliberalismus in Europa, brachte es in einem Interview so auf den Punkt: »There is no such thing as society!«122 Armut, Ausgrenzung, Pflegebedürftigkeit – es gibt keine Adressat:innen von Schuld oder Kritik, es sei denn, man schaut in den Spiegel.

Politische Sprachlosigkeit

Den zweiten Abweg des gesellschaftskritischen Individualismus sehe ich in der politischen Sprachlosigkeit. Damit meine ich die Gefahr, konkrete Probleme aus der Sphäre des Politischen zu lösen und so zu deuten, dass sie sich als individuelle Aufgabe stellen. Zwei Beispiele sollen diesen Abweg illustrieren:

Denken wir zunächst das oben genannte Beispiel der »Konsumgesellschaft« weiter. Aus Sicht des distanziert-sezierenden Achtsamkeitstyps lässt sich folgende Analyse ableiten: Das umfassende Leiden ist seiner Ätiologie nach auf die »Drei Wurzeln des Bösen« zurückzuführen, auf Gier, Hass und Verblendung. Den massenhaften Konsum könnte man demnach als Folge maßloser menschlicher Gier verstehen. Als »Antwort« auf die Probleme der Konsumgesellschaft ergibt sich daraus logischerweise die Forderung, diese Wurzel des Bösen zu überwinden oder zumindest einzuhegen und Bescheidenheit, Selbstkontrolle oder Großzügigkeit zu entwickeln. Etwas provokant formuliert: Warum politisch an etwas herumdoktern, das notwendigerweise am Kern des Problems, der menschlichen Gier, vorbeigeht? Innerhalb dieser Achtsamkeit erscheint dann nur eine Lösung als sinnhaft: individuelle Achtsamkeit zu entwickeln durch Meditation.

Das zweite Beispiel ist etwas umfangreicher: die Diagnose einer beschleunigten Welt, wie wir sie vor allem bei Kabat-Zinn vorfinden. Ich stimme der Diagnose grundsätzlich zu. Sie deckt sich mit der Alltagserfahrung und mit soziologischen Gegenwartsdiagnosen. Das immer schneller werdende Leben stellt uns tatsächlich vor große Herausforderungen, wie ich in Kapitel 5 ausführen werde. Kabat-Zinn verbindet aber diese Diagnose und das individuelle Leiden in Form eines steigenden Stresslevels mit seiner spezifischen Ätiologie: Das Leiden wird zurückgeführt auf die Ignoranz oder die Nichtakzeptanz der Welt, wie sie eigentlich ist. Und diese »eigentliche Welt« beschreibt er, wie ich im ersten Kapitel geschrieben habe, als eine Welt der Lebendigkeit. Die permanenten Umbrüche und die Notwendigkeit zur Flexibilität, die mit einer beschleunigten Welt einhergehen, erscheinen damit als Ausdruck ebendieser fundamentalen Annahme, wonach das Leben nun mal von Veränderung geprägt sei. Diese Überzeugung kommt am klarsten auf einem von ihm angeführten Poster zum Ausdruck, auf dem der indische und in den USA lehrende Yogi Swami Satchidananda (1914–2002) auf einem Surfboard die Wellen reitet. Dazu der Satz: »Du kannst zwar die Wellen nicht aufhalten, aber du kannst lernen zu surfen.«123 Es geht Kabat-Zinn offensichtlich nicht um eine Veränderung, sondern um die Bewältigung der Welt.124

Um dieses Problem etwas formaler zu bestimmen: Wenn historisch-gesellschaftliche mit fundamental-ontologischen Strukturen vermischt werden – zum Beispiel die Diagnose einer Beschleunigungsgesellschaft mit einer Aussage wie »das Leben ist Veränderung« –, steigt die Gefahr, dass die bestehenden Verhältnisse naturalisiert werden. Während die Wellen bei Kabat-Zinn ein ahistorisches »Naturgeschehen« implizieren, ist das stürmische Leben innerhalb der Beschleunigungsgesellschaft das Resultat einer ganz spezifischen historischen Konstellation, sagen wir von Kapitalismus, Digitalisierung und Globalisierung. Die von Kabat-Zinn gewählte Metapher hinkt also ordentlich, oder anders gesagt: Sie ist Ausdruck des gesellschaftskritischen Individualismus.

Beide Beispiele zeigen ein und dasselbe Problem: Die oft völlig zu Recht angesprochenen gesellschaftlichen Krisen werden im Modus des gesellschaftskritischen Individualismus als ein lediglich psychologisches oder allgemeines Problem hörbar – und damit zu einem Problem, das das Individuum zu lösen hat.

Mir geht es bei meiner Kritik nicht um die Frage, ob es Menschen gibt, die politisch aktiv sind und meditieren. Dieses Argument ist mir als Einwand auf meine Kritik ebenso begegnet wie der Hinweis darauf, dass es Versuche gibt, Achtsamkeit ins politische Feld einzuführen. Hier dient meist Nhat Hanh als Beispiel, den ich zur interessiert-sorgenden Achtsamkeit zähle und der ein Vertreter des engagierten Buddhismus und Friedensaktivist während des Vietnamkriegs war.125 Oder, ein aktuelleres Beispiel, dass die Klimabewegung Extinction Rebellion Achtsamkeitspraktiken anwendet.126 Mir scheinen diese Beispiele aber Ausnahmen zu sein und, viel wichtiger: Sie ändern nicht unbedingt etwas an der Sache. Sie könnten Aussagen wie »Achtsamkeit wird nicht im politischen Bereich praktiziert« oder »Alle, die Achtsamkeitsmeditation üben, sind unpolitisch« widerlegen. Sie helfen aber wenig dabei, und darum geht es mir hier, die Abwege des gesellschaftskritischen Individualismus aufzuzeigen, der so tief innerhalb der Achtsamkeitsbewegung verankert ist.

Soziologische Naivität

Aus den beiden vorigen Abwegen – der unüberbrückbaren Kluft und der politischen Sprachlosigkeit – ergibt sich unmittelbar eine Konsequenz: Damit sich die Welt transformiert, müssten wir alle meditieren. Yuval Harari, der, wie schon erwähnt, vipassana-Meditation als letzte seiner 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert empfiehlt, sieht genau diesen Punkt. Deshalb warnt er davor, zu viel Hoffnung in die Meditation zu setzen. Erstens sei es unrealistisch, dass acht Milliarden Menschen ab sofort meditieren, und zweitens sei Meditation ziemlich anspruchsvoll, die transformative Wirkung also nicht garantiert.127 Das sagt jemand, der nach eigenen Angaben zwei Stunden täglich meditiert und jährlich bis zu zwei Monate in einem intensiven Meditationsretreat verbringt!

Aber stellen wir uns doch mal vor, wir alle würden tatsächlich meditieren – und zwar noch mal doppelt so viel wie Harari selbst. Mit diesem heroischen Aufwand würden wir dann beispielsweise die Gier als vermeintliche Wurzel der Konsumgesellschaft überwinden. Was hätten wir gewonnen? Ich befürchte: nicht viel.

Schauen wir uns dazu einen sehr konkreten und durchaus kontrovers diskutierten Fall an: das Fliegen. Da wir ja nun durch unsere Meditation den Versuchungen der Reiseindustrie – eine der wichtigsten Industrien des 21. Jahrhunderts128 – widerstehen, verzichten wir ab sofort auf das Reisen mit CO2-emittierenden Flugzeugen. Wir reisen nur noch mit der Bahn und werden damit aktive Klimaschützer:innen, wie so manche Werbungen suggerieren. Doch die Sache hat einen Haken, zumindest wenn wir innerhalb Europas reisen: die komplizierte europäische Klimaschutzpolitik. Und berücksichtigen wir diese, stellt sich die Sache anders dar: Denn der CO2-Verbrauch ist für mehrere Industrien durch den Europäischen Emissionshandel (EU-ETS) gedeckelt. Das heißt, dass die Unternehmen sich mit Zertifikaten das Recht kaufen, CO2 in die Luft zu blasen. So auch Fluggesellschaften. Wenn nun durch unseren Verzicht Zertifikate der Fluggesellschaften frei werden, gehen die ungenutzten Zertifikate zurück in den Handel und werden für andere Industrien günstiger. So könnten beispielsweise Braunkohlewerke mehr dieser Verschmutzungsrechte erwerben und mehr Strom erzeugen. Der Wirtschaftswissenschaftler Achim Wambach spricht von einem Wasserbetteffekt: Wenn man das Bett irgendwo eindrückt, wölbt es sich an anderer Stelle – die Wassermenge aber bleibt gleich.129 Für unsere Praxis des Verzichts heißt das: Die Gesamtmenge an CO2-Zertifikaten kann nur politisch verringert werden, nicht durch einzelne Verzichtsmaßnahmen.

Unser individuelles Verhalten ist also, das sollte das Beispiel zeigen, nicht einfach zu addieren. Der Effekt unseres individuellen Verhaltens wird nur vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verständlich, in denen wir uns bewegen.

Um dies zu verdeutlichen, denken wir das Beispiel weiter. Denn wir könnten unsere Gier so weit überwinden, dass wir nicht nur auf Flüge, sondern aufs Heizen verzichten und auf alle Produkte, die vom europäischen Emissionshandel betroffen sind. Für die freien, nicht genutzten Zertifikate gäbe es dann keinen Absatzmarkt mehr, auch wenn sie und damit der CO2-Ausstoß immer billiger würden. Aber ohne Nachfrage der Verbraucher:innen gäbe es ja auch aufseiten der Industrien keine Nachfrage nach CO2-Zertifikaten mehr – eingesparte Genehmigungen würden dann auch wirklich mit weniger CO2-Emissionen einhergehen.

Und hier stoßen wir auf ein strukturelles Dilemma unserer Gesellschaft, das in der Energiekrise 2022 als Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine deutlich zutage trat: die strukturelle Abhängigkeit von Wachstum und die damit einhergehende Angst vor wirtschaftlicher Rezession oder Depression. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt dieses Dilemma wie folgt:

Für eine wachstumsorientierte kapitalistische Gesellschaft ist es unabdingbar, dass ihre Mitglieder nicht (von den legal zugelassenen) irgendeine Konzeption des guten Lebens wählen, sondern eine sehr spezifische, nämlich die [...] des Konsumenten/Produzenten-Paradigmas, welche dafür sorgt, dass sie ihre Aufmerksamkeit und ihre Energien in die entsprechende Richtung fließen lassen und sie nicht etwa auf Kontemplation, Meditation, militärische Askese, kreative Entfaltung oder Ähnliches richten. Größere Veränderungen in diesem Orientierungsmuster würden unweigerlich zum wirtschaftlichen und sozialen Niedergang einer solchen Gesellschaft führen.130

Würden wir dank der durch Achtsamkeitsmeditation überwundenen Gier also plötzlich auf Konsum verzichten, wären die Konsequenzen für unsere Gesellschaft fatal. Industriezweige würden zugrunde gehen, die Arbeitslosenzahlen explodieren, das Rentensystem zusammenbrechen et cetera. Andersherum gesagt: Individuelle Transformation zur Rettung der Welt zu propagieren, ohne die Transformation der gesellschaftlichen Strukturen im Auge zu haben – das ist soziologisch naiv. Erstens sind die Voraussetzungen illusorisch (alle müssten extrem viel meditieren), und zweitens würde dies Effekte zeitigen, die als solche gar nicht reflektiert werden. Man kann es sogar zuspitzen: Das Versprechen der Achtsamkeit, dem Leiden zu entkommen, basiert darauf, dass genügend Menschen eben nicht ihre Gier überwinden und damit das Konsumenten/Produzenten-Paradigma aufrechterhalten.

Dies ist natürlich ein utopisches und dystopisches Szenario zugleich. Schauen wir uns deshalb noch ein konkreteres Beispiel an: die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, sagen wir, bei Pflegekräften, deren schlechte Arbeitsbedingungen während der Corona-Krise plötzlich und viel zu kurz im Lichte der Öffentlichkeit standen.

Stellen wir uns vor, die erschöpften Pflegekräfte entscheiden sich, gefördert von ihren Arbeitgeber:innen, zu meditieren, um mit der Belastung besser umgehen zu können. Vielleicht hilft es und sie haben weniger Stress-Symptome, schlafen besser, fühlen sich wohler – und werden weniger krank. Das entlastet dann auch das »Haus«, die Personalplanung muss keine neuen Pflegekräfte einstellen, um Fehlzeiten auszugleichen. Oder aber - und das ist leider wahrscheinlicher – sie kommt auf die Idee, einige Stellen zu streichen, um Kosten zu sparen. Denn im Zuge der Neoliberalisierung wurden auch die Krankenhäuser zunehmend privatisiert und auf Effizienz und Gewinn hin ausgerichtet.

Da weniger Ausfallzeiten in unserer Gesellschaft keinen Wert an sich haben, sondern nur als Faktor der Einnahme-Ausgabe-Rechnung abgebildet werden können, dürften wir es mit einem Teufelskreis zu tun bekommen: Mehr »Ressourcen« aufseiten der Beschäftigten, die sie dank Achtsamkeitsmeditation gebildet haben, führen zu einer höheren Verdichtung der Arbeit, was wiederum mehr Arbeit am Selbst erfordert, was wiederum zu einer weiteren Verdichtung führt. Dieses Beispiel führt vielleicht zu einer weniger dystopischen, aber dennoch gründlich frustrierenden Erkenntnis: Die Stabilisierung unseres Selbst stabilisiert den gesellschaftlichen Kontext, der uns zu einer Stabilisierung erst nötigte.

Achtsamkeitsbasierte Veränderungen des eigenen Verhaltens können also wirkungslos (Stichwort CO2), zerstörerisch (Stichwort: Wachstum) oder stabilisierend (Stichwort: Pflege) sein. Es ist diese gesellschaftliche Verstrickung, die der gesellschaftskritische Individualismus nicht sieht – oder eher: nicht sehen kann.

Der gesellschaftskritische Individualismus ist nicht nur aus einer politischen und gesellschaftstheoretischen Perspektive zu kritisieren, sondern auch aus einer ethischen. Damit komme ich zum letzten Abweg.

Moralische Überfrachtung

Wir waren zu einem Abendessen bei Freunden eingeladen. Nach dem Essen bat mich Paul, so nenne ich ihn einfach mal, um Rat: Er meditiere jetzt schon länger, jeden Morgen fünf oder zehn Minuten, aber, wenn er ehrlich sei, merke er gar keinen Fortschritt – und das, obwohl der Effekt der Meditation doch wissenschaftlich bewiesen sei. Er verwendete die App Headspace. Ich musste gleich an das Buch von Andy Puddicombe denken, Gründer des Programms. Der Untertitel der englischen Ausgabe verspricht vollmundig: 10 Minutes Can Make All the Difference. Zehn Minuten können den Unterschied machen. Auch wenn das »can« etwas Spielraum lässt – die Botschaft ist klar: Meditation ist ein Gamechanger. Doch Paul merkte keinen Unterschied. Er saß jeden Morgen mit rasenden Gedanken seine zehn Minuten ab. 10 Minutes, no Difference at All.

Das war mein Thema, und ich redete gleich drauflos: dass ich von dem Versprechen und diesen Minimeditationen wenig halte; dass es bei manchen wie bei mir einst erst »klick« mache, wenn man mal so richtig intensiv meditiere, etwa in einem Retreat; dass man erst dann erfahre, vielleicht, wonach man überhaupt Ausschau in sich halten solle. Sonst suche man morgens auf dem Kissen sehr lange die Nadel im Heuhaufen …

Ich weiß nicht, was ich noch alles sagte, nur dass ich mich im Nachhinein über meine Antworten ärgerte. Denn diese überspitzt dargestellte Szene zeigt vor allem eines: die moralische Überfrachtung des Individuums. Wenn zehn Minuten den Unterschied nicht machen (obwohl alle angeführten Studien suggerieren sollen, dass sie den machen), dann liegt es eben – na klar: an dir!

Wenn wir jetzt noch berücksichtigen, dass es innerhalb der Achtsamkeitsbewegung meistens nicht nur um ein paar Minuten der Ruhe geht, sondern um eine Antwort auf die Krisen der Welt, lässt sich die optimistisch klingende Botschaft der Achtsamkeit gleichfalls als eine Bürde verstehen: Die ganzen Krisen der Welt lasten auf dir. Das ist die erbarmungslose Kehrseite des Versprechens.

Neben dem sozialtheoretischen, politischen und soziologischen Abweg liegt im gesellschaftskritischen Individualismus deshalb auch ein ethischer: die Selbstgeißelung des Individuums als andere Seite der Selbstermächtigung. Ich weiß, das ist starker Tobak, vor allem in Bezug auf die interessiert-sorgende Achtsamkeit, die auch die Selbstfürsorge lehrt und sich gerade als Antipode einer Geißelung versteht (erinnern Sie sich an den Umgang mit Schmerzen, den ich in Kapitel 1 ausgeführt hatte). Aber ich befürchte: Beides geht gleichzeitig. Es ist eben kein Widerspruch, Watte in einer Schublade aus Stahl zu lagern. So kann die achtsame Selbstfürsorge eingebunden sein in die Gesundheitspolitik, weil Berechnungen ergeben haben, dass es sich lohnt, Achtsamkeitskurse zu fördern.131

Diese Gleichzeitigkeit wird am Beispiel gesundheitlicher Prävention am verständlichsten.132 Denn obwohl das, was Vorsorge verhindern soll, in der Gegenwart noch nicht eingetreten ist, wirkt es allein schon durch die Kraft des Möglichen und formt die Gegenwart. So gesehen haben wir, wenn wir beispielsweise joggen gehen, nicht nur Spaß an der Bewegung. Wir rennen gegen unendlich viele Eventualitäten an – der Herzinfarkt ist gegenwärtig, weil er geschehen könnte. In der Mindfulness-Based Cognitive Therapy, einem Ableger der Mindfulness-Based Stress Reduction, wird so auch die Prävention zukünftiger Depressionen als Ziel definiert – und Achtsamkeit, das Hier-und-Jetzt, zugleich etabliert als ein »Frühwarnsystem« für potenziell sich anbahnende neue depressive Episoden.133

Auf der einen Seite mag dies sehr sinnvoll sein, auf der anderen Seite äußert sich darin eine kühle Rationalität: die einer Gesundheitspolitik, die langfristig Kosten sparen muss – vor allem in der neoliberalen Logik der Privatisierung. Individuen müssen deshalb frühzeitig damit beginnen, für ihre Gesundheit Verantwortung zu übernehmen. In den Worten der kritischen Soziologie haben wir es hier mit einer »sozialpolitischen Konstruktion eigenverantwortlicher Subjekte« zu tun, die in ihrem eigenverantwortlichen Handeln zugleich einen »Dienst an der Gesellschaft« leisten.134 Oder anders gesagt: Wer morgens seine Runde joggt, rennt nicht nur gegen Bluthochdruck und Herzinfarkt an. Er trägt dazu bei, dass uns allen das Gesundheitssystem nicht irgendwann um die Ohren fliegt.

Gesundheit wird zu einer individuellen und sozial honorierten Leistung. Und just in dieser Wendung verbirgt sich die Erbarmungslosigkeit der moralischen Überfrachtung, wie sie der amerikanische Philosoph Michael Sanders in seiner Kritik der neoliberalen Leistungsideologie herausgearbeitet hat. Denn diese besagt, dass jeder und jedem das zukomme, was sie oder er durch eigene Anstrengung geleistet, erreicht, erarbeitet habe. Sanders sieht in diesem ethischen Ansatz eine Tyrannei verborgen. Zunächst ignoriere die Leistungsideologie konsequent die faktischen Einschränkungen und unterschiedlichen Voraussetzungen von individueller Leistung. So ist in Deutschland die schulische Bildung schockierend abhängig vom Elternhaus. Oder, bezogen auf die Achtsamkeitsbewegung, haben nicht alle die finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten, jedes Jahr ein intensives Retreat zu besuchen. Vor allem aber zieht diese neoliberale Leistungsgerechtigkeit eine moralische Schlussfolgerung nach sich: »The implication is that those who do not rise will have no one to blame but themselves.«135

Genau dieselbe Schlussfolgerung ergibt sich aus dem gesellschaftskritischen Individualismus der Achtsamkeitsbewegung: Es ist und bleibt der eigene Geist die Wurzel allen Übels – und allen Glücks.

Eine streitbare Position

Wherever You Go, There You Are – mit dem Titel von Kabat-Zinns zweitem Buch lässt sich der gesellschaftskritische Individualismus der Achtsamkeitsbewegung auf den Punkt bringen: Egal wo und in welcher Gesellschaft das Individuum lebt, es ist beides zugleich – das Problem und die Lösung. Ich habe in diesem Kapitel zu zeigen versucht, auf welche Abwege sich die Achtsamkeitsbewegung durch diese Position begibt: Sie produziert erstens eine unüberwindbare, lähmende Kluft zwischen Individuum und Welt; sie führt zweitens zur Gefahr der politischen Sprachlosigkeit; sie verhindert drittens, die sozialen Effekte individueller Handlungen zu reflektieren, und sie führt viertens zu einer moralischen Überfrachtung des Individuums. Kurzum: Die dem Individuum zugeschriebene Macht kommt zu dem Preis einer Ignoranz der sozial und politisch strukturierten Welt. Die Kehrseite der Selbstermächtigung ist eine »Weltvergessenheit«.

Aus dieser Gleichzeitigkeit erklärt sich, wie Achtsamkeit zu einem solch umkämpften Begriff werden konnte. Und diese Gleichzeitigkeit verbindet Achtsamkeit auf paradoxe Weise mit dem neoliberalen Zeitgeist. Einerseits stemmt sich die Achtsamkeitsbewegung gegen eine Politik, die ökonomische Sachzwänge für »alternativlos« hält, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Gegen die von Margaret Thatcher ausgerufene Losung »There is no Alternative« ruft die Achtsamkeitsbewegung: »Doch, es gibt eine Alternative, im Hier und Jetzt!« Anderseits befindet sie sich damit in einer ungeheuren »methodologischen Nähe« zum Neoliberalismus: Beide propagieren das eigenverantwortliche Individuum als Lösung. Die von mir aufgezeigten Abwege des gesellschaftskritischen Individualismus sind zugleich Abwege des neoliberalen Denkens.

Obwohl ich mich der Arena der Achtsamkeit, wie eingangs beschrieben, mit einem großen Unbehagen genähert habe, halte ich es mittlerweile mit dem »Team Kritik«. Vielleicht stehe ich sogar im »Ultra-Block«. Denn ich verstehe meine Kritik als umfassender als die bekannteste Kritik der Achtsamkeit, wie sie von Ron Purser vorgetragen wird. Mit dem Begriff »McMindfulness« kritisiert Purser vor allem die ökonomische, warenförmige Achtsamkeit und damit jenen Achtsamkeitstyp, den ich im ersten Kapitel als funktionalistische Achtsamkeit bestimmt habe. Gerade was den Vorwurf der soziologischen Naivität angeht, völlig zu Recht.

Und trotzdem scheint mir die Fokussierung der Kritik auf diesen Typus unzulässig verengt zu sein: Die Achtsamkeit in Unternehmen wird disqualifiziert, um eine echte, wahre und gute Achtsamkeit zu retten, der es darum gehe, die »Wurzeln des Bösen« zu überwinden.136 Allerdings ist der gesellschaftskritische Individualismus weder auf den Vorwurf der soziologischen Naivität noch auf die funktionalistische Achtsamkeit begrenzt. Meine Kritik trifft die Achtsamkeitsbewegung also in ihrer Breite. In allen von mir untersuchten Formen erliegt die Achtsamkeit dem Reduktionismus und begibt sich damit auf die geschilderten Abwege.

Ganz entscheidend ist es deshalb, den gesellschaftskritischen Individualismus als das anzuerkennen, was er ist: eine von vielen Möglichkeiten, Selbst- und Weltveränderung zu denken. Auch wenn, wie im letzten Kapitel ausgeführt, die Achtsamkeitsbewegung mit ihrer »wissenschaftlichen Fundierung« wirbt – die Frage, wie gesellschaftliche Veränderung zu denken ist, hat wenig bis gar nichts mit den vermeintlichen positiven Effekten auf die Gesundheit zu tun. Der gesellschaftskritische Individualismus ist weder wissenschaftlich begründet noch unausweichlich oder gar alternativlos. Weshalb soziale Probleme wie Ungleichheit oder das beschleunigte Lebenstempo infolge von ökonomischen Wachstumsregimen gerade in meditativen Praktiken angegangen werden sollten und nicht etwa in gewerkschaftlicher Partizipation, bleibt vor allem eines: erklärungsbedürftig. Ob Achtsamkeit ein oder gar der Lösungsansatz sein sollte, ist keine empirische oder wissenschaftliche, sondern vorrangig eine gesellschaftlich zu bearbeitende Frage, also eine Frage, über die wir uns in der Öffentlichkeit streiten müssen. Und genau darum soll es im nächsten Kapitel gehen.