Direkt gegenüber dem neuen Frauenlager im Sektor B lag Mitte 1944 das sogenannte »Zigeunerlager«. Ich sage das mit aller Vorsicht und Sensibilität. Natürlich weiß ich, dass »Zigeuner« ein Schimpfwort ist, das Lager hieß damals aber so. Dort waren Sinti und Roma untergebracht, die in unserer Heimat Rumänien eine eigene ethnische Gruppe bildeten. Wir vier jüdische Schwestern beneideten die Sinti- und Roma-Frauen des Familienlagers anfangs darum, wie sehr sie noch sie selbst sein durften. Wir verstanden es einfach nicht. Die Familien wurden dort offensichtlich nicht getrennt, die Frauen durften ihre Haare behalten und ihre eigenen Kleider tragen, keine von ihnen wurde zwangsrasiert, soweit ich das sehen konnte. Zuweilen hatte ich auch den Eindruck, dass sie uns auslachten, weil wir in unseren Anstaltsklamotten ja auch wirklich schäbig und lächerlich aussahen. Wir hatten sie zu früh beneidet, auch weil wir die Auschwitz-Gesetze falsch interpretiert hatten. Eines Nachts hörten wir entsetzliche Schreie von gegenüber, von jenseits des Zauns. Kinderschreie. Frauenschreie. Männerschreie. Panische Schreie. Hysterisches Gewimmer. Flehende Rufe. Dazwischen typisches Nazigebrüll. Es müssen Hunderte gewesen sein, die gleichzeitig geschrien haben. Ihre Pein wollte einfach kein Ende mehr nehmen. Die nackte Angst, die ganze Nacht. Sie breitete sich aus, kroch durch den Zaun zu uns in die Baracke, keine von uns machte ein Auge zu. Wir bibberten auf unseren Planken, niemand wusste, ob wir gleich die Nächsten sein würden, die Grund hätten, um ihr Leben zu schreien. Und irgendwann, als der Morgen graute, wurde es plötzlich ganz still.
Am nächsten Morgen, nach dem Appell, traten wir an den Zaun, der die Lager teilte, und sahen: Das Lager war evakuiert, leer geräumt, niemand war mehr zu sehen. Als hätten sich die Menschen von Gegenüber in Luft aufgelöst. Doch in der Luft hing noch das erstickte, verzweifelte Klagen der vergangenen Nacht. Im Nachhinein habe ich gelernt: Die SS hatte für das, was in der Nacht geschehen war, für das, was wir nur gehört, nicht aber gesehen hatten, ein typisch deutsches Wort: Räumungsbefehl. Das klingt so schön ordentlich und aufgeräumt. Doch die tatsächlichen Geschehnisse jener Nacht waren nicht ordentlich und aufgeräumt gewesen, sondern chaotisch und verzweifelt, brutal und menschenverachtend, daran änderte auch keine Amtssprache etwas, die aus einem Verbrechen einen Verwaltungsakt zu machen versuchte. Wir standen am Begrenzungszaun. Von unserem Platz aus gesehen reichte ein einziger Blick nach links oben, um das Schicksal der Sinti und Roma erahnen zu können. Ich weiß heute, ihr Lager lag direkt neben Gaskammer und Krematorium Nummer 3. Damals sah ich, der Schornstein rauchte an diesem Tag den ganzen Tag hindurch. Wie er immer den ganzen Tag hindurch rauchte, wenn man sich dessen nur bewusst wurde. Ob die Sinti- und Roma-Frauen wussten, dass man ihnen einen Teil ihrer Würde nur deshalb etwas länger gelassen hatte, weil sie schneller als die anderen ihr Leben verlieren würden? Dass es sich, so muss man es sich heute wohl vorstellen, für die SS gar nicht gelohnt hätte, sie der ganzen Aufnahme- und »Sauna«-Prozedur zu unterziehen, weil sie dafür gar nicht lange genug im Lager und am Leben bleiben würden? Als Adolf Eichmann, einem der Hauptverantwortlichen der Vernichtungslogistik, 1961 in Jerusalem der Prozess gemacht wurde, da gruselte sich die Welt über die kalte, nüchterne Effizienz, mit der die Nazis den Massenmord an Juden und »Zigeunern« organisiert hatten. Das war nun ein plakatives Beispiel dafür, was sie unter effizienter Mordverwaltung verstanden. Auch diese Sinti und Roma wurden auf Basis ihrer Kosten-Nutzen-Bilanz vernichtet. Anders als wir rechneten sie sich offenbar nicht mehr. Am Morgen danach hallten die Schreie der Familien, der Frauen und Kinder in meinen Ohren nach und vom verdunkelten Himmel regnete es Asche. Menschliche Asche. Es war ein ganz normaler Tag in Auschwitz im Sommer 1944.
Es hat lange gedauert, bis mir überhaupt aufgefallen ist, dass die Sonne während meines Aufenthalts in Auschwitz von Mitte Mai bis Ende September 1944 so gut wie nie zu sehen war. Zumindest kann ich mich an keinen hellen, sonnigen, warmen Tag erinnern, obwohl ich ja den Sommer hier »verbrachte«. Wie das klingt – Sommer in Auschwitz? Auch an eine sprießende Vegetation kann ich mich nicht erinnern. Es gab keine Sträucher und keine Bäume, die Blüten und Früchte trugen, keine frische Erde, die nach Erde roch, kein duftendes Gras, wie ich es aus meiner Kindheit in Unterwischau kannte, keine Singvögel, die ein Liedchen trällerten, keine Bienen, die summten, keine Rehe, die über das Gelände sprangen. Dabei gab es ausgedehnte Wiesenflächen und zahlreiche Bäume und Sträucher auf dem 136 Hektar großen Areal des Vernichtungslagers. In den Wäldern ringsherum gab es ganz viele Rehe, die ich nahezu bei jedem meiner späteren Besuche auf dem Gelände habe herumspringen sehen. Nur: 1944 habe ich nichts sprießen, singen, summen, herumspringen sehen. Wo war all das Leben hin?
1944 war Auschwitz ein toter Ort. Der Rauch der Schornsteine legte sich wie Smog über das Lager und verdunkelte schon tagsüber den Himmel. Tatsächlich haben die Schornsteine, als ich mir ihrer schließlich nach ein paar Wochen bewusst wurde, während meines Aufenthalts die ganze Zeit geraucht. Die Menschen starben wie die Tiere – und die Tiere wussten das. Sie wussten es früher als wir. Wenn der Himmel erstickt, dann verstummen auch die Vögel. Man kennt das von anderen Katastrophenszenarien, etwa einem Tsunami. Kurz bevor die tödliche Welle an Land aufschlägt und alles zerstört, ergreift die Natur die Flucht. Die Tiere wissen es besser, sie bringen sich in Sicherheit. In den Minuten vor der totalen Zerstörung hält der natürliche Lauf der Dinge wie von Zauberhand an. Es herrscht sprichwörtliche Totenstille. So war es in Auschwitz im Sommer 1944 die ganze Zeit. Es scheint fast so, als ob die Nazis damals sogar in der Lage gewesen wären, die Natur einfach anzuhalten oder auszuschalten. Als ich 1993 mit meiner ersten Auschwitz-Delegation wieder hierherkam, war alles wieder angeknipst. Gräser, Blumen und Pflanzen aller Art blühten, eine Rehfamilie sprang mit ihren Kitzen über die Wiesen des ehemaligen Vernichtungslagers, so, als wäre es eine Wiese wie jede andere.
»Wofür sind die Kamine?«, fragte Sarah eines Tages, die als Einzige von uns etwas Deutsch sprach und sich ab und an mit einer Frau unterhielt, die zum SS-Gefolge gehörte. »Was raucht da so?«, ließ Sarah nicht locker. Die Frau erklärte ihr, dass es sich um die Wäscherei handele. »Richtig«, erwiderte Sarah ironisch, »das hatte ich ganz vergessen. Wir bekommen ja täglich frische Anziehsachen bereitgestellt.« Wir drei anderen standen dabei und schauten beschämt und ängstlich zu Boden. Die Aufseherin hatte offenbar nicht gemerkt, dass Sarah sich über sie lustig gemacht hatte, und ließ uns stehen. Unser Blick zum Boden, der Blick an unserer völlig verdreckten Häftlingskleidung entlang, offenbarte allerdings, dass sie es war, die sich einen schlechten Scherz erlaubt hatte. Unsere Häftlingskleidung, die in den vier Monaten im Lager kein einziges Mal gewaschen und nie gewechselt wurde, stank nach Dreck, Schweiß und Fäkalien, dass man die eigene Nase am besten ganz weit oben trug. Ich ekelte mich vor mir selbst, und auch wenn mir das heute unbegreiflich erscheint, war es mir möglich, diesen Ekel tagtäglich zu verdrängen.
Diese SS-Aufseherin hatte sich über uns lustig gemacht, nicht umgekehrt. Was war eine Wäscherei in einem Vernichtungslager anderes als ein Ort, an dem alles Lebendige chemisch vernichtet und restlos »gesäubert« wurde? Eine Gefangene, die schon seit einigen Jahren im Lager lebte und immer noch am Leben war, bekam unsere Unterhaltung mit und mischte sich ein. »Seht nur genau hin, hier werden eure Eltern vergast und verbrannt«, sagte sie zu einer Gruppe von weiblichen Häftlingen, die um sie herumstanden. Dabei deutete sie mit der Hand zum Schornstein eines der Krematorien. Ich stand am Rand der Menschentraube und beobachtete, wie die Umstehenden unruhig wurden, zu kreischen anfingen und auf die Frau einschlugen. Die Hand- und Faustschläge wurden immer heftiger, sie wollten ihr den Mund verbieten. Wir alle waren davon überzeugt, dass sie log. Auch Sarah ging auf die Frau los. »Bist du verrückt?«, schrie sie sie an. »Wir leben im 20. Jahrhundert, wir sind keine Barbaren mehr. Das ist unmöglich! Du lügst!« Sarah war außer sich, so in Rage hatte ich sie nie zuvor gesehen. In meiner Erinnerung war dies das einzige Mal, dass unsere Anführerin die Beherrschung verlor.
Auch wir wollten nicht hören, was uns unglaublich erschien. Man glaubt eben gerne das, was man auch glauben will. Und wer will schon hören, dass die Eltern vor den eigenen Augen vergast und verbrannt wurden und im Ascheregen auf uns niedergefallen sind? Und wer weiß, schon bald würde man selbst an der Reihe sein? Niemand wollte sich vorstellen, dass es wahr sein könnte. Mit jedem Schlag mehr hofften diese Frauen, dass sie die Lüge zerstören könnten. Eine Lüge, vor der wir uns so sehr fürchteten als wäre es die Wahrheit, die ganze Wahrheit, so ungeschminkt und brutal, dass sie jedes menschliche Vorstellungsvermögen überstieg. Wie fanatisch schlugen die Umstehenden auf die Frau ein, bis die Blockälteste dazwischenging. Und vom Himmel regnete es Ascheflocken um Ascheflocken. Und die Luft roch nicht nach den blühenden Wäldern jenseits des Lagerzauns, nicht nach frischem Gras, nicht nach dem Duft des Sommers, sondern nach verbranntem Hühnchen. Die Lüge, ob wir sie nun glauben wollten oder nicht, war gar keine Lüge. Das allerdings wurde mir erst viel später bewusst. Die junge Frau hatte die Wahrheit gesagt.
Es gab in Auschwitz diesen ganz bestimmten, eigentümlichen Geruch. Das Verrückte war, als ich da war, habe ich ihn nicht riechen können. Zumindest nicht bewusst. Er war da, aber ich realisierte ihn nicht. Nicht während meiner Zeit im Lager. Da ich alles Sinnliche unterdrückte, war auch mein Geruchssinn wie ausgeschaltet. Das half mir auch dabei, mich selbst nicht riechen zu müssen. Ich atmete, um zu überleben, aber ich roch nichts mehr. Riechen, schmecken, fühlen, das schien mir unangebracht, zu elitär, zu nobel für einen Ort wie Auschwitz. Man geht ja auch auf keine Bahnhofstoilette, um zu riechen. Die menschlichen Sinne sind Luxus, sie machen das Leben erst betörend und intensiv, etwa wenn man den Duft seines Liebsten wahrnimmt, während er einem ein Kompliment ins Ohr säuselt, wenn man sich das Essen in einem guten Restaurant auf der Zunge zergehen lässt oder wenn der Vater einem als Kind über den Kopf streicht. Nur welcher Gefangene wollte Auschwitz noch intensiver erleben, als er es ohnehin musste?
Etwa ein Jahr nach meiner Befreiung, im Sommer 1946, kam mein Geruchssinn wieder. Ich war inzwischen bei Onkel Philip in Budapest untergekommen. Noch immer plagten mich Zahnschmerzen, mit denen ich mich seit Auschwitz herumärgerte und die nicht besser geworden waren. Offenbar waren sie auf meine Mangelernährung zurückzuführen gewesen. Philip hatte genug von meinem Gejammer, gab mir Geld und schickte mich zum Zahnarzt. Der Arzt fing an zu bohren und er bohrte tief. Und wenig später bohrte er in den Knochen meines Unterkiefers. Die Nervenbahnen in Knochen und Zahnfleisch meldeten mir umgehend einen erst stechenden, dann heftig pochenden Schmerz zurück. Ich zuckte zusammen und schrie auf. Ich schreckte vor dem Bohrer zurück und nach dem ersten Schrecken kroch mir ein Geruch in die Nase, der mir allzu bekannt vorkam. Ein angebohrter, angekokelter menschlicher Knochen entwickelt einen übelerregenden, eigenartig süßlichen Geruch, der mich stark an verbrannte Hähnchenknochen erinnerte.
Ich musste nicht lange überlegen, woher ich ihn kannte. Ein Geruch, den ich seit Kriegsende mit allen Sinnen unterdrückt hatte und der jetzt wieder da war. Mit einem Schlag. Der Geruch meines angebohrten Kieferknochens erinnerte mich an den Geruch, der in Auschwitz aus den Schornsteinen kroch. Ein Geruch, der nur dadurch zu erklären war, dass man mit Gas gefüllte menschliche Körper in Hochleistungsöfen hunderttausendfach und im Akkord verbrannte und als Asche auf einen ganzen Landstrich regnen ließ. Auschwitz-Experten sagen, Asche ist grundsätzlich geruchlos, nicht aber die Gase, aus denen der menschliche Körper zu großen Teilen besteht,1 und die bei der Verbrennung freigesetzt werden. In Auschwitz kam mit Zyklon B noch ein weiteres Gas, ein Giftgas, hinzu. Wenn man es also genau nimmt, sorgte dieses einzigartige Gemisch für die Freisetzung dieses ekelerregenden süßlichen Geruchs im Lager, den man, einmal gerochen, nie wieder aus der Nase bekam. Ein Geruch aus Teufels Küche, den es so nur einmal in der Geschichte der Menschheit gegeben hat, im besetzten Polen zwischen Anfang September 1941 und Mitte Januar 1945. Viele Jahre später hat mir die Auschwitz-Überlebende Judith Leffler-Kohn erzählt, die wie ich zu den 750 Duderstadt-Arbeiterinnen gehörte und mit mir in Theresienstadt befreit wurde, dass sie bis heute immer ein Parfumspray in ihrer Handtasche mit sich herumträgt, aus Angst davor, den Auschwitz-Tod noch einmal riechen zu müssen – so wie ich 1946 in Budapest.
Der Angstschweiß stand mir unmittelbar auf der Stirn. Der Zahnarzt, der wahrscheinlich lange keinen derartig verängstigten Patienten mehr vor sich auf dem Stuhl sitzen hatte, wollte mich beruhigen und versuchte, mich in den Arm zu nehmen. Ich stieß ihn mit beiden Füßen von mir und rannte hysterisch aus seiner Praxis. Ein Jahr nach meiner Befreiung waren meine betäubten Gefühle und ich das erste Mal wieder nach Auschwitz zurückgekehrt.
1 Die fünf gasförmigen Stoffe Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Chlor und Fluor.