Im September 1814 versammelten sich in Wien rund 300 gekrönte Häupter und Diplomaten aus Europa. Sie standen vor der selbstgewählten Aufgabe, den europäischen Kontinent nach den Kriegen gegen Napoleons Revolutionstruppen wieder so zu ordnen, dass es keine neuerlichen Revolutionen wie die von 1789 in Frankreich geben würde. 1814 – und noch einmal nach der Schlacht bei Waterloo 1815 – hatten sie in zwei Friedensverträgen Frankreich die Hand gereicht und wieder in den Kreis der europäischen Großmächte aufgenommen. So konnte die gerade erst installierte Monarchie des Bourbonenkönigs Ludwig XVIII. am Wiener Kongress teilnehmen, obwohl Frankreich Revolution und Krieg über Europa gebracht hatte. Die Delegationen waren in Wien zusammengekommen, um das »Rad der Entwicklung anzuhalten«. Damit lösten sie unterschiedliche Reaktionen aus: Die einen waren zufrieden über die »Restauration« des machtpolitischen Zustands Europas aus der Zeit vor 1789. Die anderen hielten verbittert an ihrem Vorwurf fest, die Gründung von Nationalstaaten und damit eine notwendige Entwicklung verhindert zu haben.1
Der Wiener Kongress in einer zeitgenössischen Darstellung
Die Verhandlungsdelegationen aus Frankreich, Preußen, Österreich, Russland und England folgten zunächst also dem Prinzip der Restauration, mit der der alte Zustand von 1789 mit absolutistischen Monarchien, die an keinerlei verfassungsmäßige Einschränkungen gebunden waren, wiederhergestellt wurde. Zudem galt fortan das Prinzip der Solidarität, denn die Monarchen sollten untereinander solidarisch sein und immer dann, wenn die wiederhergestellte alte Ordnung in einem ihrer Königreiche bedroht war, sich gegenseitig zu Hilfe eilen. Und schließlich einigten sie sich auf das Prinzip der Legitimität, damit legitime Ansprüche auf einen Thron auch durchgesetzt werden konnten. So wurden mit der »Wiener Congreß-Akte« vom 8. Juni 18152 die Königreiche Spanien, Portugal und Neapel wiederhergestellt, zudem erhielten die Niederlande die »österreichischen Niederlande« zurück, und die Schweiz erlangte ihre Unabhängigkeit wieder. Polen hingegen wurde nicht wieder zu einer Monarchie, sondern ein weiteres Mal unter Fremdherrschaft gestellt. Nach langem geopolitischem Geschacher wurde das Herzogtum Warschau – eine Gründung Napoleons – durch das sogenannte Kongresspolen ersetzt.
Europa 1815
Der russische Zar Alexander wollte Polen wiederherstellen und in Personalunion selbst regieren. Damit Preußen diesem Plan zustimmte, musste Friedrich Wilhelm III. für die Gebiete entschädigt werden, die bei den drei Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 von Preußen annektiert worden waren. Für das Kulmerland, Hinterpommern, die Kurmark, für »Südpreußen« mit Posen und »Neuostpreußen« mit Warschau bekam Preußen Teile Sachsens sowie Gebiete in Westfalen und am Rhein. Preußen war damit zur deutschen Großmacht geworden, stand an den Ufern des Rheins dem französischen »Erbfeind« gegenüber und hielt in deutschem Namen die später so bezeichnete »Wacht am Rhein«. Österreich verzichtete auf alle Ansprüche in Polen, Belgien und im Westen Deutschlands und wurde dafür mit Venezien und der Lombardei »entschädigt«. Damit war der Weg frei für das russisch beherrschte »Kongresspolen«, dessen Bewohner fortan einer drastischen Russifizierung ausgesetzt waren. Aber der polnische Wunsch nach einem eigenen Nationalstaat ließ sich nicht unterdrücken, wie 1835 aus einer Rede des späteren Zaren Nikolaus I. hervorging: »Wenn Ihr darauf besteht, an Euren Träumen von (…) einem unabhängigen Polen und allen diesen Chimären festzuhalten, so werdet Ihr großes Unheil über Euch heraufbeschwören. (…) Bei der geringsten Unruhe werde ich die Stadt beschießen lassen.«3
Die deutschen Fürsten waren am Wiener Kongress nicht beteiligt, über die Zukunft ihrer Länder entschieden die Großmächte, indem sie den von Napoleon gegründeten Rheinbund auflösten und an gleicher Stelle einen »Deutschen Bund« ins Leben riefen. Damit sollte die Mitte Europas unter ihrer Kontrolle bleiben und für politische Ruhe sorgen. Insofern kamen die Delegationen von Wien ihrer Gesamtverantwortung für den Kontinent nach, die mit der Gründung einer »Heiligen Allianz« von Preußen, Russland und Österreich auch eine stabilisierende Einheit hervorbrachte. Fortan sollte diese Allianz die Ordnung des Wiener Kongresses garantieren und dem christlichen Herrschaftsprinzip auf dem Kontinent zum Durchbruch verhelfen. Im Allianzvertrag vom 26. September 1815 verkündeten sie, dass sie »als die Richtschnur ihres Verhaltens (…) allein die Gebote dieser heiligen Religion« ansehen und nur »den Geboten der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens« folgen werden.4
Der Wiener Kongress war nach dem Westfälischen Frieden von 1648 die zweite europäische Sicherheitskonferenz, die das fragile Verhältnis zwischen den europäischen Völkern austarieren sollte. Dazu trug wesentlich die Teilnahme Frankreichs bei. Ein Friedensschluss gegen oder ohne Frankreich hätte mit einiger Sicherheit den Keim neuerlicher Konflikte in sich getragen. Die »deutschen Frage« wurde in Wien nicht beantwortet, aber mit der Gründung des Deutschen Bundes konnte die politisch-territoriale Einheit Deutschlands erhalten werden.5 Österreich, das bis dahin in Konkurrenz zu Preußen um die Vormacht in Deutschland gestritten hatte, wurde durch die territorialen Zugewinne in Norditalien eine südosteuropäische Schutz- und Großmacht, während Preußen diese Rolle für den deutschsprachigen Raum außerhalb Österreichs übernahm. Dadurch dass Preußen nun stärker in Westdeutschland vertreten war, verlagerten sich auch dessen Interessen nach Zentraleuropa.
Streitpunkte oder unlösbare Fragen, die beim Wiener Kongress auftauchten, wurden auf Folgekonferenzen6 verwiesen, was darauf hindeutet, dass es den Delegationen um die Realisierung des Machbaren ging und nicht nur um die Durchsetzung der eigenen Interessen. Insofern hat dieser Kongress diplomatische Maßstäbe gesetzt. In Wien sollte gleichermaßen Schutz vor neuen revolutionären Prozessen gewährleistet wie die Interessen der europäischen Großmächte berücksichtigt werden. England, Russland, Preußen, Österreich und Frankreich übernahmen gemeinsame Verantwortung für Europa, dem sie Frieden durch Stabilität brachten. Zweifellos waren ihre Ordnungsvorstellungen rückwärtsgewandt – eben restaurativ –, aber dadurch konnte revolutionären Entwicklungen wenigstens eine Zeitlang der Boden entzogen werden. Das neue Gleichgewicht der Kräfte – die Pentarchie – war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Krimkrieg 1853 alte Gräben wieder aufriss, in der Lage, den Frieden zu bewahren.7 Unruhe ging in den folgenden Jahren allerdings von den nationalen Bewegungen aus. Sie waren in Wien ignoriert worden und anschließend staatlichen Repressionen ausgesetzt. Ihre Sprengkraft erhöhte sich nach und nach.
1 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1815–1845/49. München 1989, S. 3.
2 Die Schlussakte von Wien findet sich bei »Staatsverträge«: http://www.staatsvertraege.de/Frieden1814-15/wka1815-i.htm (zuletzt abgerufen am 30.01.2022).
3 Seignobos, Charles: Politische Geschichte des modernen Europa. Leipzig 1910, S. 532.
4 Der Vertrag ist im »documentarchiv« zu finden: http://www.documentarchiv.de/ (zuletzt abgerufen am 30.01.2022).
5 Gruner, Wolf: Die deutsche Frage in Europa. 1800 bis 1990.München 1993, S. 108 ff.
6 Eine solche Folgekonferenz fand 1818 in Aachen statt: Duchhardt, Heinz: Der Aachener Kongress 1818. Ein europäisches Gipfeltreffen im Vormärz. München 2018.
7 Geiss, Imanuel: Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1815–1914. München 1990, S. 72 f.
Viele Studenten, die gegen die Truppen Napoleons gekämpft hatten, taten dies in der Hoffnung auf einen deutschen Einheitsstaat nach dem Krieg. 1814/15 aber kehrten sie nach den Ergebnissen des Wiener Kongresses enttäuscht in die Hörsäle zurück. Aus einem deutschen Einheitsstaat sollte nach dem Willen der europäischen Großmächte nichts werden. In Gegenteil: Mit einer »Heiligen Allianz« sorgten sie dafür, dass sich in der Mitte Europas kein einheitliches Deutsches Reich und damit eine weitere Großmacht etablieren konnte. Dennoch wollten die Studenten ein Zeichen für die Einheit Deutschlands setzen und organisierten im Juni 1815 in Jena den Zusammenschluss der bis dahin landsmannschaftlich organisierten Studenten zu einer »Burschenschaft«. Ihr Wahlspruch war dem Dreiklang der Französischen Revolution nachempfunden: »Ehre, Freiheit, Vaterland«. Sie wählten mit der schwarz-rot-goldenen Trikolore die Farbkombination der Uniform des Freikorps Lützow zu den Farben der Jenaer Burschenschaft und riefen damit die erste »politische Jugendbewegung der europäischen Geschichte«1 ins Leben.
Die Verfassungsurkunde der Jenaer Burschenschaft vom 12. Juni 1815 hält den Charakter und den Zweck der Vereinigung fest. Für »ein gemeinsames Vaterland« heißt es dort, gehe es darum, die »vorherige Ehre und Herrlichkeit unseres Volkes wieder fest zu gründen und es für immer gegen die schrecklichste aller Gefahren, gegen fremde Unterjochung und Despotenzwang zu schützen«.2 Die in der Burschenschaft vereinten Studenten, die im damaligen Sprachgebrauch »Burschen« genannt wurden, forderten also die Überwindung der deutschen Kleinstaaterei zugunsten eines vereinten Deutschlands. Unterstützt von »Turnvater« Friedrich Ludwig Jahn, den Dichtern Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und dem Philosophen Jakob Friedrich Fries forderten sie ihre Kommilitonen in Jena und anderswo auf, sich der Burschenschaft anzuschließen.
Student in altdeutscher Tracht, zeitgenössische Karikatur
Ihre äußerlichen Symbole waren lange Haare, Backenbart und eine besondere Kleidung – die altdeutsche Tracht. Sie war bereits während der Befreiungskriege 1813 bis 1815 aufgekommen und galt als Gegenmodell zu den »französischen Modetorheiten«: langer geschlossener Rock mit weit geöffnetem Hemdkragen, weit geschnittene Hosen und ein samtenes Barett. Die Burschenschaft breitete sich rasch auch in anderen deutschen Ländern aus, was am 18. Oktober 1818 zur Gründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaften durch Vertreter von vierzehn deutschen Universitäten führte.
In dieser innenpolitischen Situation sorgte der Ausbruch eines Vulkans auf der indonesischen Insel Tambora im April 18153 in den kommenden beiden Jahren in weiten Teilen Nordamerikas und Europas für Missernten, Hungersnöte und Wirtschaftskrisen. Zudem hatten die lange Kriegszeit, massive ökonomische Probleme und die restaurative Politik in den deutschen Ländern dafür gesorgt, dass viele Menschen sich zurückzogen und ihr Glück im privaten Umfeld von Familie und Freunden suchten. Nationale Debatten blieben in dieser Biedermeierzeit neben den akademischen Zirkeln einer kleinen Schicht des Bildungsbürgertums vorbehalten, deren Wortführer oft Universitätsprofessoren waren. Folgerichtig sprang der nationale Funke auch auf die studentischen Burschenschaften über. Sie deklarierten die Befreiungskriege gegen Napoleon, die sie teilweise als Soldaten selbst erlebt hatten, zum nationalen Kampf um Unabhängigkeit und schwärmten pathetisch vom Heldenmut der deutschen Soldaten. Damit waren sie zur Zielscheibe staatlicher Unterdrückungsmaßnahmen und -behörden geworden, die in nationalem Pathos die Keimzelle einer deutschen Revolution erkannten. Das wollten die Staatsorgane unter allen Umständen verhindern und bekamen auch bald einen Anlass geliefert, die Repressionen gegen die Burschenschaften zu verstärken. Nach dem Attentat des Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand am 23. März 1819 auf den Dichter August von Kotzebue richtete sich die staatliche Repression gegen die Studenten und ihre Professoren insgesamt. Bald darauf folgte ein zweites, aber missglücktes Attentat auf den nassauischen Regierungsdirektor Karl von Ibell. Ergebnis dieser beiden Taten war die »massivste Verfolgung politischer Überzeugungen«,4 die es je gegeben hatte.
Auf Einladung des österreichischen Außenministers von Metternich berieten im Sommer 1819 bei einer Konferenz im böhmischen Karlsbad die Vertreter der Länder des Deutschen Bundes über geeignete Abwehrmaßnahmen gegen die nationalen Strömungen. Die Ergebnisse der Karlsbader Beschlüsse waren andauernde Unterdrückung der Meinungsfreiheit, eine allgegenwärtige Präsenz von Polizei und Staat und eine für jeden sichtbare Verfolgung von sogenannten Demagogen. Damit waren jene Intellektuelle gemeint, die an Universitäten oder in Turnvereinen mit den Studenten in Verbindung standen und per se als Hort nationaler Unruhe galten. Im Zuge der nun einsetzenden Demagogenverfolgung wurden nicht nur die Burschenschaften, sondern auch Professoren verfolgt, verhaftet oder amtsenthoben. Ernst Moritz Arndt, Turnvater Jahn und viele andere lernten preußische Gefängnisse von innen kennen oder mussten das Land verlassen. Bei den Studenten zeigten die Verfolgungsmaßnahmen Wirkung. 1822 löste sich die Allgemeine Deutsche Burschenschaft auf, die anhaltenden Verfolgungen hatten die Studenten zermürbt. Als fünf Jahre später in Bamberg eine Neugründung erfolgte, wurde der als Mensur bekannte, streng reglementierte Fechtkampf der studentischen Corps übernommen. In dieser Zeit begann die Phase von Abspaltungen, Neugründungen oder Fusionen innerhalb der Burschenschaften.
Die Burschenschaften waren Teil der deutschen Nationalbewegung, obwohl sie sich in der Öffentlichkeit nicht selten als Brutstätte eines grotesk anmutenden nationalen Hochmuts entpuppten, dem die Verachtung alles Fremden ebenso eigen war wie Antisemitismus. Zwischen den einzelnen Burschenschaften und den jeweiligen Universitätsstandorten gab es öfters politische Differenzen, aber die Schaffung eines deutschen Einheitsstaates war das gemeinsame Ziel. Für Heinrich von Gagern, den späteren Präsidenten der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, war »das leitende Prinzip« der Burschenschaften die Einheit der Deutschen in einem gemeinsamen Staat. Diesem Ziel fühle er sich verpflichtet, ließ er in einem Brief an seine Eltern wissen. Er beschrieb damit die eine Seite der Burschenschaften, die die in akademischen Zirkeln und im universitären Umfeld geführten nationalen Debatten in die Öffentlichkeit transportierten. Einerseits druckten Studenten unentwegt Pamphlete mit nationalem Pathos und teilweise aufrührerischen Thesen, für die sich mehr und mehr staatliche Behörden interessierten. Andererseits trugen rohe Sitten, abartige Alkoholexzesse, wenig geistvolle Rauf- und Duellrituale zum schlechten Ansehen der »Burschen« in der Bevölkerung bei. Dennoch waren am 18. Mai 1848 bei der ersten Sitzung der Frankfurter Nationalversammlung unter den 809 Abgeordneten mehr als 170 ehemalige Burschenschaftler.
1 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution. 1806–1848/49. Stuttgart 2010, S. 125.
2 Die Verfassungsurkunde der Jenaischen Burschenschaften findet sich im Bestand der Bayrischen Staatsbibliothek: https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb10735433/bsb:BV001698333?page=7
3 Zu diesem Naturereignis mit weltweiten Folgen: Behringer, Wolfgang: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte. München 2015.
4 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: a. a. O., S. 149.
Es war ein symbolisches Datum, an dem sich mehrere hundert Studenten und einige Professoren am 18. und 19. Oktober 1817 auf der Wartburg bei Eisenach im Großherzogtum Weimar trafen. 1517 war der Wittenberger Mönch Martin Luther hier mit 95 Reformationsthesen an die Öffentlichkeit getreten, was ihm vier Jahre später eine Reichsacht auf dem Reichstag in Worms einbrachte. Der nunmehr vogelfreie Luther landete nach einer Scheinentführung durch Ritter des sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise auf der Wartburg, wo er das Neue Testament ins Deutsche übersetzte. Und zwischen dem 16. und 19. Oktober 1813 kämpfte eine europäische Allianz erfolgreich gegen die Truppen Napoleons und beendete so die französische Herrschaft über die deutschen Länder.
300 Jahre nach der mutigen Tat des Wittenberger Reformators und vier Jahre nach der Befreiung von Napoleon sollte nun von der Wartburg ein nationaler Weckruf ausgehen. Organisiert wurde das Wartburgfest von den Burschenschaften in Jena und Halle. Sie hatten enge Verflechtungen zur Turnerschaft des Friedrich Ludwig Jahn, der seit Jahren Studenten über Bock und Seil springen ließ, um sie für die nationale Sache zu ertüchtigen. Das passte zu den Zielen der Burschenschaften, die sämtliche Studenten vereinen wollten, um so die Keimzelle für die Überwindung des deutschen Partikularismus zu legen.
Das Fest selbst verlief in ruhigen Bahnen. Es wurden patriotische Reden gehalten, wie jene des Theologiestudenten Heinrich Riemann, der klagte, dass das deutsche Volk, zwar »schöne Hoffnungen gefasst« habe, »sie aber alle vereitelt«1 worden seien. Aber die Anwesenden verfassten auch ein Manifest, das später als »das erste deutsche Parteiprogramm« bezeichnet wurde. Darin forderten sie das Ende der »politischen Zerrissenheit Deutschlands«, eine konstitutionelle Monarchie, die »Gleichheit vor dem Gesetz« für alle Deutschen, die Abschaffung von Adelsprivilegien, der Leibeigenschaft, eines stehenden Heeres in Friedenszeiten und die Geltung der Presse- und Redefreiheit. An sich selbst richteten sie die Anforderung, »Kastengeist und Despotendienst abzuschwören: Von dem Lande oder Ländchen, in welchem wir geboren sind, wollen wir niemals das Wort Vaterland gebrauchen. Deutschland ist unser Vaterland; das Land, wo wir geboren sind, ist unsere Heimat.«2 In Wien und Berlin wurden derartige Äußerungen als Kampfansage gegen den Deutschen Bund und die beim Wiener Kongress mühsam ausgehandelte europäische Nachkriegsordnung verstanden. Dabei stand der eigentliche Eklat noch aus.
Denn am Abend war genug Bier geflossen, dass sich die Studenten trauten, ein Fanal zu setzen. Unter Anleitung von Turnvater Jahn verbrannten sie neben ein paar Dutzend »reaktionären oder antinationalen« Büchern auch die Abschrift der Schlussakte des Wiener Kongresses. Anschließend flogen als Symbole des militaristischen Obrigkeitsstaates eine preußische Uniform, ein Soldatenzopf und ein Korporalsstock in die Flammen. Wie Martin Luther, der 1520 das Kirchenrechtsbuch und die päpstliche Bannbulle »dem Feuer übergeben« hatte, erregten die Studenten mit dieser Aktion öffentliche Aufmerksamkeit. Zu den Büchern, die als »Schandschriften des Vaterlands« verbrannt wurden, gehörte mit dem Code Napoléon auch das damals fortschrittlichste Gesetzeswerk, das über das gesamte 19. Jahrhundert die europäische Rechtsprechung beeinflusste. An diesem Eklat gab es wenig zu beschönigen, denn es war ein wirres Spektakel, das Germanenkult und Frankophobie ebenso einschloss wie antikonservativen Zorn und Judenhass. Das Verbrennen von Büchern war Ausdruck eines »konfusen Idealismus«3 und eines »politischen Analphabetentums«4, das vermutlich nach Ermunterungen von Turnvater Jahn durchbrach.
Bücherverbrennung auf dem Wartburgfest
Die Studenten, die mit langen Haaren und Backenbärten auch äußerlich Aufmerksamkeit erregten, zogen sich mit dieser Aktion den Zorn sämtlicher Fürstenhäuser und der Regierungen in Paris, Wien oder Berlin zu. Der französische Außenminister Armand du Plessis fragte, ob dies der Beginn einer deutschen Revolution gewesen sei. Friedrich von Gentz, der Berater des österreichischen Außenministers, sprach von einer »gefährlichen Begeisterung für das Vaterland«. Die Ereignisse auf der Wartburg trafen ins Mark der österreichischen Politik, denn bei Außenminister Klemens von Metternich liefen die Fäden der restaurativen Ordnung Europas zusammen. Nationalistische Bestrebungen in Deutschland waren ein Fundamentalangriff auf diese Ordnung und erschütterten das Habsburgerreich zutiefst. Metternich schürte fortan die Angst vor einem revolutionären Umsturz in Europa, der im März 1819 nach dem Attentat auf den Dichter August von Kotzebue unmittelbar bevorzustehen schien.
In Berlin witterte der preußische König Friedrich Wilhelm III. den Geist der Französischen Revolution, weswegen er den Direktor des Berliner Polizeiministeriums Karl Albert von Kamptz anwies, beim Großherzog Karl August von Sachsen gegen den »Haufen verwilderter Professoren und verführter Studenten«5 zu protestieren und die Schließung der Universität Jena zu fordern. Dieses »Asyl für Staatsverbrecher« gehöre ebenso zugesperrt wie die studentischen Verbindungen zu schließen seien. Kritik übte 1840 auch Heinrich Heine. Im »Fackellicht wurden Dummheiten gesagt und getan, die des blödsinnigsten Mittelalters würdig waren!«, schrieb er und fügte an, dass auf der Wartburg »jener beschränkte Teutomanismus« geherrscht habe, der nichts »Besseres zu erfinden wusste als Bücher zu verbrennen!«6
So berechtigt die Kritik an Bücherverbrennungen war, so deutlich war auch der Ruf nach einem deutschen Einheitsstaat zu vernehmen, der von der Wartburg ausging und im ganzen Land Widerhall fand. Dieser Einheitsstaat sollte an Recht und Verfassung gebunden sein, wesentliche Grund- und Freiheitsrechte garantieren und durch die Farben Schwarz, Rot und Gold gekennzeichnet sein. Diese Forderungen fanden sich 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung wieder, genau wie die Farben des Freikorps Lützow aus dem Krieg gegen Napoleon in Frankfurt zu den Farben der Staatsflagge erkoren wurden. Als 1949 die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurden, war die Wahl der Nationalfarben – mit unterschiedlichen politischen Ambitionen – eine bewusste Anlehnung der neuen deutschen Staaten an ihre demokratischen Vorläufer der deutschen Revolution von 1848. Insofern ist das Wartburgfest über die Nationalfarben mit der deutschen Gegenwart verbunden.
1 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution 1806–1848/49. Stuttgart 2010, S. 124 f.
2 Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. 1, Stuttgart 1990, S. 722.
3 Palmer, Alan: Metternich. Der Staatsmann Europas. Düsseldorf 1977, S. 227.
4 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1815–1845/49. München 1989, S. 335.
5 So der Buchtitel von Fesser, Gerd: … ein Haufen verwilderter Professoren und verführter Studenten. Das Wartburgfest der deutschen Studentenschaft 1817. Lüneburg 2017.
6 Das Zitat stammt aus einer Denkschrift Heines von 1840: http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Essays+III%3A+Aufs%C3%A4tze+und+Streitschriften/Ludwig+B%C3%B6rne.+Eine+Denkschrift/Viertes+Buch (zuletzt abgerufen am 04.02.2022).
Die Jahre nach dem Befreiungskrieg gegen Napoleon waren in Deutschland von einer schweren Hungersnot und Wirtschaftskrisen gekennzeichnet. 1815 war im fernen Indonesien auf der Insel Sumbawa der Vulkan Tambora ausgebrochen und hatte tonnenweise Staub, Asche und Schwefelverbindungen in die Stratosphäre geschleudert, wo sie verharrten und wie ein Schleier vor der Sonne als Schatten auf der Erde ankamen. Die Folgen waren verheerende Missernten in Europa und Nordamerika in den beiden darauffolgenden Jahren. Diese existenziellen Krisen kamen in einer Zeit, in der die Repressionen gegen Andersdenkende und die Verfolgungen sogenannter Demagogen zunahmen. Über das Land legte sich eine nahezu unheimliche Stille. Mitglieder der studentischen Burschenschaften, Angehörige von verdächtigen Turnvereinen und Universitäten wurden verfolgt, verhaftet oder amtsenthoben. Prominente Professoren und Intellektuelle wurden eingesperrt oder verließen das Land.
Die Maßnahmen basierten auf den Karlsbader Beschlüssen, die auf Betreiben des österreichischen Außenministers Klemens von Metternich von den meisten Staaten des Deutschen Bundes getroffen worden waren. Karl Ludwig Sand hatte im Oktober 1817 am Wartburgfest teilgenommen und war von der nationalen Euphorie, die auf diesem Fest herrschte, ebenso fasziniert wie von den revolutionären und patriotischen Losungen, die auf der Wartburg erhoben wurden. Knapp anderthalb Jahre später hatte er sich so weit radikalisiert, dass er den Worten Taten folgen lassen wollte. Am Vormittag des 23. März 1819 besuchte er den Dichter August von Kotzebue in dessen Mannheimer Wohnung, stellte sich als Herr Heinrichs vor, zog einen Dolch aus seinem Mantel und fügte von Kotzebue mehrere tödliche Stichverletzungen zu. Karl Ludwig Sand stach anschließend auf sich selbst ein, überlebte aber.
Die Ermordung August von Kotzebues durch Ludwig Sand
Sogleich begann eine Debatte über die Hintergründe des Attentats, die der Schriftsteller Karl-August Varnhagen von Ense am selben Tag in einem Schreiben an die badische Gesandtschaft in Wien skizziert. Man habe einen Aufruf bei dem Attentäter gefunden, in dem er »das erniedrigte deutsche Volk zur mutigen Erhebung, zur Ermordung aller Schlechtgesinnten« auffordert. Ein anderes Papier habe ein »Todesurteil nach Beschluss der Universität« enthalten, was auf eine »Gemeinschaft und Verbrüderung«1 schließen lasse.
Das war der Startschuss für den österreichischen Außenminister, der am 6. August 1819 nicht nur seinen preußischen Amtskollegen, sondern auch die Bevollmächtigten zehn weiterer Staaten des Deutschen Bundes zu einer Geheimkonferenz ins böhmische Karlsbad einlud. Es folgten 23 intensive Arbeitstage, an deren Ende die Karlsbader Beschlüsse2 zu Papier gebracht waren. Mit diesen Beschlüssen wurde die gesamte staatliche Macht gegen die nationalen und liberalen Bestrebungen in Deutschland gerichtet. Als Keimzelle der Unruhen hatte man die Burschenschaften ausgemacht, sie wurden verboten, jede burschenschaftliche Betätigung stand nun unter Strafe. Neben den Studenten waren es vor allem die Professoren, die jetzt einen »Landesbevollmächtigten« zur Kontrolle des Universitätsbetriebs vor die Nase gesetzt bekamen. So hatten staatliche Behörden immer Einblicke in die universitären Abläufe und konnten jederzeit unliebsame Entwicklungen stoppen. Zudem konnten sie Professoren, Journalisten, nationale und liberale Schriftsteller sowie aufmüpfige Studentenführer ohne Umschweife hinter Gitter bringen.
Das vermutlich schärfste Schwert der Restauration war die Zensur. Damit konnten sämtliche Druckerzeugnisse der nationalen Opposition konfisziert werden. In Mainz wurde eine zentrale Untersuchungskommission eingerichtet, die das universitäre Leben außerhalb der Hörsäle nahezu vollständig lahmlegte. Die Zensur und die permanente Überwachung schwächten so das wichtigste Mittel der Opposition, denn durch diese »Kommunikationsunterbrechung« konnte jede liberale Meinung gegen das Bestehende zum Schweigen und durch die Kriminalisierung des Handelns jeder Zusammenhalt liberaler und nationaler Kreise zerstört werden.3 Die Verfolgung von Oppositionellen erfolgte in Wellen, von denen die erste 1822 den Philosophen Friedrich Schleiermacher und den Dichter Ernst Moritz Arndt mit langwierigen Dienststrafverfahren traf. Arndt und Friedrich Ludwig Jahn, der Begründer der deutschen Turnbewegung, mussten sogar mehrjährige Haftstrafen antreten.4 Diese »Demagogenverfolgungen« endeten erst mit dem Beginn der deutschen Revolution 1848.
Bis dahin aber war die berufliche Zukunft vieler Studenten und Hochschullehrer zerstört. Als zu Beginn der 1830er Jahre sich in vielen Staaten des Deutschen Bundes sogenannte Polenvereine bildeten, um ihre Unterstützung des nationalen Befreiungskampfs der benachbarten Polen gegen die russische Herrschaft zu signalisieren, löste das die zweite Welle der Demagogenverfolgung aus. Besonders hart griffen Preußen und das Großherzogtum Hessen durch, die 39 Todesurteile gegen Studenten aussprachen, sie jedoch alle in lebenslange Haftstrafen umwandelten. Aber es gab auch Beispiele dafür, dass trotz der massiven Bedrohung von Leib und Leben Widerstand gegen die Staatsgewalt möglich und erfolgreich war. 1837 bestieg im Königreich Hannover, das zu Großbritannien gehörte, Ernst August, der Duke of Cumberland, den Thron. Ernst August war nicht nur antiliberal, sondern auch höchst unpopulär. Seine erste Amtshandlung war die Aufhebung der liberalen Verfassung. Dagegen protestierten sieben Göttinger Professoren, da sie mit ihrem Amtseid dazu verpflichtet seien, zur Verteidigung der Verfassung der Staatsgewalt entgegenzutreten.
Die Reaktion des wütenden Königs war eindeutig, die Professoren wurden entlassen. Drei von ihnen mussten sogar binnen dreier Tage das Land verlassen. Kein Ereignis während des Vormärz hat die Herausbildung einer liberalen öffentlichen Meinung so befördert wie der staatsstreichartige Eingriff in die Verfassung Hannovers durch Ernst August. Als dann auch noch die übrigen Staaten im Bundestag des Deutschen Bundes auf eine Intervention verzichteten, solidarisierten sich viele Liberale im Land. Es gab spontane Kundgebungen, auf denen für das Honorar der suspendierten Professoren gesammelt wurde.5 Das Handeln der Göttinger Sieben hat nicht nur für landesweites Aufsehen gesorgt, sondern auch der liberalen und nationalen Bewegung in Deutschland einen enormen Schub gegeben.
1 Pollmann, Bernhard: Lesebuch zur Deutschen Geschichte. Texte und Dokumente aus zwei Jahrtausenden. Dortmund 1989, S. 579 f.
2 Der vollständige Text der Karlsbader Beschlüsse findet sich unter: http://www.verfassungen.de/de06-66/karlsbad19.htm (zuletzt abgerufen am 31.01.2022).
3 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1815–1845/49. München 1989, S. 340.
4 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution. Stuttgart 2010, S. 154.
5 Zechlin, Egmont: Die deutsche Einheitsbewegung. Frankfurt a. M. 1977, S. 104 f.
Anfang der 1830er Jahre bekam die oppositionelle Publizistik immer mehr Bedeutung. Das lag vor allem an Philipp Jakob Siebenpfeiffer, einem ehemaligen Verwaltungsbeamten aus Bayern, der wegen seiner oppositionellen Haltung aus dem Staatsdienst entlassen worden war, und dem Schriftsteller Johann Georg August Wirth. Ende Januar 1832 hatten beide den Deutschen Preß- und Vaterlandsverein gegründet, mit dem sie sich für die Pressefreiheit in Deutschland einsetzten. Der Verein breitete sich vor allem im Südwesten aus, wo viele radikale Oppositionelle lebten. Sie forderten neben der staatlichen Einheit aller Deutschen als Mittel zur Überwindung der sozialen Notlage von Bauern, Handwerkern und den unteren Schichten1 vor allem die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die Gleichberechtigung der Frauen. Gemeinsam mit ihren süddeutschen Gesinnungsgenossen organisierten Siebenpfeiffer und Wirth ein deutsches Nationalfest, das am 27. Mai 1832 auf dem Hambacher Schloss stattfand. Vor mehr als 20 000 Menschen rief Wirth in einer Rede aus: »Hoch! dreimal hoch leben die vereinigten Freistaaten Deutschlands. Hoch! dreimal hoch das conföderierte republikanische Europa!«2
Vergeblich hatte zuvor der österreichische Außenminister Klemens Fürst von Metternich beim Deutschen Bundestag in Frankfurt auf ein Verbot des Deutschen Preß- und Vaterlandsvereins gedrungen. Nun musste er mit ansehen, wie sich Menschen aus ganz Deutschland, Frankreich und Polen versammelten und lautstark neben den bürgerlichen Freiheiten vor allem die deutsche Einheit forderten. Auf dem Hambacher Schloss fand in den Tagen bis zum 1. Juni 1832 die erste Massenveranstaltung der deutschen Oppositionsbewegung statt, und in der Vorstellung des österreichischen Außenministers konnte von ihr nichts Gutes ausgehen. Im Gegenteil schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann sich die liberalen und demokratischen Forderungen in Deutschland durchsetzen würden.
Die Anhänger der deutschen Nationalbewegung verfolgten aufmerksam die Vorgänge in den europäischen Staaten, in denen sich revolutionäre Bewegungen gegen die herrschenden Verhältnisse erhoben hatten. Zwar war es auch in Deutschland vereinzelt zu lokalen Aufständen und Unruhen gekommen, nicht aber zu einem staatlichen Umsturz wie im benachbarten Frankreich im Juli 1830. So hatten am 7. September 1830 Braunschweiger Bürger das Stadtschloss gestürmt, es angezündet und kurzzeitig die Macht in der Stadt übernommen. Gleiches war in Kassel, in Sachsen, in Hannover und in Göttingen geschehen, wo im Januar 1831 Studenten und eine Handvoll Bürger unter Anleitung von drei Privatdozenten der Universität das Militär vertrieben und die Stadt für einige Tage unter ihrer Kontrolle hatten. Der Göttinger Aufstand war Anlass für den englischen König Wilhelm IV., der in Personalunion auch als König von Hannover fungierte, eine liberale Verfassung für das Königreich Hannover zu erlassen, die allerdings nach seinem Tod 1837 von seinem Nachfolger Ernst-August I. wieder kassiert wurde.
Das Hambacher Fest sollte der Nationalbewegung einen neuen Schub verleihen und sich an den erfolgreichen Revolutionen in Belgien, Griechenland und Frankreich orientieren. Entsprechend groß war die Solidarität der Teilnehmer mit der polnischen Freiheitsbewegung, die zur gleichen Zeit gegen die Herrschaft des russischen Zaren kämpfte und die Neugründung eines polnischen Staates anstrebte. Das Hambacher Fest wurde beherrscht von schwarz-rot-goldenen Fahnen, deren Farbkombination an die Uniformen des Freikorps Lützow während der Befreiungskriege gegen Napoleon erinnerten. Diese Farben sollten fortan die »deutschen« Farben sein und für die Einheit und Freiheit Deutschlands sowie für eine föderative deutsche Republik stehen. Als Abkehr von der »Heiligen Allianz« des Wiener Kongresses von 1815 sollte die deutsche Republik gleichberechtigter Partner in einem europäischen Staatenbund werden. Den Ruf nach einer Abkehr von der reaktionären Politik der deutschen Monarchen kleidete Philipp Jakob Siebenpfeiffer in eine Klage über die »knechtische« Haltung der Deutschen gegenüber den Unterdrückern der nationalen Freiheit des eigenen Landes: »Wir helfen Griechenland befreien, (…) wir trinken auf Polens Wiederauferstehung (…); aber knechtisch beugen wir den Nacken unter das Joch der eigenen Dränger (…). Und es wird kommen der Tag (…), wo nicht 34 Städte und Städtlein, von 34 Höfen das Almosen empfangend, um den Preis hündischer Unterwerfung, sondern wo alle Städte, frei emporblühend aus eigenem Saft, um den Preis patriotischer Tat ringen.«
Der Ruf nach Überwindung der »hündischen Unterwerfung« war für die deutschen Fürsten ein Frontalangriff, und auch beim österreichischen Außenminister läuteten die Alarmglocken. Sein Gesandter in Stuttgart blickte sogar in die »grinsenden Züge von Anarchie und Bürgerkrieg«3 und plädierte wie auch andere Vertreter der alten Ordnung für Verbotsmaßnahmen und drastische Sanktionen gegen die Urheber und Organisatoren des Hambacher Festes. Preußen und Österreich übten massiven Druck auf die eher zurückhaltende bayerische Regierung aus, um mit einem Armeekorps für Ruhe und Ordnung in der Pfalz zu sorgen. Ein außerordentliches Schwurgericht in Landau nahm die Ermittlungen auf und leitete im August 1833 ein Verfahren gegen dreizehn Hauptakteure des Festes ein. Während dieses Verfahren mit Freisprüchen endete, drohten in weiteren Prozessen Verurteilungen wegen Beleidigung und anderen Delikten. Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth flüchteten in die Schweiz, von wo aus sie aber weiterhin in Kontakt mit der deutschen Nationalbewegung standen.
Die Reaktionen auf das Hambacher Fest im Deutschen Bund waren eindeutig. Das monarchistische Prinzip wurde bestätigt, Landtage wurden überwacht sowie die Versammlungs- und Pressefreiheit eingeschränkt. Verdächtige Personen konnten nun vorsorglich festgenommen werden, und als Hort der Unruhe mussten Universitäten strenge Kontrollen über sich ergehen lassen. Im Juni 1833 wurde in Frankfurt mit der »Bundes-Zentralbehörde« sogar eine gemeinsame Verfolgungsbehörde eingerichtet, die in den kommenden zehn Jahren schwarze Listen von mehr als 2000 verdächtigen Bürgern anlegte. Während die staatlichen Organe mit weiteren Repressionen reagierten, erfuhren die Teilnehmer des Hambacher Festes in in- und ausländischen Zeitungsartikeln Unterstützung. Mitunter wurden Freiheitsbäume bei ihrer Heimkehr aufgestellt, was in einigen Städten Unruhen auslöste, mit denen die Menschen ihren Unmut über die bestehenden Verhältnisse zum Ausdruck brachten.
1 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution 1806–1848/49. Stuttgart 2010, S. 446 ff.
2 Die gesamte Rede von Wirth auf dem Hambacher Fest findet sich bei »germanhistorydocs«: https://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=238&language=german (zuletzt abgerufen am 30.04.2022).
3 Zit. nach: Kreutz, Wilhelm: Hambach 1832. Deutsches Freiheitsfest und Vorbote des europäischen Völkerfrühlings, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz. Mainz 2007, S. 35.
Anfang der 1840er Jahre bekamen die nationale Bewegung und die patriotischen Vereine in Deutschland einen Schub durch ein Ereignis, das gar nicht in den deutschen Staaten, sondern in Frankreich und im Orient stattgefunden hatte. Dort hatte ein schwelender Machtkampf zwischen dem Sultan Abdülmecid I. und dem ägyptischen Vizekönig Muhammad Ali Pascha zu einer Destabilisierung des Osmanischen Reichs und des Nahen Ostens geführt. Am 24. Juni 1839 hatten ägyptische Heere die Armee des Sultans geschlagen, was Muhammad Ali Pascha dazu ermunterte, den Einfluss und den Machtbereich Ägyptens auf Kosten des Osmanischen Reichs zu erweitern. In diesen Streit mischte sich Frankreich auf Seiten Ägyptens ein. Die Regierung in Paris wollte einerseits ihren Einfluss am Mittelmeer und im Nahen Osten ausbauen und andererseits der innenpolitischen Kritik an ihrer als zu lasch empfundenen Außenpolitik begegnen. Mit der Parteinahme für Ägypten isolierte sich Frankreich in Europa allerdings, denn Großbritannien, das den dringend benötigten Handelsweg nach Südasien bedroht sah, schmiedete am 15. Juli 1840 im Vertrag von London eine Allianz mit Preußen, Russland und Österreich und schlug ein Jahr später die Truppen des ägyptischen Vizekönigs Muhammad Ali Pascha entscheidend.
Damit waren die Handelswege gesichert, Ägypten in Zukunft für den europäischen Markt geöffnet und die französischen Machtansprüche in der Levante deutlich zurückgewiesen. In Frankreich löste dieses außenpolitische Desaster eine schwere Krise aus, weil die Ereignisse im Orient als Demütigung Frankreichs – ja als ein »diplomatisches Waterloo«1 empfunden wurden. Um diesem innenpolitischen Dilemma zu entkommen, suchte Ministerpräsident Adolphe Thiers nach einem Thema, das die öffentliche Meinung beruhigen und von den außenpolitischen Schwierigkeiten ablenken konnte. Dabei machte Thiers sich die komplizierte innenpolitische Gemengelage zunutze. Offenkundige Korruptionsfälle und mehrere gescheiterte Attentats- und Putschversuche von links wie rechts hatten dafür gesorgt, dass die Stimmung in eine pauschale Ablehnung der europäischen Ordnung des Wiener Kongresses umgeschlagen war. Diese Welle der Empörung versuchte der französische Ministerpräsident auf ein Thema umzuleiten, von dem er sicher sein konnte, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter ihm stehen würde. Deshalb forderte er nun lautstark den Rhein als Ostgrenze Frankreichs, quasi als eine Wiedergutmachung für das »diplomatische Waterloo«.
Adolphe Thiers konnte dabei an historische Beispiele anknüpfen. Anfang 1793 hatte der Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent in Mainz beschlossen, bei der französischen Nationalversammlung den Antrag zu stellen, die kurz zuvor gegründete Mainzer Republik in das französische Staatsgebiet zu integrieren. Dieses Anschlussersuchen fand zwar die Unterstützung der frankophil gesinnten Mainzer Bevölkerung, kam aber nicht mehr zum Tragen, weil preußische Truppen mit der Belagerung der Stadt begonnen hatten.2 Vier Jahre später wurde das gesamte linke Rheinufer nach dem Frieden von Campoformio dem französischen Staatsgebiet zugeschlagen. Während der Rheinkrise erinnerte der französische Ministerpräsident daran, rüstete die Armee auf und drohte dem Deutschen Bund mit Krieg. Es begann eine Pressekampagne, die Monate dauerte. In Deutschland löste dieser »annexionistische Chauvinismus« auf das linke Rheinufer als die »natürliche französische Ostgrenze«3 eine national-patriotische Aufregung aus, die Jahre andauerte und der deutschen Nationalbewegung einen erheblichen Schub gab.
Da der Rhein das Objekt französischer Begehrlichkeiten war, stand der Fluss im Mittelpunkt nationaler Dichtkunst. Neben politisch-patriotischer Lyrik wurden Pamphlete, Glossen und Karikaturen zu den wichtigsten Ausdrucksformen der nationalen Bewegung in Deutschland. Sie alle nahmen sich nun angesichts der französischen Ansprüche der »nationalen Sache« der Deutschen an und lenkten die öffentlichen Debatten auf die Suche nach einer gemeinsamen Zukunft in einem eigenen gesamtdeutschen Nationalstaat. Vor allem in der Rheinliedbewegung entstanden zahlreiche politisch motivierte Werke. Nikolaus Becker verfasste 1840 das Gedicht über den »freien deutschen Rhein«, mit dem er die Rheinkrise reflektiert und antifranzösische Ressentiments in Versen verpackt: »Sie sollen ihn nicht haben, / Den freien deutschen Rhein, / Bis seine Flut begraben / Des letzten Manns Gebein!«4 Aus der Feder des Württemberger Dichters Max Schneckenburger stammte im selben Jahr das Gedicht Die Wacht am Rhein,5 das ein nationalistischer Aufruf zur Verteidigung des linken Rheinufers gegen französische Ansprüche war und dessen Refrain »Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein. / Fest steht und treu die Wacht, / die Wacht am Rhein!« die Zeiten überdauert hat.
Ende 1840 legte sich die Aufregung allmählich wieder, nachdem Adolphe Thiers zurücktreten musste und sein Nachfolger François Guizot einen versöhnlicheren Ton gegenüber den Deutschen anschlug. Bei denen hatte der Konflikt allerdings wie ein Katalysator gewirkt. Die französische Politik, schrieb Heinrich Heine fünfzehn Jahre später, habe »das Volk wieder auf die Beine« gebracht und »unser Vaterland in die große Bewegung hineingetrommelt«.6 Und tatsächlich löste die Rheinkrise in Deutschland einen bis dahin unbekannten nationalen Elan aus. Unter dem Eindruck der französischen Forderungen, die eine Revision des geopolitischen Status quo in Zentraleuropa bedeutet hätten, schrieb Heinrich Hoffmann von Fallersleben Ende August 1841 während einer Reise nach Helgoland das Lied der Deutschen, dessen dritte Strophe heute die deutsche Nationalhymne ist. Nach den Angriffen der französischen Politik, die darin gipfelte, dass König Louis-Philippe I. mit Krieg drohen sollte, schrieb der Dichter ein Plädoyer für ein geeintes Deutschland, das sich gegen derartige Angriffe zur Wehr setzen würde. Er war beseelt von der Idee, dass das »geeinte Deutschland« über dem »zersplitterten Deutschland« steht, das im Deutschen Bund versammelt war.
Das Lied der Deutschen. Faksimile der Handschrift Heinrich Hoffmann von Fallerlebens
Die Liedzeile »Deutschland, Deutschland über alles« bezog er darauf, dass nicht Preußen, nicht Bayern und nicht Österreich, sondern Deutschland über den vielen zersplitterten deutschen Staaten stehen sollte. Das gemeinsame Deutschland sollte also nicht über anderen Nationen stehen, sondern »nur« die eigene Zerstrittenheit überwinden. Die Umrisse des einigen Deutschland beschrieb Hoffmann von Fallersleben mit vier Flüssen, von denen zwei – Maas und Etsch – die Grenzen des Deutschen Bundes von 1841 markierten. Die beiden anderen – die Meerenge des Belt und die Memel – wurden von der deutschen Nationalbewegung wegen der dort lebenden deutschen Bevölkerung als Teil des zu gründenden deutschen Nationalstaats betrachtet: der Belt wegen des Herzogtums Schleswig, das seit dem Vertrag von Ripen 1460 untrennbar mit dem zum Deutschen Bund gehörenden Herzogtum Holstein verbunden war, und die Memel wegen des zu Preußen, aber nicht zum Deutschen Bund gehörenden Ostpreußen.
Die Rheinkrise, die kurz nach ihrem Ende im Deutschen Bund zu einem massiven Ausbau der Festungen in Mainz, Ulm und Rastatt führte, hat ausgelöst, was sie zu verhindern beabsichtigte. Auch wenn es Unterschiede im Detail gab, die französischen Angriffe auf den deutschesten aller deutschen Flüsse – den Rhein – haben Liberale, Nationale und Sozialisten zusammengeschweißt und den revolutionären Aktivisten des Vormärz Schwung verliehen.
1 Siehe dazu: Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution. 1806–1848/49. Stuttgart 2010, S. 464.
2 Mehr zur Mainzer Republik: Berkessel, Hans, u. a.: Die Mainzer Republik und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland. Mainz 2019. Brauburger, Heinz: Freiheitsbaum und Galgen. Die Mainzer Republik 1792/93. Wiesbaden 2020.
3 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1815–1845/49. München 1989, S. 398.
4 Der vollständige Text ist bei »Projekt Gutenberg« zu finden: https://www.projekt-gutenberg.org/antholog/schulged/chap599.html (zuletzt abgerufen am 04.02.2022).
5 Der Text ist zu finden bei: Moßmann, Walter, u. a.: Alte und neue politische Lieder. Hamburg 1978.
6 Heinrich Heine in einem Brief an den Fürsten Pückler in Moskau am 23. August 1854: http://www.zeno.org/Literatur/M/Heine,+Heinrich/Essays+II%3A+%C3%9Cber+Frankreich/Lutetia/Zueignungsbrief (zuletzt abgerufen am 04.02.2022).
Die Ursachen für den Aufstand der schlesischen Weber und die sich in ganz Schlesien rasch ausbreitende Armut lagen lange zurück. Schlesien, das seit 1742 zu Preußen gehörte, war abhängig von der heimischen Textilindustrie. Viele Familien arbeiteten dort als Weber und litten unter ständig steigenden Abgaben, die sie an ihre Feudalherren zu entrichten hatten. Das führte zwangsläufig zu immer längeren Arbeitszeiten, und schlussendlich mussten auch die Kinder mitarbeiten, um ein Familieneinkommen zu erzielen, das das Überleben sicherte. Aber die Weber in Schlesien waren nicht die einzige Bevölkerungsgruppe, die unter dem rasanten ökonomischen und sozialen Wandel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu leiden hatte.
Die Verelendung von Teilen der Bevölkerung hatte ihre Ursachen in den Folgen der industriellen Revolution, angetrieben vom fortschreitenden Einsatz der Dampfmaschine, dem Ausbau des Eisenbahnnetzes und der Konkurrenz aus England. Die Industrialisierung war die »gründlichste Umwälzung menschlicher Existenz«,1 die man in den Quellen der Menschheitsgeschichte finden kann, und hat tiefe Spuren in den europäischen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts hinterlassen. Die ökonomischen Veränderungen, die innerhalb sehr kurzer Zeit vonstattengingen, lösten eine ungleiche Einkommensverteilung aus. Dem wohlhabend werdenden Bürgertum stand eine große Gruppe von Arbeitern in der Landwirtschaft und der sich rasch entwickelnden Industrie gegenüber, die mit dem radikalen Wandel nicht Schritt halten konnte und nur noch geringe Einkommen erzielte. Viele von ihnen wurden durch die parallel beginnende »Epidemie der Armut« – dem Pauperismus – in Mitleidenschaft gezogen. Die grassierende Armut war auch durch ein schnelles Bevölkerungswachstum bei gleichzeitig stagnierender Produktivität und drei Missernten zwischen 1816 und 1847 ausgelöst worden. Kartoffelfäule, Schädlingsbefall und die Ausläufer der »kleinen Eiszeit« sorgten am Beginn des 19. Jahrhunderts für Wirtschafts- und Versorgungskrisen, die den Boden für eine revolutionäre Entwicklung in Deutschland und Europa bereiteten. Das Entstehen einer »unteren Klasse«, die einer ausufernden Verarmung und der politischen Radikalisierung anheimfallen werde, wurde schon in den 1820er Jahren diskutiert. So wurde auch vor »kommunistischen Tendenzen« gewarnt, weil staatliche Reform- und Sozialprogramme wie die 1807 in Preußen eingeführte Agrarreform zur »Bauernbefreiung« entweder nicht umgesetzt wurden oder wirkungslos blieben.2
Die Krise traf in Deutschland Millionen Menschen. Sie waren meist materiell bedroht und gesundheitlich angeschlagen. Im Winter 1816 forderte der Hungertyphus tausende Opfer. Die Zahl der Bettler stieg rasant, in Bayern zählten die Behörden neben 65 000 bettelnden Männern mehr als 55 000 Frauen und etwa 25 000 Kinder, die als arm galten. Mitte der 1840er Jahre schrieb eine hessische Zeitung, die »Not sei so groß, weil das Spinnen von gekämmter Wolle, (…) jetzt infolge der Überschwemmung Deutschlands mit englischen, aus australischer Wolle gefertigten Garnen fast gänzlich aufgehört hat. Die armen Spinner können ihren Bedarf an Kartoffeln nicht mehr bezahlen und haben oft in drei, vier Tagen kein Stück Brot zu essen.«3 Die deutsche Wirtschaft war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem der britischen Konkurrenz hoffnungslos unterlegen. Britische Textilfabriken konnten auf billige Rohstoffe aus den Kolonien zurückgreifen und damit die europäischen Märkte weitgehend kontrollieren. Englische Massenware, die wegen billiger Rohstoffimporte zu Dumpingpreisen auf den europäischen Markt gelangte, entzog vielen Textilarbeitern in Schlesien die Grundlage ihrer ohnehin prekären Existenz.4 Um dieses Ungleichgewicht zu egalisieren, musste die deutsche Wirtschaft modernisiert werden. Dieser Modernisierungsprozess war in den 1830er Jahren vor allem deshalb von Aufständen begleitet, weil er anfangs zu weiter sinkenden Löhnen und damit überall dort zu immer unerträglicheren Verhältnissen in den Familien führte, wo die alten Manufakturen den neuen maschinellen Produktionsweisen weichen mussten.
Die schlesischen Weber, Gemälde von Carl Wilhelm Hübner, 1846
Von diesen Verwerfungen waren besonders die vom Preisdiktat ihrer Agenten abhängigen Heimarbeiter betroffen. Die Agenten kauften den Rohstoff ein, bezahlten die Ware und übergaben sie den Webern, die daraus zu einem festgelegten Preis innerhalb einer bestimmten Zeit Textilien zu fertigen hatten. Da sie aber keine leistungsstarken und kostengünstigen Maschinen besaßen, konnten sie nur mit vermehrter Arbeit zum gleichen Lohn mithalten. Als in den 1840er Jahren in Schlesien auch noch eine Überproduktion in der Textilindustrie dem Lohndumping der Fabrikanten zugutekam, zogen am 3. Juni 1844 die Arbeiter von Peterswaldau vor die Fabrik und forderten einen gerechten Lohn. Daraufhin ließen die beiden Fabrikanten einige ihrer Angestellten mit Knüppeln auf die Demonstranten einschlagen und einen der Anführer festsetzen. Am Tag darauf schlossen sich weitere Heimweber von Peterswaldau dem Protest an, um ihren Kollegen freizubekommen und höhere Löhne durchzusetzen. Als das scheiterte, eskalierte die Situation. Die aufgebrachte Menge zog zum Haus des Fabrikanten, zerstörte die Einrichtung und wütete anschließend in den nahegelegenen Fabrikgebäuden.
Einige der Fabrikanten mussten die Stadt verlassen, andere konnten sich durch Geldzahlungen die Gunst der Weber erkaufen. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. zeigte zwar nach außen Verständnis für die Lage der Weber, hatte aber hauptsächlich Angst vor einem kommunistisch gelenkten Aufstand. Deshalb veranlasste er, den Aufstand der Weber militärisch niederzuschlagen. Am 6. Juni 1844 wurde auf königliches Geheiß der Aufstand brutal beendet: Elf Tote und 24 zum Teil schwer Verletzte waren zu beklagen. In den anschließenden Gerichtsverfahren wurden vor allem deshalb geringfügige Strafen ausgesprochen, weil das Gericht das Elend der Weber als mildernden Grund ansah und die Kosten der Verfahren nicht etwa ihnen, sondern den Fabrikanten auferlegte.
Der Weberaufstand in Schlesien war gegen die Ungerechtigkeit der Entlohnung durch ihre Fabrikanten gerichtet. Er war weder Klassenkampf noch Maschinenstürmerei,5 sondern eine frühindustrielle Revolte, die sich gegen eine lokale Situation richtete und nicht den Sturz des ökonomischen Systems im Sinne führte. Obwohl vier Jahre später die Revolution in Deutschland beginnen sollte, fehlten beim Weberaufstand in Schlesien die Zutaten einer Revolution. Dennoch malten die Ereignisse von Peterswaldau ein Menetekel an die Wand, das eine Warnung nicht nur an die Textilfabrikanten in Schlesien enthielt. 1844 ging es zwar nicht um eine Republik oder um eine konstitutionelle Monarchie, die an Recht und Verfassung gebunden war. Aber die schlesischen Textilarbeiter haben unmissverständlich klargemacht, dass die soziale und politische Lage, in der sie sich befanden, nicht mehr hinnehmbar war.
1 Hobsbawm, Eric: Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848–1875. München 1977, S. 11.
2 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1815–1845/49. München 1989, S. 281.
3 Beuys, Barbara: Familienleben in Deutschland. Neue Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Hamburg 1980, S. 365.
4 Kocka, Jürgen: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart 2001, S. 74.
5 Die Darstellung des Weberaufstands bezieht sich im Wesentlichen auf: Hodenberg, Christina von: Aufstand der Weber. Die Revolte von 1844 und ihr Aufstieg zum Mythos. Bonn 1997, S. 39 ff.