Stadtflucht und Immigration
Der Exodus der Bevölkerung ist ein Phänomen, das Venedig seit langem bedroht. Auf der digitalen Einwohneruhr am Campo San Bartolomeo (Nähe Rialtobrücke, im Schaufenster der Apotheke) kann jeder den tagesaktuellen Einwohnerstand ablesen. Der lag Ende 2013 bei 58.000, das ist etwas weniger als ein Drittel des Einwohnerhöchststands im 16. Jh. 1950 waren es noch ca. 175.000, in den 1980er-Jahren bereits unter 100.000. Tendenziell hält die Stadtflucht der Venezianer auch im neuen Jahrtausend an, auch wenn die Statistiken zwischenzeitlich immer mal wieder eine Stagnation und gelegentlich sogar eine Zuzugsbewegung in bevorzugten Ecken der historischen Stadtteile registrieren. Die seit langem kursierende Untergangsvision von einer menschenleeren Museumsstadt hängt also immer noch bedrohlich wie ein Damoklesschwert über Venedig. Die Hauptgründe des stetigen Bevölkerungsrückgangs sind einerseits der unvorstellbare Wohnungsmangel, vor allem an erschwinglichen und geräumigen Wohnungen, und andererseits der Mangel an Arbeitsplätzen außerhalb der Tourismusbranche und des Dienstleistungsbereichs. Außerdem liegen die Lebenshaltungskosten weit über dem Landesdurchschnitt und sind damit für Normalverdiener kaum noch bezahlbar.
Als einzige Gegenbewegung zum Bevölkerungsrückgang lässt sich ein reger Zuzug von ausländischen Venedigliebhabern feststellen - darunter auch zahlreiche prominente Deutsche. Überraschend hingegen ist der unübersehbare Zuzug chinesischer Immigranten, die immer häufiger als Geschäftsleute auftreten. Böse Zungen reden vom Einsatz enormer Schwarzgeldmengen, die beim Kauf der teuren Gewerbelizenzen für Geschäfte, Bars und Restaurants fließen sollen. Mittlerweile befürchten die Venezianer eine regelrechte Invasion mit Ghettobildung, wie es in anderen italienischen Städten (z. B. Prato) bereits der Fall ist. Und schon jetzt werden die Chinesen zu Sündenböcken gemacht, wenn es in Stadtgesprächen um den Niedergang der Venezianità, des typisch Venezianischen, geht.
Abgesehen vom schleichenden Exodus ist Venedigs Bevölkerung seit Jahrzehnten hoffnungslos überaltert. Die Jugend kehrt der Stadt weitgehend den Rücken und entzieht ihr damit die Grundlage für eine gesunde Sozialstruktur. Statistisch kommen auf einen venezianischen Jugendlichen heute ungefähr drei Einwohner im Rentenalter. Ein intaktes Sozialgefüge gibt es in Venedig zwar längst nicht mehr, aber die lebendigen Nachbarschaftsszenen in den populären Wohngegenden der historischen Sestieri täuschen häufig genug darüber hinweg.