La Serenissima erreicht ihren Höhepunkt
Die Entdeckungsreisen der Polos
Ungefähr zwei Jahrhunderte vor dem großen Entdeckerzeitalter machten die venezianischen Brüder Niccolò und Matteo Polo von sich reden. Sie gehörten zu jenen venezianischen Kaufleuten, die sich nach der Eroberung in Konstantinopel niedergelassen und ihre Handelsbeziehungen über das Schwarze Meer bis zur Halbinsel Krim ausgedehnt hatten. 1260 beschlossen die Polos, neue Handelswege in Richtung Osten zu erkunden. Sie gelangten zunächst in die reiche Perserstadt Täbris (Iran) und von dort aus nach Buchara (Usbekistan), wo sie sich etwa drei Jahre aufhielten und Mongolisch und Persisch lernten. Mittlerweile hatte auch sie die Nachricht von der Rückeroberung Konstantinopels (1261) erreicht, bei der zahlreiche Venezianer ihr Leben verloren hatten; dorthin konnten sie also nicht mehr zurück. Stattdessen schlossen die Polos sich einer Karawane des Khans von Persien an, die ostwärts nach China zog. Diese 5.000 km lange Reise über das Dach der Welt und vorbei an der größten Wüste der Welt führte in die Mongolenhauptstadt Peking zum Hof des Kublai Khan, für den die Begegnung mit den Polo-Brüdern die erste Begegnung mit lateinischen Christen war. Mit einer Botschaft für den Papst (Missionare nach China zu senden) kehrten Niccolò und Matteo Polo über Lajazzo (heute: Türkei) nach Italien zurück. 1271 brachen sie zusammen mit Niccolòs Sohn Marco Polo und zwei Missionaren erneut nach China auf. Entnervt von den Strapazen gaben die beiden Missionare die beschwerliche Reise bald auf, während die drei Polos ihr Ziel erreichten und vom Mongolenherrscher wohlwollend aufgenommen wurden. Marco Polo trat sogar in die Dienste des Kublai Khan und reiste von 1275-93 kreuz und quer durch China. Reich beschenkt erhielt er 1292 die Erlaubnis, nach Europa zurückzukehren. Er nahm den Seeweg durch das Südchinesische Meer vorbei an Indien zum Persischen Golf. Auf dem Landweg erreichte Marco Polo Konstantinopel, wo er ein Schiff in seine Heimatstadt bestieg. In Venedig gelangte er angeblich bald zu Wohlstand, aber seinen abenteuerlichen Reiseberichten über Kathay, wie er China damals nannte, schenkte niemand so recht Glauben. Übertrieben und unwahr erschienen seinen Landsleuten die Schilderungen von Reichtum und Pracht mongolischer Millionenstädte. Gar als Märchen taten sie Marco Polos Erzählungen über den verschwenderischen Gebrauch von kostbaren Gewürzen ab, wurde doch zu dieser Zeit in Europa Pfeffer noch mit Gold aufgewogen.
Nachdem Venedig seinen Seestaat erfolgreich gegen Genua verteidigt hatte, erlebten die Handelsaktivitäten einen derartigen Aufschwung, dass die Lagunenstadt zu einem regelrechten Wirtschaftsimperium heranwuchs. „Geht es dem Handel gut, geht es auch dem Gemeinwesen gut“, die venezianische Erfolgsformel bewahrheitete sich vor allem im 15. Jh., als sich Venedig in allen Bereichen des öffentlichen Lebens entwickelte und zur allseits bewunderten Serenissima - zur „Durchlauchtesten“ - aufstieg. In dieser Zeit regierten mit Michele Steno, Tomaso Mocenigo und Francesco Foscari nacheinander drei der fähigsten Dogen der Republik, die für innenpolitische Stabilität sorgten, indem sie streng an der oligarchischen Staatsform festhielten, während es in den anderen norditalienischen Großstädten reihenweise zur Alleinherrschaft von Adelsdynastien kam.
Bootsparaden auf dem Canal Grande gehörten zur Selbstdarstellung der Seemacht
Wirtschaftlich schrieb Venedig eindrucksvolle Zahlen. Allein das Umsatzvolumen des Gewürzhandels betrug Mitte des 15. Jh. jährlich 1 Millionen Dukaten (etwa 50.000.000 €). Zu den gewinnträchtigen Großbetrieben, die sich in der Lagunenstadt angesiedelt hatten, gehörten neben der traditionsreichen Werft Arsenale mittlerweile auch Seiden- und Baumwollwebereien, Färbereien, Glasbläsereien, Zuckerraffinerien, Seifen- und Kerzenfabriken. Um für das gigantische Waren- und Produktionsaufkommen die europäischen Absatzmärkte zu sichern, drängte Venedig jetzt verstärkt aufs Festland (Terraferma) - und begab sich damit auf gefährlichen Boden, wie sich später herausstellen sollte. Die Venezianer überschritten ihr vertrautes Terrain jedoch nicht nur wegen der Absatzmärkte dies- und jenseits der Alpen. Weitsichtig, wie sie waren, erkannten sie im Vorrücken des Osmanenreiches eine potenzielle Bedrohung ihres Osthandels und eröffneten sich mit dem Schritt aufs Festland eine Hintertür. Als eine der reichsten Städte Italiens konnte sich Venedig die besten Söldnerheere und Condottieri (Söldnerführer) leisten, um die beabsichtigte Landnahme auch erfolgreich in die Tat umzusetzen. Während zwischen 1389 und 1405 Treviso, Padua, Vicenza und Verona relativ schnell erobert werden konnten, erwies sich Mailand, das unter den Visconti ebenfalls auf Expansionskurs war, als unbezwingbarer Gegner. Anstatt rechtzeitig auf eine Versöhnungspolitik zu setzen und sich mit den Gebietseroberungen in Venetien, im Friaul und in der Emilia-Romagna zufrieden zu geben, trieb Francesco Foscari Venedig in einen kostspieligen Krieg mit Mailand, der erst 1453 beendet wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte Venedig seine größte Ausdehnung auf dem Festland erreicht - und wechselte jetzt den Kriegsschauplatz, denn in diesem Jahr hatten die Türken Konstantinopel erobert und die Venezianer sahen ihren Seestaat bedroht.
Gondelfähre (Traghetto) über den Canal Grande - wie in alten Zeiten
Obwohl sich die gesamte westliche Welt über die türkische Eroberung Konstantinopels empörte und der Papst die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee beklagte, war Venedig im Kampf gegen die Osmanen weitgehend auf sich allein gestellt. Der Papst bemühte sich anfangs zwar um das Zustandekommen eines Kreuzzugs, aber die großen italienischen Städte Mailand, Florenz und Neapel blieben passiv und sahen voller Missgunst zu, wie es Venedig aus eigener Kraft gelang, 1479 einen Frieden mit dem Osmanischen Reich zu schließen. Obwohl La Serenissima einige wichtige Mittelmeerstützpunkte an die Türken verlor (z. B. Euböa) und der Zahlung von 10.000 Dukaten jährlich für die Handelsrechte im Osten zustimmen musste, konnte der venezianische Seestaat verteidigt werden - jedenfalls vorläufig noch.
Venedig war auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt, und das machte sich auch in der ungeheuren Prachtentfaltung innerhalb der Lagunenstadt bemerkbar. Fasziniert von den prächtigen Bauten und dem luxuriösen Lebensstil bezeichneten ausländische Diplomaten Venedig in der zweiten Hälfte des 15. Jh. als die glorreichste Stadt überhaupt. Ganz Europa schaute beeindruckt, aber voller Neid auf den Reichtum der selbstbewussten Serenissima.
Venedig wäre nicht Venedig, wenn es nicht in der Lage gewesen wäre, den verschwenderischen Lebensstil, den der betuchte Stadtadel an den Tag legte, so zu beschneiden, dass soziale Spannungen gar nicht aufkommen konnten. Des inneren Friedens wegen erließ die Regierung so genannte Luxusgesetze, die das öffentliche Leben der Nobili streng reglementierten, damit das einfache Volk keinen Anlass hatte um aufzubegehren. Hochzeitsfeiern wurden z. B. auf 40 Gäste begrenzt, Bekleidungsvorschriften, die ständig aktualisiert wurden, verboten den Venezianerinnen zeitweise sogar das Tragen von Schmuck in der Öffentlichkeit. Obwohl Venedig in jeder Hinsicht saturiert war, herrschte Disziplin.