Der Dreh- und Angelpunkt des Strafverfahrens ist die Hauptverhandlung. Doch was muss vorher passieren, damit es überhaupt zu einer kommt? Nach welchen Regeln und Traditionen läuft die Verhandlung ab?
Der Polizei wird durch eine Anzeige oder eigene Wahrnehmung der Verdacht einer Straftat bekannt. Sie beginnt zu ermitteln. Welcher Aufwand getrieben wird, hängt naturgemäß von der Bedeutung der Tat ab. Bei einem Ladendiebstahl genügt es vielleicht, Fragebogen zu verschicken; bei einem Mord wird das volle Programm gefahren. Wenn es sich um eine einigermaßen schwere Straftat handelt, beginnt die Ermittlung mit Tatortarbeit. Es werden Spuren gesichert und ans Labor geschickt. Eine wesentliche Ermittlungsarbeit ist die Befragung von Zeugen. Es können auch Gutachten eingeholt werden, zum Beispiel zur Schuldfrage bei Verkehrsunfällen oder zur Art und Güte von Drogenfunden. Über die Staatsanwaltschaft können Durchsuchungsbeschlüsse und die Genehmigung von Lauschangriffen beim Ermittlungsrichter beantragt werden. Von Behörden und Banken können Auskünfte eingeholt werden. Die Ermittlungen enden regelmäßig damit, dass der Beschuldigte zur Vernehmung geladen wird. Er kann die Tat zugeben oder bestreiten. Viele erscheinen erst gar nicht zur Vernehmung. Wenn die Polizei der Auffassung ist, dass der Sachverhalt hinreichend aufgeklärt ist, wird ein Abschlussbericht verfasst und die Akte an die zuständige Staatsanwaltschaft geschickt.
Die Staatsanwaltschaft ist die »Herrin des Ermittlungsverfahrens«. Sie entscheidet, wie in dem Ermittlungsverfahren weiter vorzugehen ist. Ist die Sache noch nicht ausreichend aufgeklärt, ordnet sie Nachermittlungen durch die Polizei an. Ist kein Täter ermittelt worden, die Beweislage schlecht oder die Schuld des Täters gering, kann sie das Verfahren einstellen. Liegt ein hinreichender Tatverdacht vor, reicht die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht ein.
Die Staatsanwaltschaft übt eine enorm wichtige Filterfunktion für die Gerichte aus, weil sie nur diejenigen Fälle beim Gericht vorlegt, in denen eine Verurteilung zu erwarten ist. Nur 7 Prozent der Ermittlungsverfahren enden mit einer Anklage, in weiteren 10,7 Prozent wird ein Strafbefehl beantragt. 8 Das heißt, die Strafrichter werden von der Masse der Verfahren verschont.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wird der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts tätig. Er ordnet Obduktionen, Durchsuchungen, Observationen und Telefonüberwachungen an.
Ein besonders scharfes Schwert ist die Untersuchungshaft. Voraussetzung für ihre Anordnung sind ein dringender Tatverdacht sowie das Vorliegen eines Haftgrundes, wie Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr und Wiederholungsgefahr. Der vorläufig Festgenommene muss innerhalb von 24 Stunden dem Haftrichter vorgeführt werden. Die Ermittlungsakte ist zu diesem Zeitpunkt noch jungfräulich dünn. Außer dem Beschuldigten wird niemand angehört. Meist erlässt der Richter den Haftbefehl auf dieser dünnen Tatsachengrundlage. Die Untersuchungshaft dauert mindestens sechs Monate, kann durch das Oberlandesgericht verlängert werden.
Staatsanwälte haben den Spruch »U-Haft schafft Rechtskraft« geprägt. Ob und welche Freiheitsstrafe später vom Gericht ausgeurteilt wird, ist ungewiss, aber die sechs Monate U-Haft hat der Beschuldigte schon mal sicher. Aus seiner Sicht ist U-Haft wie eine vorweggenommene Strafe.
Regel Nr. 3: U-Haft schafft Rechtskraft.
U-Haft fördert darüber hinaus die Geständnisbereitschaft und den Rechtsmittelverzicht nach Urteilsverkündigung. Beschuldigte sind zu großen Zugeständnissen bereit, um schnell wieder aus dem Untersuchungsgefängnis entlassen zu werden. Die Staatsanwaltschaft geht deshalb nicht ganz zu Unrecht davon aus, dass U-Haft den Weg zu einem rechtskräftigen Urteil beschleunigt.
Auf den Schreibtisch des Strafrichters ergießt sich ein regelmäßiger Strom von Neueingängen. Die Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren mit einer Anklage abgeschlossen. »Wieso ich?«, ist die erste Frage des Richters. Die Frage der Zuständigkeit ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens gilt das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz. Das Urteil eines unzuständigen Richters wäre mit der Revision angreifbar. Zweitens muss die Strafgewalt des angerufenen Gerichts ausreichen. Die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts ergibt sich aus der vorgeworfenen Tat und der zu erwartenden Höhe der Strafe. Der Strafrichter am Amtsgericht ist zuständig für Vergehen, bei denen eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren zu erwarten ist. Verbrechen und Verfahren mit einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von zwei bis vier Jahren werden vor dem Schöffengericht am Amtsgericht angeklagt. Die Strafgewalt des Amtsgerichts endet bei vier Jahren. Für alle Fälle, in denen mehr als vier Jahre Freiheitsstrafe zu erwarten sind, ist das Landgericht zuständig, ebenso für Mord und Totschlag.
Als Vorsitzender des Schöffengerichts sitze ich zwischen den Stühlen. Ich prüfe, sofern kein Verbrechen vorliegt, ob die voraussichtliche Freiheitsstrafe zwei Jahre oder darunter betragen könnte und damit der Strafrichter zuständig ist. Oder ob mehr als vier Jahre Freiheitsstrafe zu erwarten sind und es damit ein Fall für das Landgericht wäre. Meist unproblematisch ist die örtliche Zuständigkeit. Das angerufene Gericht ist zuständig, wenn entweder der Tatort oder der Wohnsitz des Angeklagten in seinem Bezirk liegt. Es kommt nur ganz selten vor, dass die Staatsanwaltschaft irrtümlich Anklage vor einem örtlich nicht zuständigen Gericht erhebt.
Ferner muss der Richter nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständig sein. An größeren Gerichten gibt es mehr als einen Strafrichter oder mehr als eine Strafkammer. Manchmal sind die Zuständigkeiten nach der Endziffer des Aktenzeichens, manchmal nach dem Anfangsbuchstaben des Namens des Angeklagten geregelt. Und Falschvorlagen durch die Geschäftsstelle kommen durchaus vor. Es ist ärgerlich, wenn man sich in eine Akte einliest, nur um später festzustellen, dass man gar nicht zuständig ist.
Nach Bejahung der Zuständigkeit prüft der Richter die neu eingegangene Anklage grob durch. Ergibt der Anklagesatz Sinn? Ist die Anklage schlüssig? Werden den Anklagevorwurf stützende Beweismittel benannt? Bei schweren Mängeln könnte man die Anklage zur Überarbeitung an die Staatsanwaltschaft zurückschicken. Meist sind die Anklagen aber in Ordnung.
Nun wird die Anklage an den Angeklagten und gegebenenfalls seinem Verteidiger zugestellt, verbunden mit der Aufforderung, Bedenken gegen die Anklage sowie weitere Beweismittel innerhalb einer bestimmten Frist mitzuteilen. In 99 Prozent bekommt man keine Antwort.
Verfahren vor dem Schöffengericht sind Fälle der notwendigen Verteidigung. Hat der Angeklagte noch keinen Verteidiger, fordere ich ihn auf, einen zu benennen. Reagiert der Angeklagte nicht, wähle ich einen Anwalt aus.
Das Zwischenverfahren beginnt mit dem Eingang der Anklageschrift beim zuständigen Gericht und endet mit der Entscheidung über die Eröffnung oder Nichteröffnung des Hauptverfahrens. Wenn ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, entscheidet das Gericht auf Zulassung der Anklage und Eröffnung des Hauptverfahrens. Das Zwischenverfahren soll eine Filterfunktion haben, die den Angeklagten vor ungerechtfertigten Anklagen schützen soll. In der Rechtswirklichkeit funktioniert diese Filterfunktion allerdings nicht, denn Nichteröffnungsbeschlüsse werden durch das Land- oder Oberlandesgericht fast immer aufgehoben. Sie eröffnen dann das Hauptverfahren und schicken die Akte zur Durchführung der Hauptverhandlung an das Untergericht zurück.
Am 24. Juli 2010 kam es bei der Loveparade in Duisburg zu einer tödlichen Massenpanik. Dabei kamen 21 Menschen ums Leben, mindestens 652 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Dreieinhalb Jahre danach erhob die Staatsanwaltschaft Duisburg Anklage gegen zehn Personen wegen fahrlässiger Tötung u. a. Es handelte sich um Mitarbeiter der Veranstalterin sowie um Bedienstete der Stadt Duisburg. Ihnen wurde vorgeworfen, schwerwiegende Fehler bei der Planung und Genehmigung der Veranstaltung gemacht sowie sicherheitsrelevante Auflagen am Veranstaltungstag nicht überwacht zu haben. Doch das Landgericht Duisburg lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. 9 Es sah keinen hinreichenden Tatverdacht gegen die Angeklagten. Insbesondere sei die Kausalität einer Sorgfaltspflichtverletzung der Angeklagten für die Todesfälle nicht nachweisbar. Die Staatsanwaltschaft legte sofortige Beschwerde gegen den Nichteröffnungsbeschluss ein. Das Oberlandesgericht Düsseldorf eröffnete daraufhin das Hauptverfahren. 10
Das Landgericht Duisburg verhandelte an 184 Sitzungstagen innerhalb zweieinhalb Jahren. Letztlich endete der Prozess im Mai 2020 mit einer Einstellung wegen geringer Schuld gemäß § 153 Abs. 2 Strafprozessordnung. Das Gericht sah die individuelle Schuld der zehn Angeklagten des Veranstalters und der Stadt Duisburg auch unter der Berücksichtigung, dass diese bis zu fast zehn Jahre einem Strafverfahren ausgesetzt waren, als gering an. 11
Als Amtsrichter kann man sich die Mühe, Anklagen sorgfältig zu prüfen, getrost sparen. Mir ist in 27 Jahren ein einziges Mal ein erfolgreicher Nichteröffnungsbeschluss gelungen. Dem stehen ein Dutzend vom Landgericht aufgehobener Nichteröffnungsbeschlüsse gegenüber. Taugt die Anklage nichts, bleibt einem Richter nur übrig, sie trotzdem zu eröffnen und dann in der Hauptverhandlung freizusprechen.
Regel Nr. 4: Anklagen führen zu 99 Prozent zur Eröffnung des Hauptverfahrens.
Meist gleichzeitig mit dem Eröffnungsbeschluss erfolgt die Terminierung. Und da wird es kompliziert. Die erste Frage, die ich mir stelle, ist, wie viel Zeit die Verhandlung beanspruchen wird. Das ist oft nur schwer prognostizierbar, da es zu diesem Zeitpunkt meist keine Einlassung des Angeklagten gibt. Er hat bei der Beschuldigtenvernehmung durch die Polizei von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht oder ist erst gar nicht zu dieser erschienen. Er hat auch über seinen Verteidiger bislang keine Einlassung abgegeben. Wenn er gesteht, könnte die Verhandlung in einer Stunde beendet sein. Wenn er bestreitet, bräuchte ich alle Zeugen der Anklageschrift, und es könnte auf mehrere Verhandlungstage hinauslaufen.
Ein Sonderfall sind Haftsachen, denn bei ihnen muss die Hauptverhandlung innerhalb von sechs Monaten nach der Verhaftung begonnen haben. Wenn ich die Anklage auf den Tisch bekomme, sind davon im Schnitt bereits vier Monate abgelaufen. Mir bleibt dann ein Zeitfenster von nur zwei Monaten, um mit der Verhandlung zu beginnen.
Mir stehen immer nur dienstags ein Gerichtssaal und Schöffen zur Verfügung. Also suche ich in meinem Terminkalender freie Dienstage heraus. Dann kontaktiere ich die Verteidiger und gegebenenfalls Sachverständige, um mit ihnen einen Termin abzustimmen. Bekannte Anwälte sind über ein halbes Jahr oder mehr ausgebucht. Manchmal sind mehrere Verteidiger im Spiel, was die Abstimmung schwierig macht. Es ist dann problematisch, einen Termin zu finden, an dem alle Zeit haben. Anwälte haben übrigens Sekretärinnen, die den Terminkalender für sie führen; von einem Richter wird erwartet, dass er das selbst erledigt. Aber irgendwann nach ein paar Faxen oder Anrufen steht der Termin. Die Ladungen gehen raus.
Das Verschicken der Ladungen beschwört oft nur weitere Probleme herauf. Nach ein paar Tagen kommen manche als unzustellbar zurück. Die Anschrift stimmte nicht, der Angeklagte oder Zeuge ist verzogen oder hat vielleicht einfach nur seinen Briefkasten zugeklebt. Also holt der Richter eine Adressauskunft vom Einwohnermeldeamt ein. Viele Angeklagte stammen aus den unteren sozialen Schichten, haben Alkohol- oder Drogenprobleme. Das sind Leute, denen nichts gleichgültiger ist als die Einhaltung der Meldevorschriften. Das Einwohnermeldeamt teilt dann kurz mit, derjenige wäre von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet worden. Manchmal hilft in solchen Fällen eine Aufenthaltsermittlung durch die Polizei weiter, aber nicht immer. Kann der Angeklagte oder ein wichtiger Zeuge nicht geladen werden, muss ich den Termin wieder aufheben. Das Verfahren wird dann vorläufig eingestellt, bis eine neue Anschrift des Gesuchten bekannt wird.
Die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen gilt als unpopulär. Schon bald nach den Zustellungen trudeln die ersten Entschuldigungsbriefe bei Gericht ein. Angeklagte, Zeugen und Schöffen bitten um Abladung. Wortreich breiten die Briefeschreiber die Unmöglichkeit aus, zu dem Termin bei Gericht zu erscheinen. Häufig wird Urlaub genannt (»gebuchte Ferienwohnung auf Rügen«), auch berufliche Unabkömmlichkeit (»mein Chef macht mir die Hölle heiß«) und familiäre Gründe (»Kind im Säuglingsalter« bzw. »muss demente Oma betreuen«) werden angeführt. Häufig vorgebracht werden auch gesundheitliche Gründe (»fiese Rückenschmerzen«, »Nachbar hat Corona, könnte mich angesteckt haben«). Wohnt der Angeklagte oder Zeuge nicht am Gerichtsort, macht er geltend, die Anreise »von so weit« sei unzumutbar. Das reisefreudigste Volk der Welt verfällt in Totenstarre, sobald es eine Gerichtsladung erhält. Sogar Freizeitinteressen werden als Hinderungsgrund vorgebracht (»habe Karten für Roland Kaiser – wer weiß, wie lange der noch singt«). Alles im Leben scheint wichtiger zu sein als ein Gerichtstermin. Jedem Einzelnen muss ich einen individuellen Brief schreiben, in dem ich ihm erkläre, dass er trotz seiner wichtigen Gründe doch zum Termin erscheinen muss. Vorsichtshalber weise ich noch auf die Folgen eines unentschuldigten Fernbleibens hin.
Ein paar Tage vor der Hauptverhandlung bekomme ich die Akte vorgelegt. Ihren Inhalt zu kennen erleichtert die Durchführung der Verhandlung. Eine Strafakte kann ein schmales Bändchen mit 50 Seiten sein, sie kann aber auch mehrere Bände mit zusammen Tausenden Seiten umfassen. Und dann gibt es noch die Kartonverfahren, die neben den Strafakten aus Dutzenden Beweismittelordnern bestehen. Das Aktenstudium kann irgendetwas zwischen einer halben Stunde und mehreren Tagen dauern. Ich mache mir Notizen für meine späteren Fragen an Angeklagte, Zeugen und Sachverständige. Ich mache mir auch Gedanken über die Beweislage, Entscheidungsoptionen und eine mögliche Strafzumessung.
Ein Richter, der an einem gut funktionierenden Gericht arbeitet, geht selbstverständlich davon aus, dass die nachgeordneten Dienste ihre Vorarbeit zur Durchführung der Verhandlung geleistet haben. Das Amtsgericht Dessau-Roßlau ist eher eine schlecht geführte Ruine.
Die Geschäftsstelle hat dem Richter die Akten drei Tage vor dem Termin vorzulegen, damit er ihn vorbereiten kann. Das klappt meist, aber nicht immer. In meinem Dienstkalender führe ich eine eigene Fristenkontrolle, um die ausgebliebene Aktenvorlage bemerken und monieren zu können.
Am Tag der Verhandlung gibt es einiges zu kontrollieren. Wichtig ist der Terminaushang im Eingangsbereich des Gerichts und noch mal vor dem Sitzungssaal. Durch ihn finden die Prozessbeteiligten den richtigen Saal, und er sichert auch den Öffentlichkeitsgrundsatz. Der Terminaushang kann fehlen oder inhaltlich falsch sein. Oder er wird am falschen Saal ausgehängt.
Als Nächstes werfe ich einen Blick in den Gerichtssaal, den ich mit anderen Kollegen teile. Die Tische und Stühle müssen für die anstehende Verhandlung passend stehen. Manchmal hat ein Richterkollege ein Chaos hinterlassen, oder die Sitzanordnung passt nicht für die aktuelle Verhandlung. An meinem Gericht rücke ich die Möbel selbst.
Dann erkundige ich mich nach der Besetzung der Geschäftsstelle und der Zahlstelle. Aufgrund von Personalmangel sind sie nicht immer besetzt, und ich muss wissen, wohin ich mich bei Bedarf wenden oder die Zeugen schicken kann. Oft hängen Zettel an den verschlossenen Türen, auf denen steht, »bitte in Zimmer XXX melden«; geht man dorthin, hängt dort ein weiterer Zettel, auf dem an ein anderes Zimmer weiterverwiesen wird. So etwas will ich nicht erst in laufender Verhandlung herausfinden.
Wichtig ist noch, sich nach der Verfügbarkeit von Wachtmeistern zu vergewissern. Die Wachtmeisterei an meinem Gericht ist chronisch unterbesetzt, obwohl sie für eine Verhandlung enorm wichtig ist. An einem ordentlich geführten Gericht würde es eine Einlasskontrolle geben. An meinem nicht. Jeder gewaltbereite und bewaffnete Bürger kann ungehindert den Gerichtssaal betreten. Am Richtertisch gibt es einen Notrufknopf. Ich muss wissen, ob in der Wachtmeisterei jemand anwesend ist, der gegebenenfalls auf den Notruf reagieren könnte. Eine weitere wichtige Aufgabe von Wachtmeistern ist die Vorführung von Gefangenen. Auch das ist mangels Personals nicht immer gewährleistet. Und wenn der U-Häftling nicht vorgeführt werden kann, platzt die Verhandlung.
Der letzte kritische Blick gilt der Protokollführerin. Sie sollte vor Beginn der Verhandlung anwesend und dem Ernst der Sache entsprechend gekleidet sein. So musste ich es unlängst erleben, dass die Protokollantin zur Weihnachtszeit einen Haarreif mit einem Rentiergeweih trug. Ich muss wohl so entsetzt geschaut haben, dass sie ihn von selbst absetzte.
Wenn das Gericht in den Saal einzieht, stehen üblicherweise alle Anwesenden auf. Ich bleibe mit meinen beiden Schöffen hinter dem Richtertresen stehen und sage: »Guten Morgen. Die Hauptverhandlung in der Strafsache gegen … ist eröffnet.« Dann bitte ich alle Anwesenden, sich hinzusetzen.
Die Verhandlung beginnt mit der Prüfung der Anwesenheit der Prozessbeteiligten. In etwa einem Drittel der Fälle endet sie damit, dass ich feststelle, dass jemand fehlt. Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit sind heute keine Tugenden mehr, aber immerhin in zwei Dritteln der Fälle sind alle Geladenen erschienen, und die Verhandlung kann beginnen.
Nach Feststellung der Personalien des Angeklagten bitte ich den Staatsanwalt, die Anklageschrift zu verlesen. Stehend verliest er, was die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten vorwirft. Damit erfahren auch die Schöffen und mögliche Zuschauer, worum es in dem Fall konkret geht. Anschließend wird der Angeklagte belehrt, dass es ihm freisteht, ob er schweigt oder ob er etwas zu der Anklage erklärt.
Jetzt wird es auch für mich spannend. Es gibt bis zu diesem Zeitpunkt in der Regel keine Einlassung des Angeklagten. Den meisten ist bekannt, dass man zur Beschuldigtenvernehmung vor der Polizei weder erscheinen noch dort etwas aussagen muss. Verteidiger raten auch ganz überwiegend zum Schweigen vor der Polizei. Deshalb weiß ich bis zu diesem Zeitpunkt oft nicht, ob und wie sich der Angeklagte verteidigen wird. Er hat im Prinzip drei Möglichkeiten:
Es ist das gute Recht des Angeklagten, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen. Das Gericht muss nun in eine Beweisaufnahme eintreten und dem Angeklagten die Tat nachweisen.
Naturgemäß lieben Richter ein Geständnis, denn die Beweisaufnahme fällt dann nur noch kurz aus oder fällt ganz weg. Ein Geständnis zeigt dem Richter auch, dass der Angeklagte das Unrecht seiner Tat eingesehen hat. Es führt für den Angeklagten regelmäßig zu einer erheblichen Reduzierung des Strafmaßes.
Einziger Nachteil des Geständnisses ist, dass die Zeugen mehr oder weniger umsonst erschienen sind. Eine umfangreiche Zeugenvernehmung findet nicht mehr statt. Die meisten Zeugen werden unvernommen nach Hause geschickt.
Als einziger Prozessbeteiligter darf der Angeklagte lügen. Weil er das darf und viele davon auch Gebrauch machen, erwartet man als Richter Lügen. Es entspricht der Berufserfahrung, dass der nicht geständige Angeklagte versuchen wird, seinen Kopf durch Lügen aus der Schlinge zu ziehen. Dadurch ist das Gericht gezwungen, wie beim Schweigen die Beweisaufnahme durchzuführen. Lügen finde ich persönlich schlimmer als Schweigen, denn der Angeklagte versucht, das Gericht bewusst in die Irre zu führen. Wird ein Angeklagter bei einer Lüge ertappt, könnte es durchaus sein, dass man ihm überhaupt nichts mehr glaubt. Manche tischen dem Gericht immer neue unwahre Versionen auf, wenn sie merken, dass das Gericht die erste nicht glaubt.
Regel Nr. 5: Der Angeklagte darf lügen und tut es oft auch.
Bei erdrückender Beweislage lege ich dem Angeklagten ein Geständnis nahe. Es führt zu einer erheblichen Strafmilderung und macht nicht selten den Unterschied zwischen Bewährung und keiner Bewährung aus. »Ich habe es nicht getan. Ich kann doch nicht zugeben, was ich nicht gemacht habe!«, antworten die Angeklagten darauf meist.
Die Beweisaufnahme startet in der Regel mit Zeugenvernehmungen. Dem schließen sich Sachverständige an, sofern in dem Verfahren welche bestellt sind. Schließlich werden Urkunden verlesen, Videos abgespielt und Asservate in Augenschein genommen. Das Gericht darf bei seiner Entscheidung nur das verwenden, was in die Hauptverhandlung eingeführt wurde. Ich werde auf die einzelnen Beweismittel in Kapitel 9 ausführlich eingehen.
Weil Angeklagte lügen dürfen und genau dies häufig auch tun, messen Richter ihren Unschuldsbeteuerungen wenig Gewicht bei. Im Idealfall konnte die unwahre Einlassung durch die Beweisaufnahme widerlegt werden. Falls nicht, wird sie von den Richtern trotzdem abgetan. Als Richter bezichtigt man übrigens niemanden der Lüge, sondern spricht von einer widerlegten Schutzbehauptung.
Regel Nr. 6: Bestreiten des Angeklagten wird als Schutzbehauptung abgetan.
Nachdem das Beweisprogramm abgearbeitet ist, wird der Angeklagte zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt. Meist habe ich es mit gescheiterten Existenzen zu tun. Einen Realschulabschluss haben sie gerade noch geschafft, eine anschließende Berufsausbildung jedoch abgebrochen. Seit Jahren sind sie Stammkunde beim Jobcenter. Sofern es Kinder gibt, zahlen sie für diese keinen Unterhalt.
Verteidiger versuchen an dieser Stelle, ein paar Pluspunkte für den Angeklagten zu machen. Sie führen eine schlechte Kindheit oder seine Alkohol- und Drogenprobleme an.
Dem schließt sich die Verlesung des Strafregisters an. Manche Angeklagte haben derart viele Voreintragungen, dass ich bei ihrer Verlesung heiser werde.
Anschließend stelle ich die Frage, ob die Beweisaufnahme geschlossen werden kann. Staatsanwälte bejahen sie immer. Für sie war mit Verlesung der Anklageschrift schon alles klar. Verteidiger haben jetzt letztmalig die Gelegenheit, Beweisanträge zu stellen. Manche nutzen sie. Das ist insbesondere dann ärgerlich, wenn der Antrag auch viel früher, etwa nach Zustellung der Anklageschrift, hätte gestellt werden können. Bei nicht präsenten Beweismitteln muss die Verhandlung an einem anderen Tag fortgesetzt werden, nach der Strafprozessordnung muss dies innerhalb von höchstens drei Wochen geschehen. Reicht diese Frist nicht, weil beispielsweise ein Sachverständigengutachten beantragt wurde, platzt der Prozess und muss später von Neuem begonnen werden. Es hilft, wenn der Strafrichter die sieben gesetzlichen Ablehnungsgründe für Beweisanträge und die ausdifferenzierte Rechtsprechung hierzu kennt.
Aber irgendwann ist die Beweisaufnahme beendet. Als Erster hält der Staatsanwalt seinen Schlussvortrag. Er trägt vor, welchen Sachverhalt er für erwiesen hält, wie sich der Angeklagte hierdurch strafbar gemacht hat und welche konkrete Strafe er dafür als angemessen erachtet. Gern schmückt der Sitzungsvertreter sein Plädoyer mit ein paar kräftigen und moralisierenden Worten aus, wie »niederträchtige Motive«, »abscheuliches Verbrechen«, das »mit nichts weniger als der Höchststrafe geahndet werden muss«. »Ein dummdreister Lügner ist der Angeklagte« und »er hat bisher in seinem Leben überhaupt nichts auf die Reihe bekommen«. Weitere Folterwörter aus der Asservatenkammer der Staatsanwaltschaft sind »abartig«, »widerwärtig« und »abstoßend«. An moralischem Tadel wird nicht gespart.
Das ist der Moment, in dem manchen Angeklagten das Grinsen aus dem Gesicht fällt. Bis zu diesem Zeitpunkt sind sie aufgrund der Angaben ihres Anwalts davon ausgegangen, dass alles nicht so schlimm würde. Doch jetzt haben sie zum ersten Mal ein konkretes Strafmaß gehört, das zudem erheblich über ihrer Vorstellung liegt.
Anschließend hält der Verteidiger sein Plädoyer. Er bestreitet eine Strafbarkeit seines Mandanten oder versucht zumindest, seine Tat in einem sehr viel milderen Licht darzustellen. Demgemäß beantragt er einen Freispruch oder eine deutlich unter dem Antrag des Staatsanwalts liegende Strafe. Seinen Schlussvortrag hält er für den eigenen Mandanten, der dankbar nickend seiner behaupteten Unschuld zustimmt. Mit der Wirklichkeit haben Anwaltsplädoyers oft nichts zu tun. Das ist in etwa so, als ob ein Kind seinen prall gefüllten Wunschzettel zu Weihnachten verliest. Sie ahnen bereits, welche Rolle das Verteidigerplädoyer bei der Entscheidungsfindung spielt.
Dann hat der Angeklagte das letzte Wort. Das ist der Moment des Winselns und Bettelns. »Bitte, letzte Chance!«, jammert der zweifache Bewährungsversager mit Hundeblick. Gern wird auch geschworen. »Ich schwöre, das war meine letzte Straftat.« Viele sagen aber nichts oder schließen sich den Worten ihres Verteidigers an.
Das Gericht zieht sich nun zur Urteilsberatung zurück. Im Beratungsraum diskutiere ich mit den beiden Schöffen die Schuld und Straffrage. Wenn wir uns einig geworden sind, muss ich den Tenor handschriftlich aufsetzen.
Anschließend geht es zur Urteilsverkündung zurück in den Saal. Wieder erheben sich alle Anwesenden. Das Urteil wird stehend verlesen. Die meisten Angeklagten nehmen das Urteil stoisch entgegen. Selten kommt es zu Gefühlsausbrüchen. Sofern nötig, werden noch weitere Entscheidungen des Gerichts verlesen, wie etwa ein Bewährungsbeschluss oder ein Beschluss über die Aufhebung oder Aufrechterhaltung des Haftbefehls. Sodann nehmen alle Anwesenden wieder Platz. Ich begründe das Urteil mündlich. Die Verhandlung endet mit der Belehrung des Angeklagten über seine Rechtsmittel. »Falls Sie sich zu Unrecht oder zu hart bestraft fühlen …«, beginne ich die Belehrung. Naturgemäß fühlt sich der Angeklagte beides, denn er hat sich einen Freispruch erhofft.
Für mich ist die Urteilsverkündung unabhängig vom Ergebnis ein befriedigender Moment. Trotz manchmal widriger Umstände ist es mir gelungen, das Strafverfahren mit einem Urteil zu beenden.
Wie lange dauert so eine Hauptverhandlung? Ein einfacher Fall kann bei einem Geständnis des Angeklagten schon nach einer halben Stunde erledigt sein, schwierige Fälle mit einer umfangreichen Beweisaufnahme können durchaus auch Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern. Die einzige Grenze nach oben ist das Pensionsalter des Richters.