Seemacht Venedig und die Eroberung Konstantinopels
Um den florierenden Seehandel gegebenenfalls verteidigen zu können, baute sich Venedig im 9. und 10. Jh. eine eigene Kriegsflotte auf, die seinerzeit nicht nur von den slawischen Piraten, die in der Adria ihr Unwesen trieben, gefürchtet wurde. Doch bei der reinen Verteidigung beließen es die Venezianer nicht. Sie unternahmen alsbald militärische Eroberungen an der istrischen und dalmatinischen Küste. Alljährlich feiert Venedig seitdem seine Vorherrschaft in der Adria am Himmelfahrtstag mit der Festa della Sensa (→ S. 63). Im 11. Jh. stellten die Venezianer die Stärke ihrer Kriegsflotte erneut unter Beweis. Gemeinsam mit den verbündeten Byzantinern kämpften sie siegreich gegen die von Apulien aus ins östliche Mittelmeer vordringenden Normannen. Kaiser Alexios I. Komnenos gewährte Venedig daraufhin den Status eines Freistaats mit völliger Abgabenfreiheit. Außerdem stellte der byzantinische Kaiser große Goldmengen für den Ausbau der Markuskirche bereit und räumte der Lagunenstadt weitere Privilegien im Osthandel ein.
Mit dem Bau einer gewaltigen Schiffswerft (Arsenale) am Anfang des 12. Jh. bereitete sich Venedig weitblickend auf die kommenden Ereignisse vor. Die Lagunenstadt bekam nämlich Konkurrenz im Seehandel und plante, nach anfänglicher Zurückhaltung, eine Teilnahme an den Kreuzzügen ins Heilige Land.
Pisa und Genua, die beiden großen Hafenstädte an der Tyrrhenischen Küste, waren mittlerweile im Rücken von Venedig zu bedeutenden Seerepubliken mit Handelsniederlassungen auch im östlichen Mittelmeerraum herangewachsen. Als unentbehrliche Teilnehmer an der Kreuzzugsbewegung, die 1099 zur Eroberung Jerusalems geführt hatte, handelten sich Pisa und Genua Privilegien im Osthandel ein. Sie besaßen feste Stützpunkte in Tyros und Askalon (Palästina) und profitierten sogar von einer Herabsetzung der Handelszölle durch den byzantinischen Kaiser. Zielstrebig griff Venedig jetzt ins Geschehen ein und beteiligte sich an den langwierigen Vorbereitungen für den 4. Kreuzzug. Dieses Unternehmen sollte weitreichende Folgen für das Mächteverhältnis im östlichen Mittelmeerraum haben.
Klug bereiteten die Venezianer ihre, wie sich bald herausstellte, eigennützige Kreuzzugspolitik vor. Bereits im 12. Jh. verschlechterte sich die Beziehung zu Byzanz, weil Venedig 1155 einen Separatfrieden mit den Normannen geschlossen hatte. Der Abwendung von Byzanz folgte eine Annäherung an die westlichen Mächte, den Papst und das deutsch-römische Kaisertum. 1177 gelang es dem Dogen Sebastiano Ziani, zwischen Papst und Kaiser erfolgreich zu vermitteln. Am 23. Juli diesen Jahres kam es in Venedig zum Zusammentreffen zwischen Papst Alexander III. und Kaiser Friedrich Barbarossa. Die Begegnung führte zur Beendigung des Konflikts zwischen den beiden mächtigen Kontrahenten. Venedig ließ sich seine diplomatische Leistung gebührend honorieren: Der Papst gewährte allen Besuchern der Markuskirche den Ablass, was einen unablässigen Zustrom an Pilgern zur Folge hatte. Der Kaiser sicherte den Venezianern großzügige Handelsfreiheiten im gesamten Reichsgebiet zu, was den Warenabsatz jenseits der Alpen begünstigte. 1187 eroberte Sultan Saladin Jerusalem von den Christen zurück, 1198 fand sich mit Innozenz III. schließlich ein kreuzzugsbereiter Papst, der mit dem Dogen Enrico Dandolo Verhandlungen über die Modalitäten des 4. Kreuzzugs führte. Venedig stellte dem Kreuzfahrerheer von 30.000 Mann eine Flotte zur Verfügung und sollte dafür 85.000 Silberdukaten erhalten. Da diese Summe von den Kreuzfahrern, die vorwiegend aus Frankreich kamen, nicht vollständig aufgebracht werden konnte, nutzte der greise Dandolo die Gunst der Stunde und ernannte sich zum Oberbefehlshaber des Kreuzzugs. Ohne die Einwilligung des Papstes dirigierte er 1202 das Heer zunächst an die dalmatinische Küste, um dort das aufständische Zara von den Ungarn zurückzuerobern. Als Innozenz III. von dieser ungeheuerlichen, eigennützigen Aktion erfuhr, wollte er den Kreuzzug, dessen erklärtes Ziel Ägypten war, stoppen. Doch der Lauf der Dinge ließ sich nicht mehr aufhalten. Anstatt nach Ägypten zog das Heer jetzt nach Konstantinopel (Byzanz), um - wie es zur Rechtfertigung hieß - die seit dem Schisma (1054) getrennte Ostkirche wieder mit Rom zu vereinigen. Doch die eigentliche Absicht, die der clevere Doge verfolgte, war die Zerschlagung des Byzantinischen Reiches. Mit unvorstellbarer Grausamkeit wurde Byzanz 1204 zerstört und geplündert. Die Kriegsbeute, die sich die Kreuzfahrer gierig untereinander teilten, war enorm. Den Venezianern fielen drei Achtel von Konstantinopel einschließlich des Arsenals und der Docks in die Hände. Außerdem begann man vor Ort unverzüglich mit der Aufteilung des riesigen Ostreiches, von dem Venedig „ein Viertel und die Hälfte eines Viertels“ für sich beanspruchte. Die Inseln Euböa, Korfu, Kreta, Rhodos und Zypern sowie mehrere Küstenstädte auf dem griechischen Festland wurden venezianisch.
Diese neuen Besitzungen baute Venedig in der Folgezeit zu einem mächtigen Stato da mar (Seestaat) aus. Während das im Herzen getroffene Byzantinische Reich unaufhaltsam zerfiel, begann für Venedig der Aufstieg zur absoluten Großmacht. - Wie kein anderes Beutegut erinnern noch heute die antiken Bronzepferde von San Marco, die einstmals auf einem Triumphbogen in Rom und dann vor dem Hippodrom von Byzanz gestanden hatten, an die Eroberung Konstantinopels.