Venedig im 19. und 20. Jh.
Unter dem strengen österreichischen Regime berührte Venedig seinen Tiefpunkt. Die Bevölkerung verarmte und ging auf ungefähr 100.000 Einwohner zurück. 1848, im europäischen Revolutionsjahr, entluden sich die sozialen Spannungen. Unter dem Freiheitskämpfer Daniele Manin kam es zum Volksaufstand gegen die Österreicher, die aus der Stadt vertrieben werden konnten. Doch bereits ein Jahr später zwang Feldmarschall Radetzky die Venezianer zur Kapitulation und wurde Gouverneur. Nach dem Ende des preußisch-österreichischen Krieges (1866) übergab Österreich Venetien zunächst an Napoleon III. Frankreich überließ die Region jedoch dem neuen Königreich Italien. In einer eindeutigen Volksabstimmung im Oktober 1866 entschieden sich die Venezianer für den Anschluss an das junge, vereinigte italienische Königreich unter Vittorio Emanuele II.
Als Hauptstadt einer Provinz profitierte Venedig in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vom wirtschaftlichen Aufschwung des neuen italienischen Reiches. Nüchterne Fakten belegen die Entwicklung: Über den bereits 1846 errichteten Eisenbahndamm, der die Lagunenstadt jetzt mit dem Festland verband, wurde Venedig an das italienische Bahnnetz angeschlossen. Meerseitig hingegen belebte die Eröffnung des Suezkanals (1869) den Mittelmeerhandel, und Venedig erlangte wieder Bedeutung als Hafenstadt. Doch diese bescheidene wirtschaftliche Entwicklung war sekundär. Längst war der Fremdenverkehr zur größten Einnahmequelle der Stadt geworden. Immer mehr Touristen aus dem In- und Ausland strömten nach Venedig, um die Einzigartigkeit der Lagunenstadt zu bestaunen. Namhafte Schriftsteller, Musiker und Maler machten den Anfang und zogen einen unablässigen Besucherstrom nach sich. Aus Hunderttausenden von Touristen jährlich wurden im 20. Jh. bald mehrere Millionen - und Venedig nahm seine Rolle als Sehenswürdigkeit von Weltrang mit dem gewohnten Eifer und Geschäftssinn an.
Um die einmalige Stadtanlage in ihrer Ursprünglichkeit zu erhalten, ging die Industrialisierung fast vollständig an Venedig vorbei. 1918 schloss man sogar die traditionsreiche Werft (Arsenale). Während das historische Stadtzentrum konserviert wurde, entstanden in den 1920er-Jahren am Küstensaum der Lagune mit Mestre und Porto Marghera zwei Wohn- und Industriestädte, die die Tristesse und Hässlichkeit industrieller, städtebaulicher Entwicklung von Venedig fern hielten. Während des Ersten Weltkriegs bombardierten österreichisch-ungarische Flugzeuge Venedig, der Schaden blieb jedoch gering. Auch den Zweiten Weltkrieg übersteht die Stadt nahezu unbeschadet. Doch die giftigen Abwässer und Abgase der Raffinerien und Chemiefabriken von Porto Marghera sollten bald zur lebensbedrohenden Gefahr für Venedig werden (→ „Ist Venedig eigentlich noch zu retten?“, S. 37).