Was ist Achtsamkeit? Auf diese schlichte Frage gibt es zwei ganz unterschiedliche Antworten.
Die erste lautet: Achtsamkeit ist die Fähigkeit und der Zustand, ganz gegenwärtig zu sein.
Die zweite Antwort: viel komplizierter.4
Stellen wir uns vor, wir stehen spätabends an einem großen See, an dessen gegenüberliegender Seite ein gewaltiger Berg in die Höhe ragt. Die Dämmerung hat die Landschaft bereits in eine tiefe Stille eingehüllt. Über dem Berg erstrahlt der Himmel golden und erinnert an die Sonne, die schon vor einiger Zeit hinter dem Berg untergegangen sein muss. In solch schönen Abendstunden erscheint der Berg als Silhouette, als eine Wand mit Hauptgipfel, Bergsätteln und Nebengipfeln.
Doch am nächsten Morgen auf dem Weg zur ersten Bergtour stellen wir fest, dass wir uns am Vorabend von der Silhouette haben täuschen lassen. Jetzt erkennen wir mehrere sich nebeneinander auftürmende Berge und hintereinander gestaffelte Bergkämme. Je mehr wir uns nähern, desto vielfältiger wird das Bild: Täler, Schluchten, Wiesen, Hänge, Flüsse erscheinen. Wir fahren nicht zu einem Berg, sondern in ein Gebirge.
Die Sache ist aber nicht nur kompliziert, sondern viel komplizierter. Ein Gebirge ist ja nie nur ein Gebirge, keine reine Ansammlung von Steinen. Nehmen wir beispielsweise die Alpen: Sie erstrecken sich weit über das von unserem See aus Sichtbare hinaus und durchziehen zahlreiche Länder. Entstanden sind sie vor zig Millionen Jahren durch die Auffaltung tektonischer Platten, die auch den fernen Himalaya hervorgebracht haben. Lange Zeit stellten sie eine unüberwindbare Grenze dar und markierten gewissermaßen das Ende der Welt. Erst im 19 . Jahrhundert bröckelte diese gewaltige Mauer: Tunnel wurden gebohrt, Brücken gebaut, Schienen verlegt. Der Alpinismus kam auf, und die Alpen wurden zu einem Sehnsuchtsort, einem touristischen Hotspot. Sie sind und waren immer beides: Natur und Kultur, Gegebenes und Gedeutetes, Erlebtes und Erträumtes.5
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Achtsamkeit: Sie ist kein Berg, sondern ein Gebirge – und damit eine ziemlich verzwickte Angelegenheit. Zumindest ist das die Perspektive, für die ich in diesem Buch werben möchte.
Achtsamkeit erscheint von dieser Warte aus betrachtet zunächst als ein unüberschaubares Terrain. Wir stoßen auf eine schier unüberschaubare Anzahl von Übungsformen, Techniken und Definitionen. Gleichzeitig stehen diese nicht für sich. Sie sind verflochten mit verschiedenen religiösen Traditionen, in denen sie ihren Ausgang nahmen, mit zahlreichen Wissenschaften, die Achtsamkeit erforschen, mit Kontroversen über ihre gesellschaftliche Funktion und vor allem mit vielschichtigen Vorstellungen darüber, was es eigentlich heißt, ein gutes Leben zu führen. Etwas akademischer ausgedrückt: Achtsamkeit ist nicht nur eine Technik, sondern eine kulturelle Praxis.
In einem ziemlich theoretischen Buch über kulturelle Praktiken las ich vor einigen Jahren eine für mich sehr aufschlussreiche und gegen Ende fast poetische Passage. Ich möchte sie deshalb in ganzer Länge wiedergeben:
Wir können mit einer Praxis niemals vollständig allein sein. Selbst wenn wir beispielsweise meditieren, um ganz bei uns selbst zu sein, greifen wir Techniken auf, deren Geschichte mehr als zwei Jahrtausende zurückreicht, die schriftlich und mündlich überliefert worden sind und sich dabei auf spezifische Weise weiterentwickelt und in verschiedene Schulen ausdifferenziert haben, die ebenso von uns direkt Bekannten wie von gänzlich Fremden praktiziert werden, um die sich soziale Kreise von Praktizierenden bilden oder die von der Fitness- und Wellnessindustrie beworben und zum »Trend« erklärt werden. Von der vermeintlich lokalen und privaten Handlung des Meditierens führen Verbindungen an andere Orte und andere Zeiten.6
Gehen wir also auf Gebirgstour, lassen wir uns an »andere Orte und andere Zeiten« führen! Erst dadurch, davon bin ich überzeugt, verstehen wir sie, die Achtsamkeit. Und so werde ich im Folgenden einen kurzen geschichtlichen Überblick über ihre Entstehung geben, um dann ein wenig Ordnung in das unüberschaubare Terrain der Achtsamkeitsbewegung zu bringen.
Eine kurze Geschichte der Achtsamkeit
Südostasiatische Reformbewegung
Die erste Etappe unserer Reise führt uns in das Südostasien des späten 19. Jahrhunderts und zu einem sehr bemerkenswerten Umstand: Obwohl im »Westen« Meditation und Buddhismus als quasi ein und dieselbe Sache gelten, spielte bis dahin im dort verbreiteten Buddhismus, dem Theravada oder »Weg der Älteren«, Meditation keine entscheidende Rolle. Vielmehr bestand die Glaubenspraxis darin, sittliche Regeln zu befolgen, religiöse Rituale auszuführen und überlieferte Lehrreden des historischen Buddhas zu rezitieren.7
Erst im ausgehenden 19 . Jahrhundert erfährt die Meditation durch eine südostasiatische Reformbewegung eine radikale Aufwertung, wie zahlreiche religionswissenschaftliche Studien nachgewiesen haben. Wichtige Vertreter dieser auch als »Buddhistischer Modernismus« genannten Strömung waren beispielsweise Anagarika Dharmapala (1864–1933) aus Sri Lanka und Ledi Sayadaw (1846–1923) aus Myanmar.8 Sie zentrierten die buddhistische Praxis um eine vereinfachte Meditation, lehrten diese in intensiven Retreats – häufig in neu gegründeten Meditationszentren und nicht mehr ausschließlich in Klöstern – und unterrichteten entgegen der konservativen Lehrmeinung auch Laien. Kurzum: Die aus der Einleitung bekannte vipassana-Meditation (dt.: Einsicht oder Betrachtung) war geboren.
Pali ist übrigens, falls Sie sich soeben gewundert haben, eine dem Sanskrit verwandte Literatursprache. Die ältesten überlieferten Schriften des Buddhismus sind in ihr verfasst, weswegen sie als Pali-Kanon bezeichnet werden und auf den sich der Theravada, also der »Weg der Älteren«, bezieht.9
Und auch für die Achtsamkeitsbewegung ist dieser Pali-Kanon äußerst relevant. Denn die Reformer rückten in ihrer Lehre einen Begriff in den Mittelpunkt, den der erste deutsche buddhistische Mönch Nyanatiloka (1878–1957) Anfang der 20er-Jahre mit »Achtsamkeit« übersetzen sollte: sati.10 Achtsamkeit aka sati kommt im Pali-Kanon an zahlreichen Stellen vor. Die Reformer beriefen sich allerdings vor allem auf eine Lehrrede (Pali: sutta) als kanonische Basis ihrer Lehre: das sogenannte satipatthana-sutta, die »Lehrrede von der Gegenwart von Achtsamkeit«.11 Es ist vor allem diese Lehrrede, die bis heute als Beleg dafür herangezogen wird, dass bereits der historische Buddha vipassana-Meditation praktizierte und dass es dabei vor allem um eines ging: die Kultivierung von Achtsamkeit.
Wie einflussreich diese Reformbewegung mit ihrer Aufwertung der Meditation war, zeigt sich schon alleine daran, dass ich ein gutes Jahrhundert später in einem Retreat einer dieser noch jungen Traditionen saß (um genau zu sein: in der Tradition von Mahasi Sayadaw, 1904–1982). Vor allem aber ist es wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass es die Achtsamkeitsbewegung ohne diese südostasiatischen Reformer nie gegeben hätte. Und damit sind wir auch schon mitten auf der zweiten Etappe unserer Gebirgstour. Sie führt uns in den »Westen«.
Vipassana im »Westen«
Bis ins 19. Jahrhundert hinein war der Buddhismus in Europa so gut wie unbekannt. Es finden sich nur vereinzelte Spuren in Berichten von Reisenden, Dichter:innen und Philosoph:innen. Dies änderte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Eines der berühmtesten Beispiele für die verstärkte Rezeption des Buddhismus ist der Philosoph Arthur Schopenhauer. Er sah im Buddhismus eine gedankliche Nähe zu seiner pessimistischen Philosophie und machte ihn in den intellektuellen Zirkeln seiner Zeit bekannter.12
Die Rezeption des Buddhismus und im Besonderen der vipassana-Meditation im »Westen« ist eine äußert vielschichtige Angelegenheit. Und eine für die Achtsamkeitsbewegung höchst aufschlussreiche, sodass ich im nächsten Kapitel noch genauer auf sie eingehen werde. Für die kleine Geschichte der Achtsamkeit soll es hier genügen, drei Pfade dieser Verbreitung vorzustellen.
Klerikale Verbreitung:
Als wichtigster Protagonist der klerikalen Verbreitung gilt der deutschstämmige Mönch Nyanaponika (1901–1994). Ordiniert von dem bereits bekannten »Namensgeber« der Achtsamkeit, Nyanatiloka, wirkte er als Präsident der einflussreichen Buddhist Publication Society, die weiterhin zahlreiche Bücher zum Theravada veröffentlicht. Beeinflusst vor allem von dem burmesischen Reformer Mahasi Sayadaw, schrieb er das für die Achtsamkeitsbewegung bedeutende Buch Geistestraining durch Achtsamkeit.13 Hier findet sich das vielleicht klarste und bekannteste Zeugnis davon, wie Buddhismus mit Meditation und Meditation mit Achtsamkeit verschränkt wird. Für Nyanaponika stellt Achtsamkeit den »Kern der buddhistischen Geisteslehre« dar, wie auch im englischen Originaltitel The Heart of Buddhist Meditation bereits deutlich wird.14 Das Buch wurde auch in intellektuellen Kreisen jenseits der Achtsamkeitsbewegung rezipiert, etwa von Erich Fromm.15 Wie sehr »Achtsamkeit« zum Zentralbegriff der vipassana-Meditation avancierte, wird auch in einem anderen Buch deutlich: das populäre Mindfulness in Plain Englisch (dt.: Die Praxis der Achtsamkeit) von Henepola Gunaratana (geb. 1927), ein ceylonesischer und in den USA lehrender Mönch.
Goenka-Methode:
Den zweiten wichtigen Pfad bei der Verbreitung der vipassana-Meditation finden wir beim indischen Geschäftsmann Satya Narayan Goenka (1924–2013). Besonders bemerkenswert bei Goenka ist, dass er die vipassana-Meditation als Laie lehrte und explizit als nicht religiöse Praxis bewarb – auch wenn zahlreiche buddhistische Lehren und sittliche Regeln in seinen Anweisungen zu finden sind. Goenka systematisierte die Meditationspraxis hochgradig und baute ein weltweites Netzwerk von Meditationszentren auf, in denen unter anderem ein zehntägiger Einführungskurs gelehrt wird.16 Es ist übrigens diese Goenka-Schule, die jüngst ausführlich in dem Buch Yoga des französischen Bestsellerautors Emmanuel Carrère literarisch verarbeitet wurde. Und auch der israelische Historiker Yuval Harari empfiehlt als Schüler von Goenka Meditation als letzte seiner 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert.17
US-Laienbewegung:
Für den dritten Pfad steht ein Ort wie kein anderer: das Laien-Zentrum Insight Meditation Society (IMS) in Massachusetts, eineinhalb Autostunden westlich von Boston. Gegründet 1976 von Joseph Goldstein, Jack Kornfield, Sharon Salzberg und Jacqueline Schwartz, kann die Insight Meditation Society als bekanntestes Beispiel gelten für eine Generation, die in den 60er- und frühen 70er-Jahren mit verschiedenen buddhistischen Schulen und der vipassana-Meditation in Südostasien in Berührung kam und diese in Europa und den USA verbreitete und institutionalisierte. Bemerkenswert ist, dass hier nun die Meditation nicht mehr mit dem etwas sperrigen Begriff vipassana, sondern mit der entsprechenden Übersetzung Insight- oder Einsichtsmeditation beworben wurde. Gemeinsam mit dem Spirit Rock Meditation Center, das um Jack Kornfield in den 1980ern an der Westküste entstand, katalysierte es die Bekanntheit buddhistischer Einsichtsmeditation – und ihres Kernbegriffs: Achtsamkeit.18
Zen trifft Achtsamkeit
Für die dritte Etappe müssen wir einen kleinen Umweg nehmen. Denn die Achtsamkeitsbewegung lässt sich nicht nur auf den Theravada zurückführen. Auch die zweite Schule des Buddhismus, der Mahayana oder das »große Fahrzeug«, spielt bei der Popularisierung der Achtsamkeit eine wichtige Rolle. Der Mahayana ist vorwiegend in Ostasien und Vietnam verbreitet und bezieht sich nicht auf den Pali-Kanon, sondern auf spätere und in Sanskrit verfasste buddhistische Schriften.
Die wohl bekannteste Schule des Mahayana ist das Zen (japanisch, Meditation oder Versenkung). Das Zen wurde unter anderem vom japanischen Gelehrten Daisetz Teitaro Suzuki und vom Zenmeister Shunryu Suzuki in den USA und von Eugen Herrigel und Karlfried Graf Dürckheim in Deutschland bekannt gemacht. Bemerkenswert: Bei ihnen spielt Achtsamkeit eine eher nebensächliche Rolle. So kommt bei dem im Westen populären Buch Zen-Geist – Anfänger-Geist von Shunryu Suzuki Achtsamkeit nur in einem kurzen Kapitel vor.
Es war der vietnamesische Mönch Nhat Hanh (1926–2022), der die Verschränkung von Zen und Achtsamkeit vorantrieb und der zu einem der einflussreichsten Lehrer:innen der Achtsamkeitsbewegung werden sollte. 1926 in Vietnam geboren, besuchte Nhat Hanh in den 60er-Jahren während eines Studiums die USA und hielt friedensbewegte Vorträge im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg. Ab 1975 lebte er in Frankreich im Exil, wo er auch das buddhistische Meditationszentrum Plum Village gründete. Er gilt als Namensgeber und bekanntester Vertreter des »engagierten Buddhismus«, der soziales und ökologisches Engagement als Teil buddhistischer Praxis auffasst, und hat zahlreiche Bücher zum Buddhismus veröffentlicht.
Ähnlich wie Nyanaponika erhebt Nhat Hanh Achtsamkeit zu einem Schlüsselbegriff der buddhistischen Lehre und der Meditation. Programmatisch trägt so auch sein erstes Buch den Titel Das Wunder der Achtsamkeit. Er verbindet Achtsamkeit und Zen, indem er auch die für die vipassana-Meditation relevanten Quellen aus dem Pali-Kanon rezipiert, übersetzt und interpretiert, beispielsweise die bereits angeführte kanonische Basis der vipassana-Meditation: das satipatthana-sutta.19
Wissenschaft, Medizin, Psychotherapie
Auch wenn ich alle bisher beschriebenen Etappen als ganz wesentlich für die Verbreitung buddhistischer Meditation und Achtsamkeit halte, so kommen wir jetzt ohne Zweifel zu einem Meilenstein ihrer Popularität: die Integration der Achtsamkeit in den medizinischen und psychotherapeutischen Kontext. Kein anderer steht für diesen Prozess mehr als Jon Kabat-Zinn, Molekularbiologe und emeritierter Professor an der University of Massachusetts Medical School. Er ist zweifellos das bekannteste Gesicht der Achtsamkeitsbewegung.
In Kabat-Zinns Arbeit laufen die Fäden der bisher dargestellten Geschichte zusammen. Beeinflusst von der vipassana-Meditation und vom Zen, kam ihm während eines Retreats im Insight-Meditation-Society-Zentrum die Idee, beide Welten zu verbinden: die der Meditation und die der Medizin.20 Das Ergebnis war das 1979 entwickelte achtwöchige Programm Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) oder Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Es enthält vor allem meditative Praktiken, aber auch körperliche Yogaübungen.
Das MBSR-Programm diente als Vorbild für zahlreiche weitere, abgeleitete Programme. Diese sind meist für ganz spezifische Anwendungen oder Kontexte gedacht, etwa das Mindfulness-Based Cognitive Therapy for Depression (MBCT) oder das Training für Achtsamkeit am Arbeitsplatz (TAA) zur Burn-out-Vermeidung. Achtsamkeit hat so – zusammen mit anderen, von Kabat-Zinn unabhängigen Programmen – einen festen Platz im Repertoire der psychologischen Verhaltenstherapie eingenommen.21
Wichtig zu verstehen ist, dass Kabat-Zinn Achtsamkeit nicht nur für die psychologisch-medizinische Praxis anschlussfähig machte. Parallel zu dem ohnehin erstarkten Interesse etwa der Neurowissenschaften an Meditation, evaluierte er die Effekte der Achtsamkeitsmeditation auch wissenschaftlich. Damit kam ein ganz entscheidender Stein ins Rollen: Achtsamkeit konnte fortan als eine wissenschaftlich fundierte Praxis beworben werden.
Mainstream-Achtsamkeit
Damit haben wir die letzte Etappe dieser kleinen Geschichte der Achtsamkeit erreicht: das kaum noch zu überblickende Gebiet des »Achtsamkeitsbooms«, von dem bereits in der Einleitung die Rede war.
Paradigmatisch dafür steht ein Bild aus dem Jahr 2015: Ein ergrauter Mann sitzt auf dem Boden, die Beine im Schneidersitz verschränkt, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, die Augen geschlossen, der Kopf leicht gesenkt. Umgeben ist er von einer Gruppe von Menschen, die mit etwas Abstand teils auf dem Boden, teils auf Stühlen sitzen, die meisten in Anzug oder Kostüm. Zwischen ihnen liegt eine Armbanduhr auf dem grauen Teppich.
Das Bild wurde beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos aufgenommen.22 Der etwas gekrümmt auf dem Boden sitzende Herr ist Jon Kabat-Zinn, der soeben vorgestellte Gründer der Mindfulness-Based Stress Reduction. Kabat-Zinn bot 2015 jeden Morgen eine halbe Stunde Achtsamkeitsmeditation an – für die Wirtschaftselite in den Bergen der Schweiz.
Die Szene zeigt, wie sich Achtsamkeit zu einer in der Unternehmenswelt anschlussfähigen Praxis entwickelt hat. Es sind längst nicht mehr nur einzelne Unternehmen wie Google oder SAP, die Achtsamkeit als Teil ihrer Human-Resources-Programme entdeckt haben. Vor allem aber zeigt die Szene, wie weit sich Achtsamkeitspraktiken von ihren einstigen Kontexten gelöst haben. Mittlerweile hat Achtsamkeit in so gut wie alle gesellschaftliche Bereiche Eingang gefunden: von den Unternehmen über Hochschulen und Gefängnissen bis hin zum Militär.23 Und für so gut wie jede Aktivität erscheinen entsprechende Ratgeber: achtsames Essen, achtsames Erziehen, achtsamer Sport, achtsame Beziehungen usw.
Man kann Ron Purser, einem der bekanntesten Kritiker dieser Entwicklung, nur zustimmen, wenn er sagt: Achtsamkeit ist im Mainstream angekommen.24 Den finalen Beweis dafür habe ich letztens wieder auf meinem iPhone gesehen. Wie die gegangenen Schritte können auch die »Minuten der Achtsamkeit« in der Health-App gezählt werden.
Achtsamkeit und das gelingende Leben
Schon die kurze Geschichte verdeutlicht, welch langen Weg die Achtsamkeit hinter sich hat: die Geburt der vipassana-Meditation in Südostasien, ihre Verbreitung durch buddhistische Mönche und Laien in Europa und Amerika, die Verbindung von Achtsamkeit und Zen, die Einführung der Achtsamkeit in den Gesundheitsbereich und schließlich ihre völlige Entgrenzung. Die jeweils neuen Erscheinungsformen verdrängen dabei keineswegs die älteren. Vielmehr versammeln sie sich alle unter dem Begriff »Achtsamkeit«. Das asketische Retreat, die achtsamen Stressreduktionskurse, Achtsamkeitsübungen via App in der Arbeitspause – all das findet gleichzeitig statt.
Angesichts dieser Vielfalt verstehen Sie hoffentlich schon besser, weshalb ich der eingangs erwähnten ersten Antwort auf die Frage, was Achtsamkeit sei, so skeptisch gegenüberstehe. Es wäre doch sehr überraschend, wenn überall ein und dieselbe Sache gemacht würde, wenn es überall ausschließlich darum ginge, einfach etwas gegenwärtiger zu sein.
Deshalb habe ich nun eine schlechte und eine gute Nachricht für Sie. Die schlechte ist, dass ich nur eine etwas vage, sehr abstrakte Definition von Achtsamkeit anzubieten habe. Sie lautet:
Achtsamkeit umfasst zahlreiche meditative Praktiken, die indirekt oder direkt mit buddhistischen Traditionen verbunden sind und den Anspruch haben, ein gelingendes Leben zu ermöglichen, indem sie eine achtsame Selbst- und Welt-Beziehung oder Haltung einüben.
Aus dieser Definition wird ersichtlich, dass von Achtsamkeit grundsätzlich in zweierlei Hinsicht gesprochen wird: einmal in der angeführten weiten Definition als kultureller Praxis und einmal in einem engeren Sinne, eben just in der spezifischen Selbst- und Weltbeziehung. Da der Begriff »Selbst- und Weltbeziehung« etwas sperrig ist, verwende ich nachfolgend für die Achtsamkeit im engeren Sinne meist den Begriff »Haltung« und bezeichne damit die Art und Weise, wie wir uns zu uns selbst und wie wir uns auf die Welt beziehen.
Die gute Nachricht ist, dass diese abstrakte Definition es uns ermöglicht, relevante Unterschiede innerhalb der Achtsamkeitsbewegung zu sehen – und dabei Raum lässt für eine Systematisierung. Und in der Tat: Ich möchte behaupten, dass in der Achtsamkeitsbewegung drei ganz unterschiedliche Modelle oder Formen zu finden sind, gelingendes Leben zu denken. Mit diesen Formen gehen nicht nur unterschiedliche Annahmen über den Menschen und die Welt überhaupt einher. Auch die Achtsamkeit im engeren Sinne als Haltung wird ganz unterschiedlich bestimmt, wie ich gleich zeigen werde.
Erst wenn wir diese unterschiedlichen Formen in den Blick bekommen, können wir differenziert über die Achtsamkeitsbewegung sprechen. Erst dann verstehen wir, was uns an der Achtsamkeit fasziniert oder womöglich irritiert, was Aspirant:innen auf dem Meditationskissen anstreben oder woran sie verzweifeln oder worüber in Zeitschriften geschwärmt oder im Feuilleton gestritten wird.
Bevor ich die drei Typen vorstelle, möchte ich eines voranschicken: Ich spitze zu, betone die Unterschiede, übergehe manche Gemeinsamkeiten, Schattierungen, Ungenauigkeiten. Ich forme, wie es in der Soziologie so schön heißt, Idealtypen. Diese kommen in ihrer Klarheit in der Empirie zwar nicht vor, entwirren aber die unendlichen Facetten des Alltags und machen ihn verständlicher.25
Sezierend-distanzierte Achtsamkeit:
Mit Selbstvervollkommnung zur Erlösung
Im ersten Typ geht es ums Ganze: Vervollkommne dich und sieh die Welt, wie sie ist, und du wirst erlöst werden – so lässt sich das Versprechen und das Ziel dieser Achtsamkeit auf den Punkt bringen. Sie findet sich vor allem in der vipassana- und Einsichtsmeditation.
Im Zentrum der vipassana-Meditation steht die diszipliniert geübte Sitzmeditation. Während der jeweiligen Einheit, die meist eine Stunde dauert, soll auf jegliche Regungen des Körpers verzichtet werden. Auf jegliche. Schmerzende Knie, quälende Langeweile oder ein penetranter Juckreiz – der Körper soll davon unbeeindruckt aufrecht verweilen (und bleibt es in der Praxis natürlich nicht immer).
Als ich meine erste Stunde im Retreat 2014 einigermaßen regungslos hinter mich gebracht hatte, dachte ich: »Na, das war doch erstaunlich einfach.« Der Haken war, die Sitzmeditation wird in der vipassana-Meditation nicht nur diszipliniert, sondern auch extensiv geübt: je nach Tradition bis zu zehn Stunden täglich.
Während dieser Stunden gibt es neben dem Stillhalten nur eine Aufgabe: Egal, was vor dem inneren Auge erscheint, es soll nüchtern beobachtet werden. Genauer gesagt werden vier Schritte quasi in einer Endlosschleife wiederholt:
Mit Achtsamkeit im engeren Sinne ist nun die Art und Weise gemeint, wie genau man sich zu diesen Meditationsobjekten verhält.26 Wie also soll man mit der Atmung, den Schmerzen oder dem Juckreiz umgehen?
Die Antwort der vipassana-Meditation ist immer eine zweifache: Alle auftretenden »Objekte« sollen sowohl objektiv beobachtet als auch sezierend erforscht werden. Statt also die Sinneseindrücke willentlich zu verändern, zu bewerten oder zu interpretieren, soll man sie nüchtern und distanziert registrierten und zugleich immer feiner, präziser und gründlicher beobachten. Die Achtsamkeit der vipassana-Meditation ist eine distanziert-sezierende Achtsamkeit.
Das ist leichter gesagt als getan. Erst kürzlich berichtete mir ein Bekannter von seinen Erfahrungen aus einem zehntägigen Goenka-Retreat – und eigentlich kreiste alles um seinen Kampf mit den schmerzenden Knien. Erst ein paar Wochen nach dem Retreat, so berichtete er, seien seine Knie wieder »die alten« gewesen. Der vipassana-Meditation haftet etwas Heroisches, beinahe Martialisches an. In den Worten des ceylonesischen Mönches Henepola Gunaratana aus seinem Bestseller Die Praxis der Achtsamkeit: »Vipassana-Meditation ist kein Spiel.«27
Umso mehr stellt sich die Frage: Wozu das alles? Warum sollte man sich das antun? Was verspricht man sich davon? Was wird einem davon versprochen?
Es ist ebenjene eingangs formulierte Überzeugung, nach der das Leben nur dann gelingt, wenn wir nach Vervollkommnung und Erlösung streben – und damit steht die bisher unterschlagene Behauptung im Raum, dass in unserem alltäglichen Leben etwas gehörig schiefläuft. Die vipassana-Meditation ist nämlich nichts anderes, wie es bei Gunaratana weiter heißt, als »ein Weg nach oben und hinaus aus dem Morast, in dem wir alle stecken, dem Sumpf unserer eigenen Begierden und Abneigungen.«28
Das leuchtende Versprechen der Erlösung hängt demzufolge unzertrennlich mit einer düsteren Diagnose zusammen: der buddhistischen Lehre von der leidhaften Existenz (Pali: dukkha; Sanskrit: duhkha), die Gunaratana hier als »Morast« bezeichnet. Dieser Leidbegriff umfasst sowohl konkrete Leiderfahrungen (Hallo, Knieschmerzen!) als auch die allgemeine Überzeugung, wonach weder leidhafte noch glückliche Momente als Grundlage einer dauerhaften glücklichen Existenz dienen können. »Anhaften an Positivem hält Sie«, so Gunaratana, »mit Sicherheit genauso im Schlamassel wie Verhaftungen im Negativen.«29
Um diesem düsteren Tal unseres Alltags zu entkommen, gibt es nur einen Weg: die Selbstvervollkommnung. Denn die Ursache des Leidens wird zurückgeführt auf ebenjenen »Sumpf« aus Begierde und Abneigungen. Alle Tätigkeiten oder Handlungen (Sanskrit: karma), die aus Begierde oder Abneigung entspringen, gelten als Ursache künftigen Leids. Gerade hieraus begründet sich die distanzierte Qualität der Achtsamkeit: In der Meditation soll just eine Haltung eingeübt werden, die auf die Meditationsobjekte weder mit Begierde noch mit Abneigung reagiert, ihnen weder zuneigt noch ausweicht. Sie ist damit die fundamentale Voraussetzung, um als heilsam betrachtete Faktoren wie Gelassenheit oder Mitgefühl zu entwickeln.
Und es gibt noch eine dritte Ursache des Leidens, es ist wohl die ultimative: die Illusion oder Verblendung (Pali: moha). Sie gehört wie die Begierde und Abneigung zu den »Drei Wurzeln des Bösen« (Pali: akusula-mula; Sanskrit: akusala-mula). Diese Verblendung bezieht sich darauf, dass wir in unserem alltäglichen Bewusstsein nicht wissen, nicht akzeptieren, nicht wahrhaben wollen, wie die Welt eigentlich beschaffen ist: leidhaft (wie oben beschrieben), unbeständig oder vergänglich (anicca) und ohne beständiges Selbst (anatta).
Genau auf diese Überwindung der Verblendung bezieht sich vipassana oder Einsicht. Meist wird sie definiert als eine Fähigkeit, »die Dinge so zu sehen, wie sie sind«.30 Und so lässt sich auch die zweite von mir ausgemachte Qualität – das Sezieren – verstehen: Alles, was erscheint, soll so genau betrachtet werden, dass sich die Welt, wie sie eigentlich ist, offenbart. In allem ist Leid, in allem ist Unbeständigkeit, nirgends ist ein Selbst, das überdauert, zu finden! Aus dieser Einsicht heraus, so lautet das Versprechen, können wir das Leid überwinden und treten ein in das nibbana (Pali) oder nirvana (Sanskrit), einen nicht näher bestimmten Zustand des Unbedingten jenseits aller leidhaften, unbeständigen Dinge.
Kurzum: Die vipassana-Meditation versteht sich als ein Weg der Läuterung beziehungsweise der Reinigung oder auch der Vervollkommnung. Indem die drei unheilsamen, Leid verursachenden »Wurzeln des Bösen« ersetzt werden durch heilsame Faktoren (etwa Gelassenheit oder Mitgefühl), soll am Ende die befreiende Einsicht für die Meditierenden stehen. Die distanziert-sezierende Achtsamkeit bereitet in dieser Logik die Einsicht vor, indem sie die Welt der Dinge distanziert betrachtet und zugleich seziert, sodass »die Dinge so gesehen werden können, wie sie sind«.
Ich symbolisiere diese Achtsamkeit gerne mit einem Ausrufezeichen. Egal womit wir es zu tun haben: Die distanziert-sezierende Achtsamkeit setzt hinter jede Erfahrung eine befreiende Bestätigung: »Ich sehe: Die Welt ist unbeständig! Es gibt Leiden! Das Selbst ist eine Illusion!« Von dieser Warte aus betrachtet, sind auch die Knieschmerzen nur eine willkommene Möglichkeit, dies zu erkennen.
Interessiert-sorgende Achtsamkeit:
Auf der Suche nach Lebendigkeit
»Wenn einer unserer Körperteile gefühllos wird oder schmerzt, sagt er uns etwas, und wir sollten auf ihn hören.«31 Hätte dieser Satz von Nhat Hanh, dem vietnamesischen Mönch, im obigen Abschnitt stehen können? Wohl kaum. Und das ist kein Zufall. Vielmehr verweisen Sätze wie diese auf die zweite Art und Weise innerhalb der Achtsamkeitsbewegung, ein gelingendes Leben zu denken. Auch in diesem zweiten Typ geht es ums Ganze – nur um ein ganz anderes. Und etwas subtiler. Fühle und frage nach dem Besonderen, so lautet das Versprechen, und du wirst das eigentliche Leben spüren.
Die zweite Form der Achtsamkeit lässt sich nicht so klar wie die distanziert-sezierende einem Kontext der Achtsamkeitsbewegung zuordnen. Wir haben sie bei der kurzen Geschichte in verschiedenen Etappen gestreift: Die Einsichtsmeditation von Jack Kornfield zähle ich ebenso zu dieser zweiten Form wie die Zen-Achtsamkeit von Nhat Hanh und die medizinische und populäre Achtsamkeit von Jon Kabat-Zinn.
Während bei der sezierend-distanzierten Achtsamkeit die Sitzmeditation Chiffre und Kern der Praxis ist, so ist es nun eine Differenz: die zwischen den formellen und informellen Praktiken.32 Formelle Praktiken wie die Sitzmeditation werden exklusiv, in einer klar definierten Form, Dauer und Abfolge geübt. Informelle Praktiken hingegen finden während alltäglicher Aktivitäten statt. Die einen erheben den täglichen Gang über den Büroflur zur informellen Praktik, die anderen den Abwasch.33 Achtsamkeit bezeichnet dann nicht mehr die Achtsamkeit von Sinneseindrücken, sondern die Achtsamkeit bei Tätigkeiten, die mit voller Hingabe und Konzentration ausgeübt werden.34
Die Einführung dieser Differenz lässt sich verstehen als eine Abgrenzung vom ersten Achtsamkeitstyp. Achtsamkeit soll nicht mehr nur vorrangig auf dem Kissen in Abgeschiedenheit vollzogen werden, sondern einen Ort im täglichen Leben haben. Die informellen Praktiken wirken als Vehikel, um nach und nach den gesamten Alltag zu »verachtsamen«. Paradoxerweise dient also die gezogene Differenz gerade dazu, eine andere zu überwinden, nämlich die zwischen Alltag und Meditation.
Die Verschiebung und Ausweitung der Achtsamkeitspraxis geht einher mit einer qualitativ anderen Bestimmung der Achtsamkeit im engeren Sinne, der achtsamen Selbst- und Weltbeziehung. Nicht mehr die Distanzierung und das Sezieren der Sinneswelt steht im Vordergrund, sondern eine Achtsamkeit, die sich mit einem empathischen, einem genuinen Interesse ihren »Meditationsobjekten« nähert. In den Achtsamkeitsanleitungen der Protagonist:innen dieser Achtsamkeit lesen wir Adjektive wie »freundlich«, »liebevoll« oder »sanft«.35 Besonders das im Deutschen schwer zu übersetzende Wort »careful« ist nun häufig zu finden. Obwohl es gewöhnlich mit »sorgfältig« oder »vorsichtig« übersetzt wird, meint es aber gerade auch »sorgsam« oder »behutsam«.36
Die interessiert-sorgende Achtsamkeit, wie ich diesen zweiten Typ nenne, beobachtet die Sinneswelt nicht nüchtern-kühl, sondern sie »lauscht«, »fühlt«, »hört zu«.37 Das ist keine Wortklauberei, sondern zeigt an, dass Achtsamkeit hier eine Dimension erhält, die dem ersten Typ der distanziert-sezierenden Achtsamkeit fremd ist: die Selbstsorge. Neben der Achtsamkeit von Sinneseindrücken wie der Atmung und der Achtsamkeit bei alltäglichen Aktivitäten wie dem Abwaschen haben wir es also zudem mit einer »Achtsamkeit auf« zu tun, im Sinne eines »Auf-sich-Hörens«. Achtsam zu sein, meint in diesem Typus, die Empfindungen des Körpers sorgfältig wahrzunehmen und sorgsam mit ihnen umzugehen, seine Bedürfnisse zu respektieren und wertzuschätzen. Die Veränderung der Sitzhaltung zeugt nicht mehr von einem Scheitern, sondern bekräftigt hier zumeist eine interessiert-sorgende Achtsamkeit.
Der Aspekt der Sorge bezieht sich in der interessiert-sorgenden Achtsamkeit auch auf andere Menschen. Dies hängt bei Nhat Hanh etwa mit seinem Verständnis eines engagierten Buddhismus zusammen, tritt aber auch dort auf, wo Achtsamkeit in dem Sinne verstanden wird, anderen offen und mit voller Aufmerksamkeit zuzuhören.38 Die interessiert-sorgende Achtsamkeit kennt also vier Modi: Achtsamkeit von, bei, auf und für, wie ich diese bezeichne.
Aber selbst wenn diese Achtsamkeit weniger heroisch, ja vielleicht etwas menschlicher daherkommt, stellt sich auch hier die Frage nach dem Wozu. Warum sollten wir, ich paraphrasiere einen Satz von Nhat Hanh, das Geschirr waschen, um das Geschirr zu waschen?39 Warum sollten uns die trivialsten Aktivitäten interessieren? Woher die plötzliche Aufwertung des Körpers?
Eben weil es auch hier ums Ganze geht, weil auch hier das Leiden als Hintergrundfolie, wenn auch in anderer Farbe, bestehen bleibt. »Die Tage, Monate und Jahre«, so heißt es in einer pointierten Passage von Jon Kabat-Zinn, die es leider nur in Teilen in die deutsche Ausgabe geschafft hat, »vergehen schnell – unbemerkt, ungenutzt, nicht wertgeschätzt. Es passiert allzuleicht, daß wir auf einer umnebelten, schiefen Bahn ins Grab schlittern.«40 Es ist die Klage eines verpassten Lebens, das Gefühl »nicht wirklich bei sich selbst zu sein« und »nicht wirklich in der Welt zu stehen«, das in den Fokus gerückt wird. Etwas allgemeiner gesagt: Das Leiden der interessiert-sorgenden Achtsamkeit wird definiert als ein Selbst- und Weltverlust.
Dieser Fokus ist im Vergleich zur distanziert-sezierenden Achtsamkeit eine erstaunliche, ja fundamentale Verschiebung: Statt die leidhafte Existenz zu überwinden, geht es darum, das Leben nicht zu verpassen. Statt Erlösung anzustreben, darum, das Leben wirklich zu leben.
In den nächsten Kapiteln werde ich diese Verschiebung als eine Strategie deuten, Achtsamkeit als eine für den »Westen« anschlussfähige Praxis zu präsentieren. Ich will aber zunächst zeigen, wie diese Verschiebung zusammenhängt mit der Umdeutung der zentralen Grundannahmen. Und dabei spielt die bereits angedeutete Verbindung der vipassana-Meditation mit dem Zen-Buddhismus eine relevante Rolle.
Wie das Leiden so erfahren auch die Lehren des »Nicht-Selbst« (anatta) und die Lehre der Unbeständigkeit (anicca) eine Umdeutung. So taucht plötzlich ein positiv konnotiertes »wahres« oder »reales Selbst« auf und damit Spuren des mahayanischen buddhata oder der »Buddha-Natur«. Vor allem tritt eine gänzlich neue Annahme auf: die »Leere« (Sanskrit: sunyata) oder Interdependenz. Sie bezeichnet, in meinen Worten, die Annahme, dass alles, was existiert, nicht aus sich selbst heraus besteht. Alles, was ist, ist damit »leer«, ohne eine sich selbst genügende Identität. Ein Blatt Papier, so das illustrative Beispiel von Nhat Hanh, könne nicht aus sich selbst heraus existieren, sondern »enthalte« Wolken, Regen, Bäume usw. Seine eingängige Formel ist daher: »›To be‹ is to inter-be.«41 Einsicht, hier häufig als »looking deeply« oder »tief blickend« bezeichnet, umfasst in diesem Achtsamkeitstyp deshalb auch, die Dinge als fundamental miteinander verbunden zu erkennen.
Aus dieser Annahme ergeben sich viele Konsequenzen: Das Selbst kann nicht als isoliertes gedacht werden, sondern als ein »wahres Selbst«, das mit allem verbunden ist; die bereits behandelte Trennung von Praxis und Alltag erscheint künstlich; die kategoriale Unterscheidung von weltlicher Unbeständigkeit (Pali: anica) und dem ominösen Zustand des Unbedingten (Pali: nibbana) ist unhaltbar. Vor allem aber wird nun die Unbeständigkeit des Lebens positiv besetzt. Statt der Vergänglichkeit der distanziert-sezierenden Achtsamkeit haben wir es zu tun mit: Lebendigkeit. Jeder Moment, und sei er noch unbeständig, wird als einzigartig und in sich als wertzuschätzender aufgefasst.42 So spricht Kabat-Zinn in seinem Kapitel zur »Verbundenheit« von einer »Würdigung der Impermanenz«.43 Dem zweiten Typ der Achtsamkeit zufolge, ist es also gerade die Einzigartigkeit eines jeden Moments, in dem das eigentliche Leben zu erspüren ist.
Der Logik der Einzigartigkeit folgend, symbolisiere ich diese Achtsamkeit deshalb gerne mit einem Fragezeichen. Es steht dafür, dass in jedem Moment interessiert und zugewandt gefragt werden soll: »Was ist jetzt? Und jetzt? Und jetzt?« Das Hier und Jetzt ist nicht mehr ein Mittel zum Zweck der Erlösung, sondern Mittel und Zweck gelingenden Lebens. Der drohende Selbst- und Weltverlust wird nach diesem zweiten Achtsamkeitstyp schon allein dadurch abgewendet, dass wir achtsam das Geschirr spülen oder den Atem spüren, wie er ein- und ausströmt.
Funktionalistische Achtsamkeit: Die Optimierung des Selbst
Im dritten Achtsamkeitstyp geht es nicht mehr ums Ganze, sondern um eines: sich selbst. Diese Achtsamkeit gründet auf dem moralischen Imperativ: Beseitige die Störungen, die dich davon abhalten, deine Ziele und Zwecke zu verfolgen.
Diese dritte Version gelingenden Lebens innerhalb der Achtsamkeitsbewegung findet sich entlang der letzten beiden Etappen unserer kurzen Geschichte, sowohl in ihrer medizinischen Verwendung als auch in der Mainstream-Achtsamkeit. Während ich Kabat-Zinns Modellierung der Achtsamkeit in seinem Programm Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) zum vorigen Typ der interessiert-sorgenden Achtsamkeit rechne, zähle ich die daraus abgeleiteten Programme wie die Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) zu diesem dritten Typ.
Ich hatte ja bereits betont: Das Feld der Mainstream-Achtsamkeit ist unüberschaubar. Ich beschränke mich deshalb auf zwei ganz prominente Beispiele: auf die Konzeption der Achtsamkeit von Andy Puddicombe, Gründer der Erfolgs-App Headspace, und auf das von Chade-Meng Tan bei Google 2007 entwickelte Programm Search Inside Yourself. Letzteres ist besonders relevant, da Tan seinen als SIY abgekürzten Ansatz seit 2012 in einem eigenständigen Institut verbreitet (SIYLI) und dort ausgebildete Achtsamkeitstrainer:innen auch bei bekannten Unternehmen wie SAP lehren.44
Was die konkrete Meditationspraxis angeht, so bietet dieses Modell vor allem eine Verkürzung der geforderten Übungsdauer – bei Headspace waren es mal zehn Minuten täglich, jetzt beginnt es mit drei Minuten. Was die Bestimmung der Achtsamkeit als Haltung angeht, so werden vor allem bekannte Definitionen verwendet. Beispielsweise zitiert Tan die Definitionen von Kabat-Zinn und Nhat Hanh. Natürlich: Bei dieser Rezeption gibt es viele Unterschiede im Detail. Viel spannender und entscheidender ist bei diesem Typ aber, wie Achtsamkeit gerahmt, wie Achtsamkeit gedeutet, wie hier die Frage beantwortet wird, wozu wir sie üben sollten.
Als Erstes fällt auf, dass bei dieser Achtsamkeit letztlich eine anspruchsvolle Vorstellung von Einsicht aufgegeben wird. Bei der distanziert-sezierenden Achtsamkeit ist sie das unumstößliche Ziel der Übung. Und auch wenn die Einsicht bei der interessiert-sorgenden Achtsamkeit nicht mehr ganz so systematisch verwendet wird, ja sogar begrifflich mit der Achtsamkeit verschwimmt, so ist sie dort nicht minder von Bedeutung. Bei dem dritten Modell hingegen wird Achtsamkeit von dem Begriff der Einsicht vollständig gelöst.
Vielmehr stehen viele vermeintlich positive, wissenschaftlich belegte Effekte auf die Gesundheit und eine Verbesserung aller möglichen Lebenssituationen im Fokus.45 Ich schreibe ganz bewusst von »vermeintlichen« Effekten, da vermehrt Studien erscheinen, die diese »positiven« Ergebnisse relativieren oder auf negative gesundheitliche Effekte hinweisen. Dieser Umstand findet mittlerweile auch Eingang in die öffentliche Debatte.46
Dessen ungeachtet präsentieren viele Protagonist:innen – bisher zumindest – Achtsamkeit als eine Art Allheilmittel, das in jeder Situation wie ein »MacGyver Schweizer Messer«47 helfe. Die explosionsartige Zunahme verschiedener Programme, Ratgeber und Apps geht nicht zuletzt auch auf diese Entgrenzung zurück, die zugleich eine thematische Eingrenzung darstellt: Wenn Achtsamkeit bei so gut wie allem nützt, kann zu allem ein Buch unter dem Stichwort Achtsamkeit geschrieben werden.
Und dieses »Nützen« ist genau das, worum es bei diesem dritten Typ, der funktionalistischen Achtsamkeit, geht. Es geht nicht darum, eine wie auch immer geartete Wirklichkeit zu erkennen oder aufzudecken. Eine Wirklichkeit, die das Bild davon, wer wir sind und wie wir die Welt, in der wir leben, wahrnehmen, potenziell gründlich ändern kann. Es geht auch nicht um die Transformation eines als grundsätzlich falsch erachteten Lebensvollzugs. Nein, die funktionalistische Achtsamkeit schert sich nicht um die Welt, sondern darum, wie sich der Einzelne in dieser bewährt.48
Daraus aber zu schließen, diese Achtsamkeit verhalte sich neutral gegenüber der Frage des gelingenden Lebens, wäre zu einfach. Der moralische Kern liegt vielleicht nur etwas versteckter. Ein Zitat von Puddicombe, dem Headspace-Gründer, kann das gut illustrieren:
Meditation ist eine wunderbare Technik, die Ihr Leben verändern kann. Wie Sie diese Technik einsetzen, liegt ganz allein bei Ihnen. Jetzt, da die Medien sich verstärkt mit Meditation und Achtsamkeit beschäftigen, scheinen Lehrmeister [im Original: people] es eilig zu haben, deren Zweck zu definieren. In Wahrheit definieren Sie diesen Zweck, indem Sie entscheiden, wie Sie Meditation einsetzen.49
Dieses Zitat stellt eine ziemliche Verdrehung der Tatsachen dar. Denn wie ich gezeigt habe, ist der Zweck der Achtsamkeit in den vorigen beiden Typen und vor allem im buddhistischen Kontext ja eng definiert – und somit die beklagte Definition ihres Zweckes mitnichten ein Symptom ihrer Popularität. Es verhält sich doch umgekehrt: Die »eilige Definition ihres Zweckes« kann man verstehen als einen Versuch, Achtsamkeit gegen eine beliebige Verwendung zu verteidigen, als eine Kritik an der außerbuddhistischen Aneignung.
Es ist nicht ohne Ironie, dass Puddicombe eine vermeintliche voreilige Zweckbestimmung der Meditation kritisiert und zugleich genau dies tut: den Zweck der Meditation zu bestimmen, ein Werkzeug zu sein. Eines das gänzlich im Dienst des Subjektes steht und für dessen Interessen, Wünsche und Ziele eingesetzt werden kann. Ganz deutlich wird dies im englischen Original. Dort heißt es im letzten Satz: »how you choose to use it«.50
Das Achtsamkeitswerkzeug hat einen Ansatzpunkt: die innere Zerstreuung, das reaktive Abspulen von Mustern oder Bewertungen. Sie gelten nicht als moralisch kritikwürdig, weil so das eigentliche Leben verpasst oder schlechtes karma angesammelt würde. Nein, die Zerstreuung wird in der funktionalistischen Achtsamkeit allein deswegen problematisiert, weil sie dem Subjekt im Wege stehe. Sie stört die freie Wahl.51
Die Übung der Achtsamkeit dient weniger der Transformation des Selbst, sondern dem Selbst selbst. Die Meditation hat nicht das Ziel, etwas Entscheidendes über uns oder die Welt zu erfahren, sondern den Weg für den eigenen Willen frei zu machen. Sie ist das Werkzeug eines freien und über sich verfügenden Selbst, das sich dank der Technik den Forderungen der Welt besser zu stellen vermag – und das »auf Kommando«, wie es Tan schreibt.52 Das gute Leben besteht nicht in der Überwindung oder in der Entfaltung des wahren Selbst, nein, es besteht in dessen Selbstoptimierung.
Ich symbolisiere diese funktionalistische Achtsamkeit deshalb gerne mit einem Doppelpunkt. Er steht hinter dem Wollen des Subjektes: »Ich will: …«
Exkurs: kitschige Achtsamkeit?
Ich habe diese kurze Geschichte der Achtsamkeit mit ihren fünf Etappen und den drei Formen, das gelingende Leben zu denken, schon einige Male beschrieben und vorgetragen. Und doch mehren sich bei mir die Zweifel, ob ich die Achtsamkeitsbewegung – jenseits der notwendigen Reduktion auf Idealtypen – hinreichend beschrieben habe.
Mit dem Wort Achtsamkeit werden mittlerweile so viele Bedeutungs- und Verwendungszusammenhänge verbunden, dass mir manchmal die Frage kommt, ob der Begriff überhaupt noch bedeutungsvoll ist. Ich erahne in manchen beiläufigen Alltagsbeobachtungen immer noch Spuren der soeben unterschiedenen drei Typen. Aber die Verbindungen werden loser, wenn es sie denn überhaupt noch gibt. Während ich über Achtsamkeit forschte und versuchte, ihr Terrain zu vermessen, türmten sich, um die eingangs verwendete Metapher zu bemühen, immer neue Gipfel und Bergketten auf.
Ich denke, ich hätte schon gegen Ende meiner Dissertation eine weitere, vierte idealtypische Form innerhalb des Achtsamkeitsdiskurses sehen und unterscheiden müssen. Ich kann diese zwar noch nicht genau fassen und habe dafür zu wenig empirisches Material. Doch ich habe eine Vermutung:
Mit diesem vierten Typus müsste der heute häufig zu beobachtende Allgemeinplatz erfasst werden, in dem »Achtsamkeit« für ein wenig mehr Selbstbezogenheit und den Wunsch nach Ruhe steht. Dieser hat mit dem Ernst und Anspruch der asketischen Variante, die ich im Retreat kennenlernte, fast gar nichts mehr gemein – außer dem Namen. Achtsamkeit ist in dieser vierten Form eher ein Symbol als eine konkrete, regelmäßige Übung. Es ist eher eine mediale, popkulturelle Selbst-Praxis. Wie die Buddhastatue für ein paar Euro, so ist auch der Achtsamkeitskalender, wie er in Buchläden mittlerweile zu finden ist, ein Beispiel für diese ganz und gar trivialisierte Achtsamkeit. Diese begegnet uns immer häufiger dort, wo wir sie noch vor wenigen Jahren nicht vermutet hätten: beim Lego-Spiel, das plötzlich als Übung der Achtsamkeit vermarktet wird, im Supermarkt beim Griff zu einem »Innere-Ruhe«-Kräutertee oder auf einem Flyer für Kochboxen, die nicht nur leckeres Essen, sondern zudem achtsames Kochen versprechen. In manchen dieser Achtsamkeitsprodukte finden wir vielleicht ein paar Meditationsübungen, ein paar aufbauende Verse, die Betonung von Selbstliebe und -fürsorge. Doch so niedlich sich diese Objekte und Sprüche auch geben, so vage und unverständlich bleiben sie.
Ich bezeichne diese Achtsamkeit als Kitsch. Kitsch entsteht dann, so hat es der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler formuliert, »wenn immer schon vorausgesetzt und der Zielgruppe klar ist, was relevant und richtig ist«. Man sagt »Achtsamkeit« oder »Lebe in der Gegenwart!«, und das entsprechende Milieu nickt zustimmend, während andere wie ich darüber den Kopf schütteln. Es fordert die einen nicht auf, etwas zu ändern, und verhindert bei den anderen, sich etwas genauer mit Achtsamkeit in ihren komplexeren Formen auseinanderzusetzen.
Diesen vierten, hier nur angedeuteten und vermuteten Typ der Achtsamkeit, werde ich im Folgenden nicht behandeln. Es würde das Thema sprengen – und ich würde zu viel in einen Topf werfen. Doch die Kritik an der Achtsamkeit, wie ich sie noch entwickeln werde, scheint mir ganz besonders auf diesen vierten Typus zutreffen.
Symbolisieren ließe sich diese kitschige Achtsamkeit durch einen Punkt: eine vermeintlich in sich abgeschlossene Sache. Und zusammenfassen ließe sich ihr Anspruch dementsprechend so: Sei achtsam und alles ist gut (oder zumindest besser).
Sehnsucht nach Sicherheit in unsicheren Zeiten
Meine Analyse von Achtsamkeit als kultureller Praxis steht konträr zu der eingangs genannten ersten Antwort auf die Frage, was Achtsamkeit sei. (Zur Erinnerung: Achtsamkeit ist die Fähigkeit und der Zustand, ganz gegenwärtig zu sein.) Zweifelsohne taucht dieses Moment, der Gegenwartsbezug, in allen Facetten der Achtsamkeitsbewegung auf. Ich werde darauf im letzten Kapitel eingehen. Achtsamkeit aber im Sinne der ersten Antwort auf den Gegenwartsbezug zu reduzieren, halte ich für falsch. Und das aus drei Gründen.
Der erste und naheliegendste Grund ist die offensichtliche Heterogenität der Achtsamkeitsbewegung. Wie ich gezeigt habe, gibt es drei ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage des gelingenden Lebens. Hier noch mal zusammengefasst:
Achtsam zu sein, kann also heißen, der buddhistischen Moral entsprechend zu leben (1.), dem »wirklichen Leben« nachzuspüren (2.) oder seine eigenen Ziele möglichst effektiv zu verfolgen (3.). Achtsamkeit lediglich im Sinne der ersten Antwort zu bestimmen, würde die Achtsamkeitsbewegung verflachen – obwohl die drei ganz unterschiedlichen Verwendungsweisen und Praktiken der Achtsamkeit gegenwärtig benutzt und geübt werden.
Der zweite Grund ist, dass sich hinter der verkürzten Antwort eine in der Achtsamkeitsbewegung weitverbreitete Annahme verbirgt, wonach es sich bei Achtsamkeit um eine universelle, natürliche Eigenschaft und Fähigkeit des Menschen handele. Nicht die Unterschiede, Widersprüche und der jeweilige soziale und gesellschaftliche Kontext der Achtsamkeit gelten als entscheidend, sondern ihr Kern, ihr Wesen, ihre Essenz. Unter der Hand wird durch diese Essentialisierung der Achtsamkeit aber die Frage gelingenden Lebens als eine psychologische Frage aufgefasst. Natürlich: Achtsamkeit hat eine psychologische Dimension. Aber daraus folgt nicht, dass wir Achtsamkeit kultivieren sollten und dass die mit der Achtsamkeit verbundenen Annahmen und Vorstellungen gelingenden Lebens überzeugend sind. Just die Fähigkeit, gegenwärtig sein zu können, hervorzuheben (und nicht etwa die Fähigkeit, zu denken, zu spalten, zu lieben, zu verletzen, you name it), ist das Ergebnis eines Werturteils. Und über solche Werturteile müssen wir uns kollektiv verständigen. Ich werde in den folgenden Kapiteln immer wieder auf den Irrtum der psychologischen Verengung zurückkommen.
Die Essentialisierung der Achtsamkeit, also die Nivellierung aller Differenzen durch das Postulat einer vermeintlichen universellen Eigenschaft, geht zudem – und damit komme ich zum dritten und letzten Grund – mit einer Essentialisierung des Menschen einher. Am anschaulichsten wird dies bei der Berg-Meditation, wie sie im Programm Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) von Kabat-Zinn geübt wird. Bei dieser stellt man sich vor, ein Berg zu sein. Als dieses »Berg-Ich« setzt man sich nun den Witterungen und Jahreszeiten aus. Der Clou dabei: Der Berg selbst, so zumindest die Deutung in der Meditationsanleitung, verändert sich dabei nicht. Der Berg steht unerschütterlich und unbewegt. Wind und Wetter, Sonne und Sturm können ihm nichts anhaben. Der Berg wird zum Sinnbild für eine reine, universelle menschliche Eigenschaft. Mehr noch: Er symbolisiert eine Stabilität, die uns Achtsamkeit verspricht, »und dies inmitten all der tosenden Stürme«53.
Es war also nicht ganz zufällig, dass ich anfangs die Metapher des Berges und Gebirges wählte. Achtsamkeit als einen universellen Kern des Menschen zu bestimmen, scheint mir weniger mit »der Sache an sich« zu tun zu haben, sondern der Ausdruck einer modernen Sehnsucht zu sein. In einer Welt, die immer komplexer wird und sich immer schneller zu drehen scheint, verspricht das Postulat eines universellen, in uns zu findenden Kerns Einfachheit, Klarheit und Halt. Doch auch wenn es verführerisch sein mag, in uns nach einer einfachen Lösung für das verworrene Leben zu suchen – dieser Halt ist haltlos. Denn sobald wir uns diesen angeblichen Kern genauer anschauen, stoßen wir, wie ich zu zeigen versucht habe, auf ganz unterschiedliche Vorstellungen gelingenden Lebens. Die Suche endet hier nicht. Sie beginnt erst.