Die politische Situation Deutschlands und Polens wies in der Mitte des 19. Jahrhunderts erstaunliche Parallelen auf: Beide waren abhängig von den deutschen Großmächten Österreich und Preußen sowie von Russland, die sich beim Wiener Kongress 1815 in der »Heiligen Allianz« zusammengeschlossen hatten. Diese drei europäischen Mächte hatten kein Interesse an einem unabhängigen Polen oder einem eigenständigen deutschen Gesamtstaat. Polen wie Deutschland waren abhängig von den Interessen der europäischen Großmächte. 1807 hatte Napoleon im Frieden von Tilsit mit Preußen und Russland den französischen Vasallenstaat »Herzogtum Warschau« unter der Herrschaft seines Waffenbruders Friedrich August I. von Sachsen entstehen lassen. 1815 wurde das Herzogtum liquidiert und das sogenannte Kongresspolen ins Leben gerufen, das in Personalunion vom russischen Zaren Alexander I. regiert wurde.1 Damit wurde die nationale Leidensgeschichte der Polen fortgeschrieben: Zwischen 1772 und 1795 hatten Österreich, Russland und Preußen Polen unter sich aufgeteilt. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 sollte sich daran nichts Wesentliches ändern.
Der nationale Befreiungskampf der Polen gegen die russische Herrschaft traf in den deutschen Ländern auf viele Sympathisanten. Die Begeisterung für die polnischen Nachbarn und für ihr Aufbegehren gegen die als Besatzer empfundenen Russen war nicht die erste Sympathiewelle, die für einen Aufstand durchs Land rollte.
Die Teilungen Polens
Als sich in den 1820er Jahren die Griechen aus dem Osmanischen Reich herauslösen wollten, wurde das in Deutschland als »nationaler Befreiungskampf« gefeiert. Es zirkulierten Petitionen und Flugschriften, die von der Presse bereitwillig verbreitet wurden.
Bei diesen Sympathiekundgebungen, die auch deshalb großen Zulauf erhielten, weil sie für eine Nationenbildung standen, die »zu Hause verwehrt blieb«,2 kam es zu überraschenden Allianzen. Fürstenhäuser und offizielle Regierungsstellen wirkten in Griechen-Vereinen mit, sammelten Geld und unterstützten deutsche Patrioten, die für die Griechen in den Kampf zogen – allen voran der bayerische König Ludwig I.,3 dessen Sohn Otto 1832 griechischer König wurde. Die Begeisterung für die Griechen ebbte nach der erfolgreichen Staatsgründung ab und wurde durch eine neue Sympathiewelle ersetzt.
Anfang 1830 gründeten sich die ersten Polenvereine, die den Kampf der polnischen Nachbarn gegen Russland unterstützten. Die Vereine erreichten nahezu alle sozialen Schichten und erfuhren bei den Burschenschaften eine besonders starke Unterstützung. Aktivisten der Polenvereine sammelten Geld und verschickten Solidaritätsadressen, weil sie bei einem Sieg der polnischen Freiheitsbewegung auch einen Erfolg der deutschen Opposition erwarteten. Blieben in dieser Auseinandersetzung die Russen Sieger, befürchteten die deutschen Unterstützer der Polenvereine einen Rückschlag für die Freiheitsbewegung in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Wie beim Philhellenismus zehn Jahre zuvor waren viele Deutsche begeistert vom polnischen Befreiungskampf, zumal zur gleichen Zeit das Nachbarland Belgien seine Unabhängigkeit vom Königreich der Vereinigten Niederlande erstritten hatte. Es schien, als komme es mit den Gründungen von Nationalstaaten endlich zu dem lange ersehnten »Völkerfrühling«. Dieses liberale Schlagwort des Schriftstellers Ludwig Börne prophezeite schon seit einigen Jahren die Entstehung nationaler Einheitsstaaten in Europa. Als dann auch noch Ende Dezember 1830 mit dem Londoner Protokoll die Unabhängigkeit Belgiens beschlossen wurde, wähnten sich viele nationale Oppositionelle am Ziel ihrer Träume: In Belgien war – wie in Frankreich – das Volk der Souverän, und genau das wollte man in Polen wie in Deutschland ebenfalls erreichen.
Der polnische Aufstand begann im November 1830, als eine Gruppe von Verschwörern den Warschauer Belvedere-Palast angriff, um den Vizekönig und Bruder des Zaren, Konstantin Romanow, zu töten. Der Anschlag misslang zwar, löste aber dennoch jenen Funken aus, der zum Aufstand gegen Russland führte. Nach gescheiterten Verhandlungen mit Zar Nikolaus I. setzte das Parlament in Warschau am 25. Januar 1831 die Romanows als Herrschergeschlecht in Polen ab. Damit war nicht nur der Konflikt mit Russland programmiert, sondern das politische System der Friedensordnung des Wiener Kongresses angegriffen. Nun überschlugen sich die Ereignisse: Ende Januar 1831 wurde eine polnische Regierung gebildet, aber unterschiedliche Vorstellungen über Ausmaß und Ablauf einer nationalen Erhebung behinderten ein geschlossenes Auftreten. Der Konflikt mit dem zaristischen Russland eskalierte binnen weniger Wochen zu einem polnisch-russischen Krieg, der im Spätsommer 1831 mit einer Niederlage der Aufständischen endete.4
Die kriegerischen Unruhen in Polen tangierten auch die beiden anderen »Teilungsmächte« Preußen und Österreich, obwohl es im preußischen Teil und in dem von Österreich annektierten Galizien zunächst noch relativ ruhig geblieben war. Dennoch setzten beide Mächte auf einen Schulterschluss mit Russland und fassten den Plan, mit verschärften Maßnahmen einem Übergreifen des Konfliktes auf das eigene Gebiet vorzubeugen. Preußen setzte auf eine harte »Germanisierungspolitik«, drängte den Einfluss des polnischen Adels und der Kirche zurück, verteilte Grund und Boden an Deutsche und erklärte 1832 Deutsch zur Amtssprache. Auch Österreich unterdrückte sämtliche freiheitlichen oder gar revolutionären Bestrebungen der polnischen Bevölkerung.5 In den eigenen Ländern sorgte diese Politik nahezu zwangsläufig für eine nicht endende Unterstützung der polnischen Aufständischen. Nach der Niederlage standen die deutschen Polenvereine polnischen Flüchtlingen bei, organisierten Fluchtwege und schwenkten beim Hambacher Fest im Sommer 1832 neben den deutschen viele polnische Fahnen.
Hambach war nicht nur eine Manifestation der deutschen nationalen Bewegung, sondern vor allem auch ein europäisches Fest. Ein gemeinsames Europa der Nationen stand über der Veranstaltung, bei der deutsche, polnische und französische Fahnen das farbenprächtige Bild bestimmten. Zwar hatte die polnische Nationalbewegung ihren Kampf gegen das zaristische Russland verloren, ihr Einsatz für nationale Unabhängigkeit aber war für viele Teilnehmer vorbildlich. Einer von ihnen fasste das in einer emotionalen Rede zusammen: »Ohne Polens Freiheit kein dauernder Friede, kein Heil für alle europäischen Völker!«6 Diese Verbundenheit hielt lange Jahre. Als 1846 in der damaligen preußischen Provinz Posen ein Aufstand niedergeschlagen wurde und Aufständische in Berlin zum Tode verurteilt wurden, löste das bei vielen Berlinern »wahres Entsetzen« aus. Die Vossische Zeitung schrieb, dass »die Unglücklichen doch nur die Freiheit ihres zerstückelten Vaterlandes gewollt« hätten. Am 20. März 1848 erreichen Tausende lautstarke Demonstranten in Berlin die Freilassung der gefangen gehaltenen Polen.
1 Mehr dazu: Hellfeld, Matthias von: Das lange 19. Jahrhundert. Bonn 2016, S. 64 ff.
2 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1815–1845/49. München1989, S. 397.
3 Dann, Otto: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990. München 1993, S. 90.
4 Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens. Bonn 2015, S. 198 ff.
5 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution 1806–1848/49. Stuttgart 2010, S. 427.
6 Zit. nach: Rautenberg, Erardo, in: Der Tagesspiegel vom 02.10.2003: https://www.tagesspiegel.de/themen/brandenburg/ueber-die-liebe-der-deutschen-zu-den-polen-brandenburgs-generalstaatsanwalt/453274.html (zuletzt abgerufen am 15.04.2022).
500 Gramm war es schwer – das Zollpfund. Die Einführung dieses im Bereich des Deutschen Zollvereins geltenden Gewichts war eine kleine Revolution, denn bis 1834 gab es in den 34 Staaten des Deutschen Bundes unterschiedliche Maße, Gewichte und Normen, die einer wirtschaftlichen Prosperität im Wege standen. Schon ein Jahr zuvor hatten sich potenzielle Mitgliedstaaten eines Zollvereins auf ein einheitliches Zollgewicht verständigt, das die Voraussetzung zur Erhebung gleichmäßiger Zollabgaben war. Ziel des vor allem von Preußen angestrebten Zollvereins war es, die staatlichen Einnahmen durch Zölle spürbar zu erhöhen und gleichzeitig eine Art Binnenmarkt zu schaffen, der in den kommenden Jahren für einen erheblichen ökonomischen Aufschwung bei den beteiligten Staaten sorgen sollte.
Am Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland 1800 Zollgrenzen. Allein in Preußen begegnete man derart vielen lokalen Zolltarifen, dass ein Warentransport von Köln nach Königsberg bis zu achtzig Kontrollen passieren musste.1 Die vielen Zolltarife waren eine Folge der seit Jahrhunderten gewachsenen Strukturen des Deutschen Reichs und führten am Beginn der Industrialisierung zu einer Verteuerung ebenso des innerdeutschen Handels wie des Handels mit anderen europäischen Ländern. Vor allem Preußen litt nach dem Wiener Kongress darunter, dass die eher gewerblich orientierten Provinzen in Westfalen und am Rhein und der agrarisch strukturierte Osten des Landes keine Landverbindung hatten und obendrein auch noch durch Zollschranken voneinander getrennt waren. Deswegen hatte Preußen schon 1818 eine Vereinheitlichung der Verbrauchssteuern in seinen Provinzen beschlossen. 1828 gründeten Bayern und Württemberg den süddeutschen Zollverein, während sich Hessen im selben Jahr den preußischen Zolltarifen anschloss und damit eine fiskalische Landverbindung zwischen den preußischen Provinzen herstellte.
Der Deutsche Zollverein
Die Gründung eines Deutschen Zollvereins, dem 1834 neben Preußen die Königreiche Bayern, Württemberg und Sachsen sowie Darmstadt, Hessen und Thüringen angehörten, war eine logische Fortentwicklung vorheriger Entscheidungen und eine Weichenstellung für Deutschlands Zukunft. Obwohl Österreich, die norddeutschen Küstenstaaten, die Hansestädte, das Großherzogtum Baden sowie Hessen-Nassau nicht zum Zollverein gehörten, nannte er sich trotzdem »Deutscher Zollverein«.2 Zweifellos war damit zum ersten Mal seit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation ein gemeinsames deutsches Gebilde entstanden. Es gehorchte zwar mehr den fiskalpolitischen und zollrechtlichen Notwendigkeiten der Zeit, war aber vor allem in Richtung Österreich ein deutlicher Fingerzeig auf eine »kleindeutsche« Lösung, die in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 dann auch Realität wurde. Zeitgleich zur Gründung des Zollvereins beschleunigte sich der Aufbau neuer gewerblicher Strukturen: In der Baumwoll- und Eisenindustrie, beim Steinkohlebergbau und im Maschinenbau wuchs die Produktivität, neue Fabriken und Produktionsstätten entstanden, in denen viele Menschen Arbeit fanden.
Zwar bedingten sich Zollverein und ökonomische Entwicklung nicht direkt,3 aber ohne die Angleichung von Maßen, Gewichten und Zöllen wäre die rasante Wirtschaftsentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland nicht zu erklären. Mit dem Zollverein gelang den teilnehmenden deutschen Staaten erstmals nach dem Wiener Kongress die Überwindung der dort festgeschriebenen wirtschaftlichen wie staatlichen Zersplitterung. Die deutschen Staaten waren zwar 1815 in einer gemeinsamen politischen Organisation – dem Deutschen Bund – eingebunden. Ökonomisch aber waren sie Konkurrenten. In England und Frankreich konnte man sehen, wie das Zusammenwachsen der Wirtschaftsgebiete, die fortschreitende Arbeitsteilung und die Vorteile eines gemeinsamen Wirtschaftsraums Prosperität und sprudelnde Staatseinnahmen generierten. Vor allem in Preußen und den süddeutschen Staaten wurde deshalb der Ruf nach einem »Zusammenschluss zu einer Volkswirtschaft«4 lauter. Nationale Kreise begrüßten den Zollverein ohnehin, weil er bei ihnen als ein erster Schritt auf dem Weg zu einer geeinten deutschen Nation angesehen wurde. Auch wenn dabei größtenteils wirklichkeitsfremde Schwärmereien am Werk waren, formierte sich durch die Gründung des Deutschen Zollvereins allmählich die Vorstellung eines deutschen Reichs auf der Grundlage einer kleindeutschen Lösung.
Der Deutsche Zollverein, der Ausbau des Eisenbahnnetzes und die immer weiter fortschreitende Industrialisierung waren einerseits Motor der Modernisierung der Staaten des Deutschen Bundes. Andererseits beschleunigte diese Entwicklung aber auch die »soziale Frage«. Viele Arbeiterfamilien lebten in prekären Verhältnissen, es fehlte an Wohnungen und Infrastruktur, und die rasant wachsenden Städte waren dem Ansturm neuer Bürger nicht gewachsen. Sie boten einen reichhaltigen Nährboden für eine Unzufriedenheit, die 1848 in der Deutschen Revolution mündete. Ein Jahr zuvor hatten badische Liberale das Heppenheimer Programm verfasst und dafür plädiert, den Zollverein parlamentarisch auszubauen und zu einem gemeinsamen, nationalen Entscheidungsorgan zu machen. Der Zollverein, schrieb der Publizist Karl Mathy in der Deutschen Zeitung über das Heppenheimer Programm, übe »eine unwiderstehliche Anziehungskraft für den Beitritt der übrigen deutschen Länder« aus, sodass auf dieser Basis »eine wahre deutsche Macht«5 gegründet werden könnte. Damit wurde die Wirtschaft zum Leitsektor einer gesellschaftlichen Entwicklung, bei der es zunächst um eine »Wirtschaftsnation«6 und weniger um einen geeinten Nationalstaat ging. Der Deutsche Zollverein war bei dieser Entwicklung der geeignete und reibungslos funktionierende Rahmen, der durch weitere Beitritte auf ökonomischem Gebiet die deutsche Nation vorwegnahm. Mehr noch: Er war das »erste geschichtliche Beispiel einer Zollunion souveräner Staaten moderner Ausprägung«.7
Während die Mitglieder des Zollvereins von dem Zusammenschluss profitierten, gab es für Österreich darin keinen Platz. Dementsprechend zielte die österreichische Politik nach der Revolution von 1848/49 darauf ab, den Deutschen Zollverein zu sprengen und durch eine Zollunion zu ersetzen, der alle deutschen Staaten und Österreich angehören sollten. Dadurch sollte die wirtschaftliche Vormachtstellung Preußens in Deutschland gebrochen und der eigene politische Führungsanspruch geltend gemacht werden. In Berlin stießen die österreichischen Pläne auf vehemente Ablehnung. Ebenso auf Ablehnung stieß zunächst die Angleichung der Uhrzeit, die innerhalb des Deutschen Bundes um mehr als eine Stunde differieren konnte. Die »Eisenbahnzeit« wurde für den inneren Dienst angenommen, aber die verschiedenen Zeitrechnungen blieben nebeneinander bestehen. Fehler, Missverständnisse und Unbequemlichkeiten waren vor allem bei grenzüberschreitendem Bahnverkehr programmiert.
1 Siehe dazu: Peter Burg: Zoll und Schmuggel vor 1834: http://peter-burg.de/zollverein-zoll-schmuggel/zoll-und-schmuggel-vor-1834 (zuletzt abgerufen am 22.04.2022).
2 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution 1806–1848/49, Stuttgart 2010, S. 197.
3 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1815–1845/49. München 1989, S. 125 ff.
4 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, S. 358 ff.
5 Pollmann, Bernhard: Lesebuch zur Deutschen Geschichte. Texte und Dokumente aus zwei Jahrtausenden. Dortmund 1989, S. 635.
6 Dann, Otto: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990. München 1993, S. 136.
7 Wehler, Hans-Ulrich: a. a. O., S. 129.
Die Kartoffelrevolution, die im Frühjahr 1847 Berlin erschütterte, hatte eine lange Vorgeschichte. Zwei Jahre zuvor litten die Menschen in Mitteleuropa unter einem feucht-warmen Sommer, der 1845 dazu beitrug, dass sich die Kartoffelfäule in Europa ausbreiten konnte. Seit rund 100 Jahren gehörte die aus Amerika importierte Kartoffel zu den Grundnahrungsmitteln: Sie war billig, musste zum Verzehr nur gereinigt und gekocht werden und war in ausreichendem Maß vorhanden. Bei der Ernte 1846 stellte sich allerdings heraus, dass die Kartoffel nur noch ein brauner, pampiger Klumpen war – ungenießbar und übelriechend. Die Ernte ging um die Hälfte zurück und ließ die Preise um das Fünffache steigen. In Berlin und Schlesien waren die Folgen fatal. Im Winter 1847/48 grassierte der Hungertyphus und kostete allein in Schlesien etwa 50 000 Menschen das Leben. Die Zahl kleinkrimineller Delikte – vor allem Mundraub und Holzdiebstahl – schnellte ebenso in die Höhe wie sozialer Protest.
Bei der Kölner Martinskirmes kam es im August 1846 zu regelrechten Straßenschlachten zwischen der Polizei und aufgebrachten Bürgern. Das aber war nur ein Vorläufer zu den Ereignissen in Berlin im April 1847. Als die preußische Staatsregierung das ganze Ausmaß der Katastrophe allmählich erkannte, hob sie zwar die Einfuhrzölle auf Getreide und Mehl auf, konnte damit aber die explodierenden Kartoffelpreise nicht eindämmen. Im April 1847 musste eine Arbeiterfamilie einen halben Tagesverdienst aufbringen, um ein paar Kartoffeln kaufen zu können. Wenige Tage später entlud sich der Zorn in Gewalt und Zerstörung.
Sturm auf die Kartoffelstände, Lithografie von Vinzenz Katzler, um 1847
Allein in Berlin gingen am 21. April 1847 Menschen auf acht Marktplätzen auf die Händler los, zertrümmerten deren Verkaufsstände und stahlen Kartoffeln, Brot und andere Lebensmittel. Gegen die Plünderer wurde die Kavallerie eingesetzt, die mit gezogenen Säbeln auf die eigene Bevölkerung losging und damit den Protest erst richtig anstachelte. Am nächsten Tag strömten Tausende aus den Berliner Vorstädten ins Zentrum. Es kam zu weiteren Plünderungen und gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen Geschäfte ausgeraubt, das Palais des preußischen Prinzen schwer beschädigt und Barrikaden errichtet wurden. Die Berliner Garnison wurde mobilisiert, um dem Hungeraufstand Herr zu werden. Rund 100 Aufständische wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt,1 82 Soldaten und viele Demonstranten wurden teilweise schwer verletzt.2
Dabei hatten Berliner Politiker bereits im Oktober 1846 den preußischen König darum gebeten, den Getreideexport und das Verarbeiten von Kartoffeln zu Branntwein zu verbieten. Ihnen war klar, dass das schlechte Wetter des Sommers 1846 eine miserable Ernte 1847 nach sich ziehen würde. Die sozialen Folgen vor allem für jene Bevölkerungsschicht, die kaum Fleisch verzehrte und hauptsächlich von Kartoffeln lebte, wollten sie durch das Export- und Verarbeitungsverbot abmildern. Aber die Antwort war niederschmetternd und bestand in der Zurechtweisung, dass derartige Vorschläge einer Stadtverordnetenversammlung nicht zustünden. Im Frühjahr 1847 waren dann die Folgen der Missernte in Berlin und anderswo drastisch zu spüren. In Schlesien, wo die Kartoffel das hauptsächliche Nahrungsmittel war, »sollen die Menschen im Winter 1846/47 nichts als Gras und Nesseln, Huflattich und eine Mischung aus Spreu, Klee und Blut«3 gegessen haben. Neben dem Wegfall der Kartoffel war auch die Hälfte der Roggen- und ein großer Teil der Weizenernte ausgefallen. Die Älteren erinnerten sich an den Sommer 1816, als nach dem Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora eine Asche- und Lavasäule in die Stratosphäre gelangte, einen vulkanischen Winter und die Verdunkelung der Sonne auslöste. Im Jahr darauf hatten Ernteausfälle in Europa zu schweren Hungersnöten und Seuchen geführt.4
Zu solchen Entwicklungen kam es 1847 wieder. Obwohl die Regierungen Getreide ankauften, Zölle aufhoben, kirchliche Aktionen für Bedürftige gestartet und Brotmarken verteilt wurden, war die Katastrophe in weiten Teilen Europas kaum aufzuhalten. Am schlimmsten traf es Irland, Schottland und Belgien, wo die Ernten teilweise um katastrophale 87 Prozent zurückgingen. Der Hunger hatte aber nicht nur Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Menschen und ihre Lebensumstände, sondern führte auch zu einem Exodus aus Europa in die USA und andere überseeische Länder. 1843 wanderten knapp 38 000 Menschen aus, zwei Jahre später waren es bereits 80 300, gleichzeitig sanken Heirats- und Geburtenzahlen, während die Sterblichkeit stieg.
Da es keine Revolution ohne eine vorhergehende soziale Frage gibt, war die Kartoffelrevolution im April 1847 eine Wegmarke auf dem Weg zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung in Frankfurt. Auf dem Berliner Gendarmenmarkt kündigte sich die Revolution im gesamten Deutschen Bund an. Die Menschen in Berlin und anderswo erkannten, dass die Staaten, in denen sie lebten, diese extreme soziale Notlage nicht verhindern oder wenigstens abfedern konnten. Im Gegenteil: Die Hungernden waren der sozialen Kälte und Arroganz ihrer Fürsten ausgeliefert, die auf ihre Proteste mit Gewalt und Ablehnung reagierten. Wo man auch hinblickte, überall in Deutschland ergab sich das gleiche düstere Bild. Eine Mehrheit der Bevölkerung hatte keine ausreichende Ernährung und lebte »hart an der Hungergrenze«.5 Diesen Zustand konnten auch die zahlreichen caritativen und sozialpolitischen Vereinigungen nicht ändern, die sich mit Spenden und anderen Hilfsangeboten der Hungerleidenden annahmen. Diese sich verschärfende Entwicklung steht am Beginn der Deutschen Revolution. Ständiger Hunger und ein überall sichtbares Massenelend nährten Verzweiflung und lösten zusammen mit Ratlosigkeit und staatlicher Repressionspraxis eine politische Vertrauenskrise aus, die sich schließlich in den sozialpolitischen Forderungen des Vormärz niederschlug. Für die meisten Zeitgenossen des Jahres 1847 lag die zwingende Notwendigkeit auf der Hand, sich ihrer Regierungen und besser noch ihrer Fürsten und Könige zu entledigen. Die Konsequenz dieser Einsicht war ihre Zustimmung zu den revolutionären Forderungen, die bald in den Staaten des Deutschen Bundes die Runde machten.
1 Ohmann, Oliver: 1847 tobte in Berlin eine Kartoffel-Revolution, in: BZ vom 28. November 2018: https://www.bz-berlin.de/archiv-artikel/1847-tobte-in-berlin-eine-kartoffel-revolution (zuletzt abgerufen am 27.04.2022).
2 Müller, Frank Lorenz: Die Revolution von 1848/49. Darmstadt 2012, S. 36 f.
3 Evans, Richard J.: Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch 1815–1914. München 2016, S. 185.
4 Behringer, Wolfgang: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte. München 2015
5 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1815–1845/49. München1989, S. 647 f.
Die Nationalversammlung tagte in der umfunktionierten Frankfurter Paulskirche. Wo einst die Kanzel stand, schwangen nun die Abgeordneten ihre Reden und versuchten die Zuhörer von ihren Argumenten zu überzeugen. Da man sich in einer Kirche befand, hätten die Parlamentarier nicht nur auf eine Kanzel, sondern auch auf eine Orgel schauen müssen. Deshalb musste die Kanzel einem Rednerpult weichen, und die Orgel wurde durch ein monumentales Bild verhangen. Fünf Meter hoch und etwa halb so breit zog ein Bild, das dem Maler Philipp Veit1 zugeschrieben wird, seine Betrachter in den Bann. Geschaffen wurde es Anfang 1848, als das Vorparlament in Frankfurt tagte und die Verfassungsgebende Nationalversammlung vorbereitete. Es ist eine religiös-romantische Darstellung der Germania, die als mystifizierte Sagenfigur und Schutzpatronin der Deutschen über den Dingen zu schweben schien und doch Mittelpunkt des zum Parlament umfunktionierten Kirchenraums war.
Das Bild zeigt ein mächtiges weibliches Wesen als transzendente, geradezu göttliche Gestalt, zu deren Füßen eine zerbrochene Fessel liegt. Die gelöste Fußfessel symbolisiert die Befreiung des deutschen Volks von der Herrschaft absolutistischer Monarchen, von der Fremdbestimmung während der französischen Besatzung unter Napoleon und den Aufbruch in eine neue Zeit. Die linke Hand umschließt eine mittelalterliche Turnierlanze, an der die deutsche Trikolore bis in die Strahlen der am Horizont aufgehenden Sonne flattert. Die rechte Faust hält ein Schwert, das die Wehrhaftigkeit der neuen deutschen Nation versinnbildlicht. Aber um dieses Symbol der Stärke windet sich ein Ölzweig und verbindet das Zeichen der Wehrhaftigkeit mit dem des Friedens. Germania trägt ein Herrschergewand mit Brustschild, auf dem der Doppeladler zu sehen ist, der seit 1433 als Reichswappen verwendet wurde. Das neue Deutschland – so die Botschaft – ist nicht nur fortschrittlich und kämpferisch, es ist sich auch seiner Vergangenheit bewusst. Das Bild ist in das Licht der aufgehenden Sonne getaucht. Das jugendhafte Gesicht, der Lorbeerkranz auf ihrem wallenden Haar und der ins Unendliche gerichtete Blick lassen aus der Germania eine Allegorie der nationalstaatlichen Auferstehung werden.
Die Germania in der Paulskirche, Gemälde wahrscheinlich von Philipp Veit, 1848
Sie verkörpert gleichermaßen den Erhalt von Traditionen und den Aufbruch der Nation zu Freiheit und Selbstbewusstsein. Sie hat keine Krone auf dem Kopf und trägt kein Symbol der Revolution mit sich. Sie ist bewusst unpolitisch dargestellt, und das Bild vermeidet jede Form der Stellungnahme – weder für noch gegen die Revolution. Sie verkörpert mit Nationalstolz, Friedensliebe, Wehrhaftigkeit und Freiheit Werte, in denen sich alle Fraktionen in der Frankfurter Nationalversammlung wiederfinden konnten. Selbst die Monarchen und erbitterten Gegner der Revolution von 1848 konnten gegen die Symbolkraft dieses Bildes wenig einwenden. Die Germania aus der Paulskirche hat nichts mit den späteren Germania-Darstellungen gemein, die aggressiver und nationalistischer daherkommen. Die von Lorenz Clasen 1860 gemalte Germania als Wacht am Rhein2 blickt fordernd nach Frankreich und hält das Schwert kampfbereit in der rechten Hand. In diesem Bild wird aus der deutschen Schutzpatronin eine Kämpferin gegen die französischen Nachbarn. Zehn Jahre später bewahrheitete sich diese Neudefinition der »Germania« tatsächlich im deutsch-französischen Krieg, an dessen Ende die Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 stand.
Die Geschichte der Germania reicht bis in die römische Antike zurück. Hier findet man sie mal trauernd, mal aufrecht stehend auf einen Speer gestützt auf Münzen, die an gewonnene Schlachten oder die Herrschaft römischer Kaiser erinnern. War sie dort noch Synonym für Gottheiten oder unterlegene Gegner und keine den antiken Germanen zuzuordnende Figur, kam die Vorstellung, dass mit der Germania eine »nationale« Zusammengehörigkeit der Deutschen entstehen könnte, erst sehr viel später auf. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden erstmals Bücher über die deutsche Geschichte verfasst, die »Germania« im Titel führten und mit großem Stolz von den Taten der Deutschen berichteten. Von den Ideen des Humanismus beseelt schrieb etwa der Reichsritter Ulrich von Hutten 1529 voller Bewunderung eine Biografie über Arminius, den Sieger der Schlacht im Teutoburger Wald 9 n. Chr. gegen die Truppen des römischen Feldherrn Varus. Hutten nannte ihn einen »ersten Vaterlandsbefreier, der das römische Joch« abgeworfen und Germanien befreit habe.3
Aber der entscheidende Siegeszug der Germania durch die deutsche Literatur und Malerei begann Anfang des 19. Jahrhunderts.4 Nachdem Napoleon 1815 besiegt und die französische Armee aus den deutschen Staaten vertrieben war, wurde die Germania zur Leitfigur der Befreiung der Deutschen von den Fesseln, die sie jahrhundertelang in Zwietracht und Uneinigkeit gehalten hatten. So jedenfalls trommelten es nationale Dichter und Denker und spürten das germanische Mittelalter als Geburtsort der deutschen Nation auf. Diese neu entdeckte deutsche Nation sollte sich auf ihre »germanischen« Wurzeln besinnen und mit den Idealen des christlich-jüdisch geprägten Humanismus ebenso brechen wie mit der griechisch-römischen Vergangenheit. Das »Germanische« wurde zur Gegenkultur aufgebaut, die unter dem Schutz der Germania stand. Diese deutsche Gegenkultur hatte die Nation als Organisationsform hervorgebracht, in der die »germanische« Kultur vor den schädlichen Einflüssen anderer Kulturen und Nationen geschützt werden konnte.
In jenem geschützten Raum war Germania Hohepriesterin und zugleich das personifizierte Sinnbild der deutschen Nation, die sich aus der Unterdrückung durch Frankreich befreit und unabhängig wird. Dass sie bei dieser Aufgabe nicht allein ist, zeigt der Maler Karl Ruß 1818 in seinem Bild Hermann befreit Germania: Mit Verweisen auf die Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813, wodurch die napoleonische Vorherrschaft über Europa endete, befreit Arminius, der Held der Varusschlacht im Teutoburger Wald, die in Ketten liegende Germania. Dadurch wird eine historische Verbindung zwischen den antiken Germanen und den Deutschen des 19. Jahrhunderts gezogen. Die von Arminius aus »Germania Magna« vertriebenen Römer und die gerade eben aus Deutschland verjagten Franzosen stellen jene Gegenkräfte dar, die bis dahin einer deutschen Einheit im Wege gestanden haben.
Die Germania, die über den Verhandlungen in der Frankfurter Paulskirche schwebte, versinnbildlichte für die Demokratiebewegung in Deutschland das Ziel eines deutschen Nationalstaats. Alle dazu notwendigen Attribute hielt sie den Abgeordneten Tag für Tag vor Augen: Friedfertigkeit und Selbstbehauptung, der Zukunft zugewandt, ohne die Vergangenheit zu vergessen, und Mut, neue Wege zu beschreiten. Die Germania war zweifellos das Symbolbild der nationalen Identität der Deutschen im 19. Jahrhundert.
1 Es ist nicht geklärt, ob Philipp Veit Urheber oder Ideengeber des Bildes war. Jedenfalls entstammt das Bild der romantisch-religiösen Kunstrichtung der Nazarener, die ihren Schwerpunkt in Wien und Rom hatten.
2 Siehe dazu: Baumgärtel, Bettina (Hrsg.): Die Düsseldorfer Malerschule und ihre internationale Ausstrahlung 1819–1918. Petersberg 2011.
3 Ulrich von Hutten starb Ende August 1523. Sein Buch »Arminius« wurde vermutlich erst 1529 posthum veröffentlicht.
4 Mehr dazu: von Hellfeld, Matthias: Das lange 19. Jahrhundert. Zwischen Revolution und Krieg 1776–1914. Bonn 2015, S. 245 ff.
»Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold«, lautet der Artikel 22 Abs. 2 des bundesdeutschen Grundgesetzes vom 23. Mai 1949, sie ist eine Trikolore aus drei gleich großen horizontalen Balken mit dem Seitenverhältnis von 3:5. Im Oktober 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet, auch sie schrieb in der Verfassung im Art. 2 fest: »Die Farben der Deutschen Demokratischen Republik sind Schwarz-Rot-Gold.« Damit stellten sich beide deutsche Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur in die Tradition der Weimarer Republik, deren Nationalfarben ebenfalls schwarz-rot-gold waren, sondern auch der Deutschen Revolution von 1848/49. Am 31. Juli 1848 hatten die Abgeordneten der Nationalversammlung in einem »Reichsgesetz über die Kriegs- und Handelsflagge«1 festgelegt, dass die Beflaggung schwarz-rot-gold sein sollte. Als die Revolution im Sommer 1849 erfolglos endete, verschwanden die Nationalfarben allerdings wieder: Der Norddeutsche Bund 1867 und später das Deutsche Reich 1871 entschieden sich für eine schwarz-weiß-rot gestreifte Farbkombination. Das Schwarz-Weiß sollte die starke Position Preußens symbolisieren, während Rot und Weiß die zum Norddeutschen Bund gehörenden Hansestädte repräsentierten.
Die Ursprünge der schwarz-rot-goldenen Farbkombination gehen weit in die deutsche Geschichte zurück. 1184 sollen beim Hoftag zu Mainz die drei Farben als »Deutsche Farben« bezeichnet worden sein. 1212 wurde der Staufer Friedrich II. im Dom zu Mainz von Erzbischof Siegfried III. zum deutschen König gekrönt. Dazu trug er einen rot-schwarz-gold farbigen Krönungsmantel, der nach ihm bis 1806 – dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation – zu den meisten Krönungszeremonien getragen wurde. Auch während der Bauernkriege im 16. Jahrhundert und während des Kriegs gegen die napoleonische Herrschaft in Deutschland 1813 wurden die »deutschen Farben« verwendet.2 Der preußische Generalmajor Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr von Lützow wählte für die Uniform seines Freikorps einen schwarzen Mantelstoff mit rotem Kragen und goldenen Knöpfen. Damit vereinte er das nationale Pathos, das sich in Deutschland im gemeinsamen Verteidigungskampf gegen den französischen Kaiser ausdrückte, mit den »liberalen Ideen der Freiheit«,3 denen sich die jungen Handwerker, Bauernsöhne und Knechte der »schwarzen Schar«4 verpflichtet fühlten.
Einer von ihnen war der junge Dichter Theodor Körner, der bald zum Adjutanten Lützows aufgestiegen war und in den Morgenstunden des 26. August 1813 bei einem Gefecht im Forst von Rosenow im heutigen Mecklenburg-Vorpommern tödlich verletzt wurde. Kurz vorher hatte Körner mit einem Gedicht Lützows wilde Jagd dem Freicorps ein Denkmal gesetzt und die nationale Euphorie angeheizt. Als kurz nach den Kriegen gegen Napoleon in Jena die Urburschenschaft gegründet wurde, bestand deren Fahne aus zwei roten und einem schwarzen Balken, der in der Mitte mit einem goldfarbenen Eichenzweig verziert war. Viele Studenten der Jenaer Universität waren Kämpfer des Freicorps Lützow gewesen und hatten ihre Uniformen auch beim Studium anbehalten. Da die Farbkombination Symbol für den Kampf um nationale Unabhängigkeit war, übernahmen die Jenaer Studenten die Farben für die Fahne der Urburschenschaft.
Auch beim Hambacher Fest im Juni 1832 stand die deutsche Trikolore symbolisch im Mittelpunkt. Massenhaft war der Farbdreiklang schwarz-rot-gold auf Fahnen, Kokarden, Hüten und Schärpen zu sehen, obwohl es im Vorfeld des Hambacher Festes keinen Aufruf gegeben hat, derartige Utensilien mitzubringen. Trotzdem herrschte die Auffassung vor, dass schwarz-rot-gold als die Farben der »Revolution« oder zumindest des »Aufbruchs« und der »Nation« galten. Bis 1832 war die Rangfolge der Farben nicht offiziell festgelegt worden, weil die »deutsche Trikolore« bei staatlichen Anlässen nicht verwendet wurde. Erst auf dem Hambacher Fest fiel eine Vorentscheidung, weil der Demokrat Johann Philipp Abresch für das Fest eine Fahne in der bis heute üblichen Farbanordnung schwarz-rot-gold anfertigen ließ. In deren Mitte stand »Deutschlands Wiedergeburt« zu lesen. Das war zum einen der passende Begriff für die programmatische Ausrichtung des Festes und zum anderen ein Rückgriff auf die Befreiungskriege gegen Napoleon. Die Forderungen nach deutscher Wiedergeburt sowie die Sehnsucht nach Demokratie, Einheit und Freiheit waren das gemeinsame Band, das die Demonstranten von Hambach vereinte. Als 1949 die beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurden, fiel die Wahl der Nationalfarben wieder auf die »deutschen Farben«, weil sie sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik das Ziel von Einheit und Freiheit symbolisieren sollten.
Am 27. Mai 1832 jedenfalls trug Johann Philipp Abresch seine Fahne während des Demonstrationszuges vom Neustädter Marktplatz zum Schloss und sorgte anschließend dafür, dass sie auf der Spitze des Schlossturms gehisst wurde. Kurz darauf meldeten die Zeitungen: »Als der Anfang des Zuges am Orte des Festes angekommen war, wurde auf einem erhöhten Punkte die polnische und oben auf den höchsten Zinnen der Ruine die deutsche Fahne aufgepflanzt. Weithin über die gesegneten Auen wehte nun das stolze Banner unseres Vaterlandes.«5 Hinter der Fahne von Johann Philipp Abresch zogen tausende Teilnehmer mit deutschen und polnischen Fahnen, um ihre Verbundenheit zum polnischen Freiheitskampf gegen das zaristische Russland zum Ausdruck zu bringen. Von da an waren die deutschen Farben Teil der Revolutionsbewegung. Schwarz-rot-gold prangte an der Stirnseite des Versammlungsortes der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Der romantisch-religiöse Maler Philipp Veit hatte im März 1848 den Auftrag erhalten, eine Allegorie der deutschen Nation als Wandschmuck anzufertigen. Veit griff auf die mystische Figur der Germania zurück und versah sie mit Attributen, die der Revolution gerecht wurden. Mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne in der Hand, zersprengten Fußfesseln sowie Schwert und Lorbeerkranz ausgestattet, »stand sie für eine befreite und starke deutsche Nation, in deren Rücken ein Sonnenaufgang den Beginn eines neuen Zeitalters verbildlichte«.6
So hoffnungsfroh die Revolution begann, so enttäuschend ging sie zu Ende. Am 2. September 1850 wurde die schwarz-rot-goldene Fahne vom Turm der Frankfurter Paulskirche eingeholt. Bis zum 15. August 1852 wehte sie noch über dem Frankfurter Bundespalais, wo der Bundestag des Deutschen Bundes seinen Sitz hatte. Dann wurde auch dort das Relikt von Revolution und Befreiung aus dem öffentlichen Bild entfernt. Dennoch stehen die drei Farben der deutschen Nationalfahne für Demokratie, Recht und Freiheit, die sich während des Vormärz und der Deutschen Revolution 1848/49 einen bis heute prägenden Platz in der deutschen Geschichte erobert haben.
1 Reichsgesetz über die Kriegs- und Handelsflagge vom 31. Juli 1848: http://www.documentarchiv.de/nzjh/1848/reichsflaggen1848_ges.html
2 Der Ursprung der Farben Schwarz, Rot und Gold, in: Flaggenlexikon: https://www.flaggenlexikon.de/fdtl-sr2.htm
3 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1984, S. 279.
4 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1700–1815. München 1989, S. 526.
5 Der Eilbote aus dem Bezirk Landau vom 2. Juni 1832.
6 Werner, Eva Maria: Kleine Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49. Wien 2009, S. 52.
Der 6. Oktober 1848 ist in die Geschichte Österreichs eingegangen. In Ungarn war es zu Unruhen und Rufen nach nationaler Unabhängigkeit gekommen. Im September 1848 hatte sich das zu einem regelrechten Unabhängigkeitskrieg des Königreichs Ungarn von der Habsburgermonarchie entwickelt. Da sich auch Österreich und vor allem die Hauptstadt Wien mitten in revolutionären Ereignissen befand, war Kaiser Ferdinand den ungarischen Forderungen zunächst entgegengekommen. Nachdem aber die Revolution niedergeschlagen war und Franz Joseph I. seinen Onkel auf dem habsburgischen Thron abgelöst hatte, sollten auch die Verhältnisse in Ungarn wieder zurückgedreht werden. Das österreichische Kriegsministerium leitete Theodor Graf Baillet von Latour, der sich in den Befreiungskriegen gegen Napoleon 1797 schon einen Namen gemacht hatte und sich nun anschickte, österreichische Truppen nach Budapest zu entsenden.
An jenem 6. Oktober 1848 sollten österreichische Regimenter ausrücken, um die ungarische Unabhängigkeitsbewegung auszuschalten. Aufgabe der österreichischen Truppen sollte sein, den loyalen Josip Jelačić zu unterstützen. Jelačić war Kroate und opponierte seit langem gegen Ungarn, zu dessen Staatsverband Kroatien gehörte. Da auch Kroatien Eigenständigkeit anstrebte, vermischten sich mehrere Konflikte zu einer komplizierten politischen Gemengelage. Während Ungarn seine Unabhängigkeit von Österreich wollte, strebte Kroatien seine Unabhängigkeit von Ungarn an. Die ethnischen und nationalen Konflikte im habsburgischen Vielvölkerstaat spiegelten sich auch in Wien wider. Anhänger einer kroatischen Unabhängigkeit gab es genauso wie jene Bürger, die diesen Status für Ungarn forderten, oder andere, die beiden Ländern diesen Status nicht zubilligen wollten.
Kriegsminister Latour hatte den Befehl erteilt, ein Wiener Bataillon zur Unterstützung der kroatischen Truppen zu entsenden. Als sein Befehl bekannt wurde und sich wie ein Lauffeuer durch Wien verbreitete, sammelten sich Bürger, um das Bataillon am Ausrücken zu hindern. Arbeiter und Studenten hielten die Nationalgardisten davon ab, in die bereitstehenden Züge zu steigen, woraufhin ein Grenadierbataillon meuterte und die Einrichtung seiner Kaserne demolierte. Latour schickte zusätzliche Truppen, die die Grenadiere zur Abfahrt zwingen sollten. Aber die Lage eskalierte weiter, denn die immer größer werdende Menge der Demonstranten begann damit, die Eisenbahngleise zu zerstören, um so den Aufbruch der Soldaten zu verhindern. Latour schien unbeeindruckt und ließ die Grenadiere von Offizieren über eine Brücke zu einem Aufnahmepunkt führen. Als diese Brücke zerstört wurde, war das der Auslöser einer weiteren Zuspitzung, denn den Aufständischen gelang es, eine Armeekanone zu erbeuten, mit der sie eine Salve abfeuerten und den Generalmajor Hugo von Bredy töteten.
Es folgte ein Schusswechsel, bei dem rund dreißig der meuternden Grenadiere zu Tode kamen. Das Militär wich angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der Demonstranten zurück und gab den Weg in die Innenstadt frei, wo die Aufständischen unter lautem Jubel mit zwei erbeuteten Kanonen sowie dem Hut und dem Säbel des getöteten Generalmajors ankamen. Angefeuert von ihrem ersten Erfolg griffen sie weitere Nationalgardisten an, errichteten Barrikaden und verwandelten die Wiener Innenstadt in ein Schlachtfeld. Die Regierung wollte weiteres Blutvergießen verhindern, weswegen sie den Rückzug des Militärs anordnete – vergebens. Die Demonstranten forderten den bei ihnen verhassten Kriegsminister Latour und skandierten: »Wo ist Latour? Er muss sterben!«
Die ersten Demonstranten drängten zum Gebäude des Kriegsministeriums, zertrümmerten das Eingangsportal und drangen mit lautem Geschrei in das Ministerium ein. In den Räumen des Ministeriums muss es zu tumultartigen Szenen zwischen den Demonstranten und den Verteidigern des Gebäudes gekommen sein. Es dauerte nicht lange, bis Latour in einem Versteck auf dem Dachboden ausfindig gemacht wurde. Angesichts der gut bewaffneten Übermacht der Aufständischen wagten Latours Bewacher keine Konfrontation. Und es entlud sich der Zorn der Eindringlinge: Mit einem Hammer zerschlugen sie die Schädeldecke des Kriegsministers, prügelten unablässig auf ihn ein, spalteten seinen Kopf und trieben schließlich ein Bajonett in sein Herz.1 Dann schleppten sie seinen geschundenen Leib auf den Platz vor dem Ministerium, wo sich eine aufgebrachte Menge, von denen einige drohend Sensen, Knüppel und Gewehre hochhielten, versammelt hatte.
Die Leiche des gelynchten Kriegsministers Latour wird an eine Laterne gehängt, zeitgenössische Darstellung
Der Leichnam Latours wurde in die Mitte des Platzes »Am Hof« vor dem Kriegsministerium geschleift und an einer Gaslaterne aufgehängt. Aber die Brutalität endete noch nicht, denn der Leichnam blieb vierzehn Stunden an dem Gaskandelaber in unmittelbarer Nähe des Haupteingangs des Ministeriums hängen. Immer wieder waren Jubelrufe zu hören, Menschen strömten herbei, um sich von dem ungeheuerlichen Vorgang selbst zu überzeugen. Theodor Graf Baillet von Latour war bei vielen Österreichern verhasst, weil er sich loyal hinter die kaiserliche Regierung und deren Entscheidungen gestellt hatte. Und die Aufregung, die diese Tat ausgelöst hatte, entlud sich in weiteren revolutionären Aktionen. Mit den erbeuteten Kanonen bombardierten die Aufständischen das Wiener Zeughaus, wodurch sie noch mehr Waffen erbeuten konnten. Als das Gebäude in Flammen aufging, hatten sie Tausende von Musketen an sich genommen und waren für den Wiener Oktoberaufstand, der an diesem Tag begann, gut gerüstet.
Derweil hing die Leiche des gelynchten Kriegsministers Latour immer noch an den Armen eines Gaskandelabers auf dem Platz »Am Hof« mitten in der Wiener Innenstadt. Als sie endlich heruntergenommen wurde, sollte mit dem Leichnam auch die Laterne verschwinden. Dieser Vorgang wurde kurz darauf im Postenbuch des Laternenanzünders der Wiener Innenstadt festgehalten: »Der vor dem Hofkriegsrätlichen Gebäude aufgestellt gewesene Candelaber wurde am 1. November 1848 vom k.k. Militär vernichtet.«2 Damit war sowohl der Beleg für die Lynchjustiz als auch der Ort der Tat aus dem Wiener Stadtbild verschwunden. Geblieben ist die Erinnerung an diesen Tag durch einen Begriff. Das Wort »laternisieren« wurde geflügelter Ausdruck in Wien und geht vermutlich auf die Ereignisse des 6. Oktober 1848 zurück. Weit wichtiger aber waren die politischen Konsequenzen der Lynchjustiz am österreichischen Kriegsminister, denn am selben Tag reiste der kaiserliche Hofstaat aus Wien ab, und der Oktoberaufstand begann. Er dauerte bis zum Ende des Monats und kostete mehr als 2000 Menschen das Leben. Die Niederwerfung des Wiener Oktoberaufstands war das Startsignal für den preußischen König Friedrich Wilhelm IV., auch in Berlin militärisch gegen Aufständische vorzugehen.
Während der Deutschen Revolution lebte der Zeitungsredakteur Karl Marx erst in Paris und anschließend in Brüssel, nachdem er wegen seiner aufrührerischen Artikel nach einer Intervention der preußischen Regierung aus Frankreich ausgewiesen worden war. In Brüssel begegnete er dem etwas jüngeren Friedrich Engels, der als Sohn eines Wuppertaler Fabrikanten zwar sehr wohlhabend war, sich aber der sozialen Fragen in Deutschland zugewandt hatte und dem »Bund der Gerechten« in London beigetreten war. Beide waren von den revolutionären Erhebungen in Europa begeistert, wähnten die Zeit des Durchbruchs ihrer Ideen gekommen. Aber am Vorabend der Deutschen Revolution hatte eine sozialistische Arbeiterbewegung kaum Einfluss auf die Entwicklung der Ereignisse in Europa. Es gab nur die Sammlungsbewegung Arbeiterverbrüderung, unter deren Dach sich unterschiedliche Vereine zur Interessenvertretung von Handwerkern und Arbeitern zusammengetan hatten. Die meisten der dort repräsentierten Männer verstanden sich aber nicht als Proletarier, wie es Karl Marx und Friedrich Engels in ihrer Zweiklassentheorie definiert haben: »Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr oder weniger in zwei feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.«1
Trotzdem machten sich Marx und Engels daran, ein Programm für eine zukünftige proletarische Massenbewegung zu schreiben, die die Interessen der arbeitenden Klasse gegen die der Bourgeoisie durchsetzen sollte. Dieses Manifest2 begann mit den Worten »Ein Gespenst geht um in Europa« und rief am Schluss dazu auf, dass sich »Proletarier aller Länder« vereinigen sollten. Karl Marx und Friedrich Engels gingen von der These aus, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften die Geschichte von Klassenkämpfen gewesen sei.3 Da allein das Wirtschaftsbürgertum, die »Bourgeoisie«, die Produktionsmittel besitze, werde die bürgerliche Gesellschaft gezwungen sein, als Konsequenz aus diesen Besitzverhältnissen ein für sie arbeitendes Proletariat hervorzubringen. Um selbst zu überleben, werde die Bourgeoisie weiterhin versuchen, diesen Status quo aufrechtzuerhalten. Immer mehr Reichtum sammele sich deshalb in den Händen weniger an, während der Rest des Volkes in ein besitzloses und verarmtes Proletariat abwandere. Die zwangsläufig daraus folgende Massenverelendung führe zum baldigen Zusammenbruch der bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung.
Der Ausweg könne – so Marx und Engels weiter – nur darin bestehen, die Produktionsmittel und den durch Arbeit erwirtschafteten »Mehrwert« gerecht an jene zu verteilen, die die Arbeit bewerkstelligen. Da sich die Ungerechtigkeiten der bestehenden Verhältnisse in einer zunehmenden Massenverarmung des Proletariats zeigen werde und die Besitzenden ihre Produktionsmittel nicht freiwillig hergäben, werde sich das unterdrückte Proletariat eines – nicht allzu fernen – Tages kraftvoll erheben. In dieser Revolution werde das Proletariat die Eigentumsrechte an den Produktionsmitteln übernehmen. Damit seien Kapital und Macht in Händen des Proletariats, das anschließend die Klassengegensätze auflösen und eine Gesellschaft der Gleichen gründen werde.
Als einen ersten Schritt auf dem Weg in die von ihnen propagierte proletarische Zukunftsgesellschaft erkannten Karl Marx und Friedrich Engels 1848 die Revolution in Deutschland. Sie wollten der Revolution zum Durchbruch verhelfen und riefen deshalb die Arbeiter auf, diese Revolution zu unterstützen. In deren erfolgreichem Ausgang sahen Marx und Engels die Grundlage für einen tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandel. Den Widerspruch, eine Revolution des bürgerlichen Klassenfeindes zu unterstützen, erklärten die beiden damit, dass zunächst der sehr viel schlimmere Feind – die »Reaktion« – beseitigt werden müsse. Der kommende Kampf gegen die Bourgeoisie werde der letzte Klassenkampf in der Geschichte der Menschheit sein und die Tür zu einer gerechten Gesellschaft aufstoßen. Ihr Konzept galt natürlich nicht nur für Deutschland, sondern für alle Länder, in denen die von ihnen gebrandmarkten gesellschaftlichen Verhältnisse herrschten. Deshalb riefen sie die »Proletarier aller Länder« auf, sich zu vereinigen und gemeinsam gegen ihre Unterdrücker zu kämpfen.
Das Manifest der Kommunistischen Partei, Seite des Manuskripts
Aber Marx und Engels übersahen eine entscheidende Entwicklung, die das Kommunistische Manifest zunächst zum Ladenhüter werden ließ. Den von den Umwälzungen der Industriellen Revolution gebeutelten Arbeitern stand der Sinn nämlich keineswegs nach einer proletarischen Revolution. Sie wollten vielmehr »durch Bildung einen angemessenen Status in der Bürgergesellschaft«4 erreichen. Selbst wenn in manchen – westpreußischen – Landesteilen, wo die Auswüchse der Industrialisierung stärker zu spüren waren, die Idee eines kommunistischen Staates auf fruchtbaren Boden fiel, hatte das Kommunistische Manifest bei den deutschen Revolutionären keine allzu große Bedeutung. Da der zukünftige Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit nicht nur gegen eine Regierung oder ein Land gehen sollte, sondern gegen die ökonomischen und sozialen Verhältnisse überall auf der Welt, war die Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels internationalistisch. Einerseits waren ihre Anhänger Gegner der herrschenden Verhältnisse, andererseits aber auch dem Vorwurf ausgesetzt, »vaterlandslose Gesellen« zu sein, denen das Wohlergehen der eigenen Nation nicht so wichtig erscheine wie der Erfolg der Revolution.
Die Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels ist in den folgenden Jahrzehnten von angeblich großen Theoretikern des Kommunismus in einer Weise interpretiert und erweitert worden, die beide wohl nicht gutgeheißen hätten. Dennoch bleiben sie die Urheber einer in sich geschlossenen und deshalb scheinbar schlüssigen Idee, für deren Durchsetzung Millionen von Soldaten auf der ganzen Welt gekämpft haben und genauso sinnlos wie qualvoll gestorben sind. Gleichwohl trat das Manifest der »klassenlosen Gesellschaft« und das umfassendere Werk Das Kapital wie kaum ein zweites Buch einen globalen Siegeszug an. Es zeigte zumindest auf dem Papier den weltweit Ausgebeuteten und Unterdrückten einen Ausweg aus der Krise auf, der so logisch und zwingend richtig schien, dass er gar nicht falsch sein konnte. Es sollte 140 Jahre dauern, bis endgültig klar war, dass die Analyse der wirtschaftlichen Situation des industriellen Zeitalters weitgehend zutreffend, die Folgerungen und Prognosen aber ebenso weitgehend falsch waren.
1 Engels, Friedrich; Marx Karl: Das Manifest der Kommunistischen Partei. London 1848, S. 5.
2 Der Text des Kommunistischen Manifestes: http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm
3 Hellfeld, Matthias von: Akte Europa. Geschichte eines Kontinents. München 2006, S. 230 ff.
4 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution. 1806–1848/49. Stuttgart 2010, S. 493.
Bürgerliche Freiheiten, eine staatlich unabhängige Justiz sowie Presse- und Versammlungsfreiheit war der Kanon der Forderungen in der Zeit des Vormärz. Er traf bei allen Revolutionären auf Zustimmung. 1817 beim Fest auf der Wartburg oder 1832 beim Fest auf Schloss Hambach kamen zigtausend Demonstranten zusammen und forderten jene Freiheiten und Grundrechte. Anfang März 1848 versammelten sich liberale und demokratische Vertreter und Abgeordnete des Bundestags des Deutschen Bunds in Heidelberg. Sie richteten eine Resolution an die Regierungen der Staaten des Deutschen Bundes, in der sie forderten, dass umgehend eine »Vertretung der deutschen Nation« ins Leben gerufen werden solle. Daraufhin beschloss die Bundesversammlung am 10. März 1848, die Verfassung des Bundes zu ändern und die Grundrechte des deutschen Volkes darin zu verankern. Das Protokoll dieser Bundesversammlung1 hält fest, wie die neue Verfassung aussehen sollte: parlamentarische Vertretung des Volkes mit Ministerverantwortlichkeit gegenüber den Volksvertretern; unabhängige Justiz; Versammlungs-, Presse-, Glaubens- und Wissenschaftsfreiheit sowie das Recht auf Freizügigkeit bei der Wahl des Berufs und des Wohnorts.
Also war es konsequent, dass der Verfassungsausschuss der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche schon unmittelbar nach der Wahl mit der Ausarbeitung der Grundrechte begann. Aber die Abgeordneten folgten nicht nur dem Ruf der Revolution auf deutschen Straßen, sondern auch ihren eigenen Erfahrungen mit absolutistischen Herrschern und obrigkeitsstaatlichen Repressionen, denen viele von ihnen im Vormärz ausgesetzt gewesen waren. Für sie hatte eine verfassungsmäßige Absicherung individueller Freiheitsrechte oberste Priorität.2 Viele Abgeordnete hofften dabei auch auf Gemeinsamkeiten zwischen den Fraktionen bei der Abfassung der Grundrechte, um damit das gesamte Einigungswerk schneller bewerkstelligen zu können. Für sie waren die Grundrechte das »unantastbare Gut der nationalen Einheit«3 und deshalb von besonderer Bedeutung. Mit der Umsetzung begannen jedoch auch die Schwierigkeiten und endlose Debatten, die dem Parlament den Ruf einbrachten, die Zeit mit theoretischen Diskussionen zu vertun, anstatt die Gründung eines deutschen Nationalstaats rasch in die Tat umzusetzen. Aber das Ergebnis war wichtiger als der Weg dorthin, denn die Abgeordneten der Nationalversammlung verfassten die erste umfassende Grundrechtskodifikation4 in der deutschen Geschichte. Sie war die Vorlage der Verfassungen der Weimarer Republik 1919 und der beiden deutschen Staaten 1949.
Die Abgeordneten orientierten sich an der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 17765 und der französischen Menschenrechtserklärung von 17896 und versuchten die dort zu findenden Prinzipien und Rechtsgrundsätze mit »unserer Volkstümlichkeit« in Einklang zu bringen. Bis Dezember 1848 einigten sich die Mitglieder des Verfassungsausschusses auf einen »Katalog von Grundrechten«,7 der im April 1849 in die Paulskirchenverfassung8 übernommen wurde. Im Mittelpunkt standen individuelle Freiheitsrechte: Meinungs- und Pressefreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Zudem wurde die Todesstrafe abgeschafft und eine Justizreform festgeschrieben. Fortan waren die Reichsbürger vor dem Gesetz gleich, sämtliche Privilegien des Adels abgeschafft und damit ein letztes Relikt der mittelalterlichen Feudalordnung über Bord geworfen. Die Bürger bekamen Niederlassungs- und Berufsfreiheit, durften ohne Einschränkungen Grundbesitz erwerben und hatten neben der Steuergleichheit auch freien Zugang zu öffentlichen Ämtern.
Zudem wurden nicht nur die Grundrechte für Personen festgeschrieben, sondern auch einige Institutionen von Vorschriften der Vergangenheit befreit. Es sollte nun die Freiheit von Forschung und Lehre an den deutschen Universitäten gelten und die Demagogenverfolgungen an den Hochschulen beendet werden. Die Trennung von Kirche und Staat wurde festgeschrieben, die Aufsicht über die Schulen von den Kirchen auf den Staat verlagert und eine Zivilehe eingeführt, die erstmals eine Hochzeit ohne den Segen eines Geistlichen ermöglichte. So fortschrittlich und bis in die Moderne wirkend die Grundrechte des deutschen Volkes waren, so rückständig waren die Überlegungen im sozialen Bereich. Abgesehen von einer Agrarreform, die den feudalistischen Herrschaftsprinzipien in Deutschland ein endgültiges Ende bereitete, fehlten Antworten auf die sozialen Missstände, die tausende Menschen in die Arme der Revolutionäre getrieben hatten. Die Deutsche Revolution wäre ohne eine schwere Agrar- und Wirtschaftskrise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum erklärbar, dennoch blieb einzig das Recht auf unentgeltlichen Unterricht für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen unter den Abgeordneten konsensfähig.
Das ebenfalls diskutierte Recht auf Arbeit, das auf Druck der Bevölkerung im Februar 1848 in Frankreich gerade eingeführt worden war, fand ebenso wenig eine Mehrheit wie eine soziale Absicherung für Arbeitslose. Vorschläge, die auf ein garantiertes Existenzminimum oder staatlich organisierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hinausliefen, wurden mehrheitlich abgelehnt. Die meisten Abgeordneten setzten stattdessen auf die selbstregulierenden Kräfte des freien Marktes. Das Fehlen sozialer Absicherungen für untere Einkommensschichten sollte durch eine Befreiung des Marktes von den Fesseln des absolutistischen Staates mit seiner feudalistischen Marktordnung kompensiert werden. Das waren zweifellos Schwachpunkte in der Erklärung der Grundrechte des deutschen Volkes und zudem eine Ausblendung des wesentlichsten Grundes für die Deutsche Revolution: die immer drängender gewordene soziale Frage. Dennoch war der Grundrechtekatalog ein Meilenstein der deutschen Geschichte, weil er den Weg in eine politische Ordnung vorbereitete, in der die Interessen des größten Teils der Bevölkerung Berücksichtigung fanden.
Die Grundrechte des deutschen Volkes, Lithografie von Adolph Schroedter
Der Grundrechtekatalog wurde per Reichsgesetz am 27. Dezember 1848 in Kraft gesetzt. Er galt für alle Deutschen. Stillschweigend wurde angenommen, dass die deutschen Länder das Gesetz übernehmen. Die meisten taten das auch – kommentarlos. Preußen und Österreich, Bayern und Hannover bestritten aber die Verbindlichkeit eines Gesetzes der Nationalversammlung für ihre Länder und weigerten sich, den Text zu veröffentlichen und dadurch Teil der Landesverfassungen werden zu lassen. Damit war einerseits sichtbar geworden, dass in den beiden großen deutschen Staaten Preußen und Österreich die Gegenrevolution erheblich an Boden gewonnen hatte. Andererseits war nun auch klar, dass Beschlüsse oder gar Gesetze der Nationalversammlung keineswegs automatisch von den Ländern umgesetzt werden würden.
1 Pollmann, Bernhard: Lesebuch zur deutschen Geschichte. Texte und Dokumente aus zwei Jahrtausenden. Dortmund 1989, S. 644 f.
2 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution 1806–1848/49. Stuttgart 2010, S. 623 ff.
3 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1984, S. 616.
4 Werner, Eva Maria: Kleine Geschichte der deutschen Revolution 1848/49. Köln 2009, S. 94 ff.
5 Amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776: http://www.verfassungen.net/us/index.htm
6 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789: http://www.verfassungen.eu/f/ferklaerung89.htm
7 Das »Gesetz betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes vom 27. Dezember 1848«: http://www.documentarchiv.de/nzjh/1848/grundrechte1848_ges.html
8 Huber, Ernst Rudolf (Hrsg.): Dokumente der Verfassungsgeschichte Bd. 1, Stuttgart 2000, S. 389 ff.
Italien war von den revolutionären Ereignissen in Europa besonders betroffen. Seit Jahren schon gab es oppositionelle Kreise, die sich während des Risorgimento für ein Ende der Fremdherrschaft vor allem Frankreichs und Österreichs in Italien einsetzten und stattdessen einen Einheitsstaat unter der Führung des Königs von Sardinien-Piemont, Viktor Emanuel II., anstrebten. Diesem italienischen Einheitsstaat sollten neben Sardinien-Piemont das Königreich beider Sizilien, der Vatikan und das Großherzogtum Toskana angehören. Ein solcher gemeinsamer Staat stand aber österreichischen Interessen entgegen. Vor allem in Oberitalien gab es Besitzungen, auf die der österreichische Kaiser freiwillig nicht verzichten wollte. Der Unabhängigkeitskrieg zwischen italienischen Aufständischen und österreichischen Truppen begann im März 1848, nachdem sich das Königreich Sardinien-Piemont an die Spitze der Unabhängigkeitsbewegung gestellt und den österreichischen Herrschaftsanspruch in Norditalien bestritten hatte.
Bei dieser Auseinandersetzung spielte der Kampf um Venedig im Frühjahr und Sommer 1849 eine besondere Rolle. Die österreichischen Truppen standen unter dem Oberbefehl von Josef Wenzel Radetzky von Radetz. Jener 1766 geborene böhmische Adlige gehörte zu den profiliertesten Heerführern der kaiserlichen Armee Österreichs, hatte den Plan zur Völkerschlacht bei Leipzig 1813 entwickelt und war seit 1831 österreichischer Generalkommandant im Königreich Lombardo-Venetien.1 Insofern war es folgerichtig, ihn mit der Eroberung Venedigs, der »Hochburg des Republikanismus«,2 zu beauftragen. Aber die Lage war verzwickt und eine schnelle Einnahme der Stadt nicht zu erwarten. Fast hatte es den Anschein eines geradezu verzweifelten Hilferufs, den General Joseph Radetzky im Sommer 1849 an das Kriegsministerium seiner kaiserlichen Majestät Franz Joseph I. richtete. Seine Truppen waren nicht näher als fünf Kilometer an die Stadt herangekommen, womit Venedig in einer für österreichische Kanonen unüberwindbaren Entfernung war. In diesem Moment bekam der General die Information, dass die Erfindung eines Generalmajors das Kriegsglück zu seinen Gunsten wenden könnte. Also verfasste er am 2. Juni 1849 ein Schreiben an das österreichische Kriegsministerium: »Ich habe in Erfahrung gebracht, dass der Herr Generalmajor von Hauslab eine Erfindung gemacht hat, Luftballons mit Bomben zu schleudern, womit vor seiner Majestät dem Kaiser vollkommen befriedigende Versuche angestellt worden sein sollen. Da diese Erfindung bei der im Zuge befindlichen Belagerung Venedigs, von dessen uns nächsten Ufer wir noch immer 5.000 Schritte entfernt sind, und wohin Projektile daher nicht reichen, Nutzen gewähren könnten, so stelle ich an ein hohes Kriegsministerium das ergebenste Ansuchen, mir mit möglichster Beschleunigung alle Mittel an die Hand zu geben, um diese Erfindung, wenn sie sich wirklich bewährte, vor Venedig in Wirksamkeit bringen zu können«.3
Tatsächlich gab es eine solche Erfindung. Sie ging allerdings nicht auf Franz von Hauslab zurück, sondern auf einen seiner militärischen Untergebenen. Jener Franz von Uchatius4 hatte einen Heißluftballon von sechs Metern Durchmesser konstruiert, der unbemannt in den Lüften schwebte. Am unteren Ende des Ballons war eine mit Schwarzpulver befüllte Bombe befestigt. Damit – so der Plan – sollte eine neue Kriegswaffe entstehen, die alle bisherigen Waffensysteme in den Schatten stellen würde. Denn die mit Sprengstoff beladenen Heißluftballons konnten mit Hilfe des Windes mühelos Distanzen überwinden, an denen die damals verwendete Artillerie scheiterte. Jeder Ballon war aus Papier und wog etwa dreißig Pfund. Die Herstellung war einfach. Für den Abwurf der Bomben bedurfte es allerdings eines komplizierten und nicht immer störungsfreien Ablaufs. An Bord befand sich eine langsam abbrennende Zündschnur. Die Länge der Schnur war abhängig von der Windgeschwindigkeit und der Zeit, in der der Ballon über dem gewünschten Ziel ankommen sollte. Die Zündschnur löste eine kleine Explosion aus, durch die ein Seil durchtrennt wurde, an dem die Bombe hing. Nach dem Abheben des unbemannten Ballons waren weder die Geschwindigkeit noch die genaue Richtung zu bestimmen, da beides von den aktuellen Windverhältnissen abhängig war. Es konnte also durchaus passieren, dass die Bombe nicht am gewünschten Zielort herunterfiel und explodierte, sondern davor oder dahinter.
Doch unabhängig von diesen Schwierigkeiten setzte die österreichische Armee im Krieg gegen die Truppen der abtrünnigen Italiener auf den Einsatz dieser neuen Waffe. Seit dem 4. Mai 1849 hatte die Armee des Generals Radetzky versucht, Venedig zu erobern. Aber es dauerte schon mehr als drei Wochen, um das auf dem Festland gelegene Fort Marghera zu erobern, nachdem es vorher zehn Tage lang belagert worden war. Am 12. Juli 1849 starteten die Österreicher die ersten mit Bomben beladenen Heißluftballons von einem Schiff, das in der Lagune von Venedig lag. Wechselnder Wind verhinderte jedoch einen Abwurf über der Stadt. Drei Tage später begannen die Österreicher, in die Stadt hineinzuschießen, was aber wegen der begrenzten Reichweite ihrer Artillerie nur wenig Erfolg zeigte. Am 15. Juli versuchten sie es erneut und starteten den ersten Luftangriff in der Geschichte der Kriegsführung.
Vom Schaufelraddampfer »Vulkan« aus stiegen die Ballons auf und trieben in Richtung Venedig. Über den Schaden, den sie in der Stadt anrichteten, ist wenig bekannt. Die meisten Bomben landeten wohl im Wasser, eine soll am Lido di Venezia, einem vorgelagerten Sandstreifen, eingeschlagen sein. Trotz des geringen Schadens, den die lautlos am Himmel ihrem Ziel entgegenschwebenden Heißluftballons angerichtet haben, markiert ihr Einsatz im italienischen Unabhängigkeitskrieg einen bedeutenden Schritt zum Luftkrieg, der die Kriege im 20. und 21. Jahrhundert charakterisieren sollte. Der Bombenabwurf von Ballons war der Beginn des Tötens, ohne denjenigen zu sehen, der getötet wird. Das anonyme Töten hat die Kriege der Neuzeit noch brutaler und unmenschlicher werden lassen, als sie es ohnehin schon waren. Am Beginn dieses Prozesses standen die Papierballons, an denen Bomben hingen, die mittels einer herunterbrennenden Zündschnur ihre Tod bringende Fracht an einem entfernten Ort abwerfen konnten. Im Sommer 1849 haben die Heißluftballons den Kampf um Venedig übrigens nicht entschieden. Die Stadt ergab sich am 24. August, nachdem der Einsatz von herkömmlichen Mitteln der Kriegsführung, vor allem die Belagerung zu Land und See, in der Stadt zu Hungersnöten und dem Ausbruch von Epidemien geführt hatte. Aber die am Himmel schwebenden Bomben hatten auf die Einwohner Venedigs einen verheerenden psychologischen Einfluss. Ihr geräuschloses Erscheinen und die Erkenntnis, dem drohenden Abwurf einer Bombe schutzlos ausgesetzt zu sein, hatten Panik ausgelöst und die Widerstandskraft der Menschen geschwächt.
1 Die Biografie von Josef Wenzel Radetzky von Radetz findet sich in der österreichischen Datenbank »Gedächtnis des Landes: https://www.gedaechtnisdeslandes.at/personen/action/show/controller/Person/?tx_gdl_gdl%5Bperson%5d=612
2 Rapport, Mike: 1848. Revolution in Europa. Darmstadt 2011, S. 270.
3 Gerhardt, Frederik C.: London 1916. Die vergessene Luftschlacht. Paderborn 2019, S. 22.
4 Die Biografie von Franz Freiherr von Uchatius findet sich in »Deutsche Biographie« 39/1895: https://www.deutsche-biographie.de/sfz83203.html
Die Hauptaufgabe der Frankfurter Nationalversammlung war die Ausarbeitung einer Verfassung für den zu gründenden deutschen Einheitsstaat. Die Beratungen über die Grundrechte des Deutschen Volkes waren kompliziert und nahmen mehr Zeit als gedacht in Anspruch. Ende 1848 wurden die Grundrechte verabschiedet, in Kraft gesetzt und später im Abschnitt VI. integraler Bestandteil der Reichsverfassung. Erst im Herbst 1848 konnte der Verfassungsausschuss seine eigentliche Aufgabe angehen und eine Verfassung für das zu gründende Deutsche Reich erarbeiten.1 Aber Ende 1848 waren Österreich und Preußen schon auf dem Weg zur Gegenrevolution und entzogen der Nationalversammlung damit nicht nur die Unterstützung, sondern vor allem auch das Durchsetzungsvermögen für eine neue gesamtstaatliche Verfassung.
Ungeachtet dieser politischen Gesamtlage in Deutschland machten sich Abgeordneten daran, die beiden wesentlichen Fragen zu klären: Welche Grenzen sollte das Reich zukünftig haben und welche innere Ordnung sollte diesem Reich gegeben werden. Der erbitterte Streit zwischen denen, die Österreich als Teil des Reiches sahen, und jenen, die das Reich in den Grenzen des Deutschen Bundes von 1815 gründen wollten, schien unüberbrückbar. Auf beiden Seiten standen sich tradierte Geschichts- und Politikbilder gegenüber, die nur schwer zu versöhnen waren. Dennoch entwickelte sich eine Mehrheit, die einen Bundesstaat mit föderaler Ordnung nach dem Vorbild der United States of America favorisierten, obwohl der Begriff »Bund« durch die restaurative Gründung des Deutschen Bundes beim Wiener Kongress 1815 nachhaltig diskreditiert war.2 Schließlich wurde die Frage nach dem Verhältnis zu Österreich im Artikel 1 der Verfassung entschieden: »Das Deutsche Reich besteht aus dem Gebiet des bisherigen deutschen Bundes.«3 Damit war auch entschieden, dass Preußen das neue Reich dominieren, während Österreichs politischer Schwerpunkt sich nach Südosteuropa verlagern würde.
Das neue Reich sollte eine konstitutionelle Monarchie mit einem Kaiser an der Spitze werden. In den Ländern herrschten teilweise Könige, deren Dynastien auch in Zukunft regieren würden. Diese einzelstaatlichen Gegebenheiten wurden also nicht angetastet, weil die gewachsenen Strukturen in ihrer Vielfalt anerkannt und erhalten werden sollten. Die Wiederbelebung einer kaiserlichen Monarchie wurde von der überwiegenden Mehrheit der Abgeordneten nicht etwa als Reichsromantik oder gar als Mittelalternostalgie verstanden. Sie wollten einen Kaiser in der Verfassung verankern, der über den Königen stand und der von diesen zwar als einer der ihren, aber eben doch als herausgehoben anerkannt und akzeptiert werden konnte. Der Kaiser sollte nicht absolutistisch herrschen, sondern an Recht und Gesetz gebunden werden. Ihm stand das Recht zu, die beiden Kammern – das Volkshaus und das Staatenhaus (Bundestag und Bundesrat) – einzuberufen, deren Beschlüsse er mit einem Veto einschränken, aber nicht verhindern konnte. In dieser konstitutionellen Monarchie war das politische Zentrum nicht die kaiserliche Residenz, sondern das Parlament mit verfassungsmäßigen Rechten, die von keinem Potentaten einkassiert werden konnten.
Damit hatte auch eine Gewaltenteilung Einzug in die Verfassung gehalten. Die Regierungsgewalt – die Exekutive – lag beim »Kaiser der Deutschen« und den von ihm ernannten Ministern. Die Legislative war beim Reichstag, der aus dem vom Volk in allgemeiner und geheimer Männerwahl gewählten »Volkshaus« und dem »Staatenhaus« bestand, das je zur Hälfte von den Regierungen und den Landtagen der Einzelstaaten bestimmt werden sollte. Diese Gewaltenteilung ähnelte dem heutigen Parlamentarismus in der Bundesrepublik mit Bundestag, der allerdings von Männern und Frauen gewählt wird, und dem Bundesrat. Neben der Entscheidung für die »kleindeutsche Lösung« und die konstitutionelle Monarchie ging es bei den Beratungen vor allem auch um das Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und den Einzelstaaten. Dabei mussten die Länder im Vergleich zu ihrem Status innerhalb des bisherigen Deutschen Bundes Abstriche in Kauf nehmen. Das Reich bekam verfassungsmäßige Rechte, die die inneren Angelegenheiten der Länder beeinträchtigten. Die Länder mussten Kompetenzen im Post- und Münzwesen abgeben und ihre Rechte bei Zoll und Verkehr zugunsten des Gesamtstaates einschränken. Vor allem der Artikel 66 der Verfassung vom 28. März 1849 hatte es in sich, denn hier wurde geregelt, dass Reichsgesetze den Gesetzen der Einzelstaaten vorgehen. Reichsrecht würde in Konfliktfällen Landesrecht brechen, und der Bund bekam obendrein das Recht zur Oberaufsicht bei der »Erhebung und Verwaltung der Zölle sowie der gemeinschaftlichen Produktions- und Verbrauchs-Steuern«.
Die Länder mussten also Kompetenzeinbußen hinnehmen und hatten darüber hinaus kaum Gelegenheit, an den Gesetzesvorhaben des Bundes mitzuwirken, wie etwa beim neuen Wahlrecht. Ein allgemeines Wahlrecht fördere nur »die Demagogie der Radikalen und die soziale Revolution«, warnte Georg Waitz von der rechten Casino-Fraktion. Die Liberalen befürchteten, ein allgemeines Wahlrecht für politisch ungebildete Massen gefährde Frieden und Freiheit, während die Linke für das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht war. Dem stimmten dann auch konservative und »großdeutsch« gesinnte Abgeordnete zu. Die Konservativen hofften, ein solches Wahlrecht würde den preußischen König daran hindern, die Kaiserkrone anzunehmen, denn die deutsche Kaiserkrone auf dem Kopf eines preußischen Hohenzollers würde unweigerlich das Ende der österreichischen Teilhabe an der deutschen Innenpolitik bedeuten. Das aber galt es zu verhindern, und ein allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht schien ein geeignetes Mittel zur Durchsetzung dieses Zieles zu sein. Das Kalkül ging auf, denn Friedrich Wilhelm IV. lehnte die Kaiserkrone ab, weil er nicht wollte, »dass Österreich aus Deutschland scheidet«. Für den preußischen König haftete an »dem Reif aus Dreck«, den das Frankfurter Parlament ihm antrug, der »Ludergeruch der Revolution«.4
Die Verfassung vom 28. März 1849 wurde mit der Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt einen Monat später juristisch wirksam. Die deutsche Bevölkerung befürwortete die Verfassung mehrheitlich, 28 Regierungen stimmten ihr auch zu. Die größeren Staaten – vor allem Preußen – lehnten sie aber ab, obwohl sich eine Mehrheit des preußischen Kabinetts und der preußischen Nationalversammlung für die Annahme ausgesprochen hatte. Ungeachtet seiner barschen Kritik bei der Ablehnung der Kaiserkrone diente die Paulskirchenverfassung Friedrich Wilhelm IV. als Vorlage für die Verfassung der Erfurter Union, mit der am 28. Mai 1849 ein deutscher Bundesstaat unter preußischer Führung entstehen sollte. Die grundlegenden Ideen der Paulskirchenverfassung überlebten das Ende der Deutschen Revolution, denn die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 basiert in wesentlichen Artikeln auf dem Frankfurter Vorbild. Während bei der Reichsgründung 1871 die Verfassung für eine stärkere Position von Kaiser und Kanzler verändert wurde, war sie für die Weimarer Verfassung 1919 grundlegender Bestandteil. Selbst die Urheber des westdeutschen Grundgesetzes und der ostdeutschen Verfassung von 1949 holten sich Rat in der Verfassung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.
Nationalversammlung in der Paulskirche, Zeitgenössische Lithografie
1 Hahn, Hans-Werner; Berding, Helmut: Reformen, Restauration und Revolution 1806–1848/49. Stuttgart 2010, S.628 ff.
2 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1984, S. 652 ff.
3 Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849, abgedruckt bei: http://www.verfassungen.de/de06-66/verfassung48-i.htm
4 Oster, Uwe A.: Preußen. Geschichte eines Königreichs. München 2012, S. 290 ff.