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Kein noch so kläglicher Strahl Tageslicht drang in den Kerker, der zum verzweigten System unterirdischer Gewölbe auf der Ile de la Cité* gehörte. Und ob Winter oder Sommer, das dicke Mauerwerk der Königsburg, das tief in den Inselgrund reichte, blieb stets unverändert kalt und feucht. Auch der stechende Geruch von Moder, heißem Pech, Fäkalien, Ruß und Schweiß hielt sich zu allen Zeiten an diesem düsteren Ort, als hätte sich das Gestein bis ans Ende aller Tage damit vollgesogen. Denn die Reihe der Unglücklichen, die in diesen Kerker zur Tortur verschleppt und von erfahrenen Folterknechten gequält wurden, riss nie ab, egal wer in den Jahrhunderten seit der Errichtung der Inselfestung in Paris regierte. Rupin Turville, der in dieser Spätsommernacht des Jahres 1306 der Tortur unterzogen wurde, war nur einer in jener schier endlosen Kette von Opfern vor ihm und nach ihm.

Das schauerliche Verließ war ein lang gestrecktes Kellergewölbe mit mehreren tiefen Mauernischen und lag halb in Dunkelheit getaucht. Die hohen Wände aus dicken, roh behauenen Steinquadern warfen ihre schwarzen Schatten gnädig über einen Großteil der entsetzlichen Folterinstrumente, mit denen die Kammer reichlich ausgestattet war. Denn von den acht Pechfackeln, die in den Ecken und Nischen der Folterkammer aus schweren, spiralförmigen Eisenbändern ragten, brannte nur eine einzige. Es war die Fackel schräg oberhalb der Streckbank und ihre gelbliche, blakende Flamme tanzte unruhig hin und her. Mal wich sie wie entsetzt zurück und leckte über das rußgeschwärzte Gestein der Kerkerwand, mal bog sie sich mit breit lodernder Feuersbrunst nach vorn, als bäumte sie sich auf, um sich dann im nächsten Moment zu ducken wie unter unsichtbaren Schlägen.

Es war ein wirrer Flammentanz und er schien den qualvollen Zuckungen des ausgemergelten, schwarzbärtigen Mannes namens Rupin Turville zu folgen, der mit zerfetzten Kleidern und zum Reißen gespannten Gliedern auf das Gitter der Streckbank gebunden lag. Doch die Flamme hatte so wenig Mitgefühl mit den Leiden des Gefolterten wie der hohlwangige Folterknecht, der zu einer Eisenzange gegriffen hatte und sich nun damit am Becken mit den glühenden Kohlen zu schaffen machte. Und den beiden vornehm gekleideten Männern, die mit einigen Schritten Abstand der unbarmherzigen Tortur mit unbewegter Miene beiwohnten, war Mitleid schon von Natur aus so fremd wie einem Herz aus Stein. Nichts weiter als die Zugluft des nahen Luftschachtes war für den unruhig flackernden Feuerschein verantwortlich, der über den fast nackten, schweißüberströmten Körper des Gequälten fiel.

Der von exzessiver Trunksucht schwer gezeichnete Mann auf der Streckbank erwies sich jedoch als überraschend zäh, wie Sjadú insgeheim zugeben musste. Viel zäher, als er für möglich gehalten hatte. Obwohl der Bursche längst dem billigsten Fusel haltlos verfallen war und den Dreck der Gosse sein Zuhause nannte, so steckte in diesem Rupin Turville offenbar noch immer ein Rest jenes überragenden Templerstolzes und jener unerschütterlichen Todesverachtung, die man den Kriegermönchen dieses mächtigen Ritterordens bekanntlich nachsagte. Kein vornehmes Geschlecht, das sich nicht der Ehre rühmte, wenn einer der Ihrigen die begehrte Clamys trug, den weißen Mantel mit dem blutroten, achtspitzigen Tatzenkreuz der Templer. Und auch Rupin Turville hatte vor vielen Jahren einmal jenen weißen Mantel der Tempelritter getragen.

Doch seine glanzvolle Ritterzeit lag mehr als ein Jahrzehnt zurück. Sie hatte mit seinem Ausstoß aus dem Orden geendet, weil er bei einem wüsten Zechgelage von hinten über einen jungen Sergeanten* hergefallen war und diesen wegen einer spöttischen Bemerkung mit einem Steinkrug totgeschlagen hatte.

Ja, Rupin Turville hatte trotz seines langen Abstiegs in die Gosse wahrhaftig noch einen Rest Templerstolz in sich bewahrt und bäumte sich mit aller Willenskraft gegen das Unabänderliche auf! Aber an dem Schicksal, das er, Sjadú, der erhabene Erste Knecht des Schwarzen Fürsten, seinem Opfer vorbestimmt hatte, würde das nicht das Geringste ändern.

Im Gegenteil, sagte Sjadú sich im Stillen, ein wenig Widerstand machte das Ganze am Ende nur noch glaubwürdiger, und allein darauf kam es letztlich an. Wilhelm von Nogaret, die hagere Gestalt an seiner Seite, musste diesen Köder schlucken. Zu viel hing davon ab, nicht zuletzt sein eigenes Schicksal, als dass sein Plan scheitern durfte! Nogaret musste anbeißen!

Wilhelm von Nogaret war zurzeit der wohl einflussreichste Berater des französischen Königs. Ein von allen gefürchteter Mann, der nicht die geringsten Skrupel kannte und den es nach noch mehr Macht gelüstete. Er schreckte vor keinem noch so abscheulichen Komplott zurück, wenn es nur seinem König und ihm Nutzen brachte. Sein fanatischer Eifer für Philipp IV. kannte keine Grenzen.

Zudem brannte in diesem königlichen Rat ein abgrundtiefer Kirchenhass, wie Sjadú ihn sich stärker gar nicht hätte wünschen können. Es hielt sich das Gerücht, er sei der Sohn von Katharer*-Eltern. Das würde einiges erklären, zumindest weshalb er einen solch flammenden Hass auf die Kirchenoberen hegte und für seinen nicht weniger berechnenden König zu jeder Schandtat bereit war. Denn beides hatte er hinreichend unter Beweis gestellt!

Als König Philipp, auch »Philipp der Schöne« genannt, vor Jahren mit dem damaligen Papst Bonifazius VIII. in erbittertem Streit lag, hatte Nogaret die Fehde höchstpersönlich und sehr direkt für seinen gekrönten Herrn geregelt – indem er nämlich kurzerhand in das Schlafgemach des vierundachtzigjährigen Papstes eingedrungen war und dem alten Mann derart übel mit Fausthieben zugesetzt hatte, dass dieser wenig später an den Folgen dieses Attentates gestorben war. Und dass dessen Nachfolger ihm schon nach nur sieben Monaten auf dem Heiligen Stuhl ins Grab gefolgt war, sollte auch auf Nogarets Konto gehen. Es hieß, er habe dem neuen Papst, der dem König von Frankreich so ungelegen gewesen war wie zuvor Papst Bonifazius, vergiftete Feigen servieren lassen.

Und diese Skrupellosigkeit, die Wilhelm von Nogaret auszeichnete und die ihn nicht einmal vor dem Stellvertreter Christi auf Erden zurückschrecken ließ, machte ihn zu genau dem richtigen Mann, den er, Sjadú, brauchte, um endlich über die geheime Bruderschaft der Gralsritter zu triumphieren und in den Besitz des heiligen Kelchs zu gelangen. Denn das Große Werk, die Zerstörung des Heiligen Grals, wartete darauf, in der schwarzen Abtei der Judasjünger vollzogen zu werden, auf dass der Fürst der Finsternis seine Alleinherrschaft auf Erden antreten und von Nacht zu ewiger Nacht über die Menschheit reagieren konnte!

Wenn erst der Heilige Gral, der Kelch des letzten Abendmahls Jesu mit seinen Jüngern, der Bruderschaft entrissen war, dann könnte das Große Werk vollbracht werden. Dann würde es niemand mehr wagen, ihm seine ranghöchste Stellung unter den Judasjüngern streitig zu machen. Und als erhabener Erster Knecht, der als Einziger vom Atem des Schwarzen Fürsten der Finsternis getrunken hatte, auf dass sein Leben sich nun nicht mehr in Jahrzehnten, sondern in Jahrhunderten bemaß, würde seine Macht größer sein als die von einem Dutzend Königen!

Noch war das ehrgeizige Ziel nicht erreicht, aber es war endlich zum Greifen nahe gerückt! Nach der schändlichen Niederlage, die ihm die Gralsritter im Herbst 1291 nach dem Fall von Akkon* zugefügt hatten und die fast sein Schicksal besiegelt hätte, hatte er sich für viele bitterlange Jahre zu eiserner Geduld und Selbstbeherrschung gezwungen, damit sein teuflischer Plan zur Vernichtung der Gralsritter reifen und sich entwickeln konnte. Mit großer Raffinesse hatte er sich unter dem Namen Jean-Mathieu von Carsonnac eine falsche Identität zugelegt und ein altes, reiches Adelsgeschlecht erfunden, dessen Stammbaum angeblich im fernen Zypern wurzelte und auch einer kritischen Nachprüfung standhielt. In dieser Zeit hatte er nicht nur ein wahres Vermögen für ein standesgemäßes Anwesen und ein herrschaftliches Leben vor den Toren von Paris ausgegeben, sondern fast noch einmal so viel Gold verschwendet, um zum Hofe König Philipp des Schönen Zugang zu erlangen und sich allmählich das Vertrauen des königlichen Rats Wilhelm von Nogaret zu erschleichen. Und nun, anderthalb Jahrzehnte nachdem er sich angstschlotternd vor dem Thron des Schwarzen Fürsten zu Boden geworfen, sein Versagen eingestanden und nur dank seines genial perfiden Einfalls noch einmal Gnade vor seinem Gebieter gefunden hatte, nun rückte sein heimtückischer Plan in die entscheidende Phase!

Sjadú nickte dem Folterknecht knapp zu, als dieser die Eisenzange aus der Glut des Kohlenbeckens zog und ihm einen fragenden Blick über die Streckbank hinweg zuwarf.

»Fang unten mit den Fußsohlen an!«, befahl er ihm. »Er soll einen Vorgeschmack von dem bekommen, was ihn erwartet, wenn er sich weiterhin uneinsichtig und störrisch zeigt.«

Wilhelm von Nogaret verzog keine Miene. Der schmale, dünnlippige Mund in dem wie gemeißelt wirkenden, scharfkantigen Gesicht verlor ebenso wenig seinen mitleidlosen, harten Ausdruck wie seine kalten Augen. Er zupfte jetzt jedoch das parfümierte Spitzentuch, das er in weiser Voraussicht in den Kerker mitgebracht hatte, aus dem weiten Ärmel seiner Brokatjacke und führte es unter die scharf gekrümmte Nase. Er war nur zu gut mit den Abläufen der Folter vertraut und wusste, was jetzt kam.

Der gellende Schrei des einstigen Templers ging in ein abgehacktes Wimmern über, als der Folterknecht schließlich von ihm abließ und die Eisenzange mit der gezackten Greifklaue am vorderen Ende wieder zurück in die Glut des Kohlenbeckens stieß.

»Allmächtiger, stehe mir bei!«, flehte Rupin Turville mit erstickter Stimme und verdrehte den Kopf, um Sjadú und Wilhelm von Nogaret in sein Blickfeld zu bekommen. »Warum lasst . . . Ihr . . . mich foltern, Ihr vornehmen Herren? . . . Wer seid Ihr, dass Ihr mich in den Kerker . . . des König verschleppt habt? . . . Was habe ich . . . ein armseliges Nichts der Straße . . . Euch bloß getan? . . . In Christi Namen . . . was wollt Ihr nur von mir?«

»Die Wahrheit!«, gab Sjadú kalt zur Antwort.

Wilhelm von Nogaret gab einen Seufzer von sich, der eine Spur von Enttäuschung und auch Langeweile in sich trug. »Mir scheint, der Bursche wird die Erwartungen nicht erfüllen, die Ihr in mir geweckt habt, Jean-Mathieu.« Er seufzte erneut. »Bedauerlich! In der Tat, sehr bedauerlich, mein Bester. Ich hegte schon die Hoffnung, Ihr könntet die Lösung für so manch drückendes Problem liefern, das mich und Seine Majestät seit Langem umtreibt.«

»Wartet!«, rief Sjadú, innerlich aufs Höchste alarmiert. Er fürchtete, das Interesse jenes Mannes zu verlieren, auf den der König hörte wie auf keinen anderen. Wenn das geschah, wurde nicht nur sein Plan zunichtegemacht, sondern dann war auch er verloren. Der Fürst der Finsternis würde ihm keine weitere Chance zubilligen und einen anderen zu seinem erhabenen Ersten Knecht ernennen. Nicht einmal auf das Labyrinth der Sühne, diese grausame Strafe, durfte er dann noch hoffen. Nein, erbarmungslos vernichten würde ihn sein Gebieter, mit einem feurigen Atemstoß von der schwindelerregenden Plattform seines Thrones fegen und ihn hinab in den fürchterlichen Gebeineschlund der Verfemten schleudern! »Habt noch einen Moment Geduld. Ich versichere, dass Ihr es nicht bereuen werdet! Lasst es mich mit guter Zurede versuchen, damit diese sündige Seele zur nötigen Einsicht gelangt und auf den Weg der Läuterung zurückfindet.«

Wilhelm von Nogaret zögerte kurz, nickte aber dann großmütig und ein wenig herablassend, als gewährte er ihm eine übergroße Gunst. »Nur zu, versucht Euer Glück. Einige Minuten länger werden meine anderen Staatsgeschäfte wohl noch warten können.«

Ein falsches Lächeln trat auf das Gesicht des ranghöchsten Judasjüngers, das sich durch makellose Ebenmäßigkeit und Schönheit auszeichnete und damit die perfekte Maske für das abgrundtief Böse war, das sich dahinter verbarg.

»Ich weiß Eure Großzügigkeit zu schätzen. Seid einmal mehr versichert, dass nicht nur Seine Majestät weiß, was er an Euch hat«, sagte Sjadú schmeichelnd und trat dann zu dem Unglücklichen auf dem Gitter der Streckbank. »Und nun zu dir, Rupin Turville!« Der einstige Ordensritter sah mit blutunterlaufenen Augen und flehendem Blick zu ihm auf. »Bei der Jungfrau Maria, allen Heiligen und der heilbringenden Auferstehung unseres . . .«, begann er mit brechender Stimme.

»Schweig!«, fuhr ihm Sjadú sofort ins Wort, gab seiner Stimme jedoch schon im nächsten Moment einen sanften, scheinbar besorgten Klang, als er fortfuhr: »Mein Sohn, wir sind in Sorge um dein ewiges Seelenheil. Schrecken dich nicht die vielfältigen Qualen der Hölle, die einen reuelosen Sünder ob seiner abscheulichen Verfehlungen mit Sicherheit erwarten? Willst du nicht endlich dein Gewissen reinigen? Hier und jetzt tätige Reue durch das gottgefällige Geständnis der Wahrheit üben, so schrecklich sie auch sein mag, und damit deine Seele vor den endlosen Torturen des Fegefeuers bewahren? Du musst es einfach wollen, wenn du deine unsterbliche Seele retten und das ewige Leben im Himmel gewinnen willst! Ich weiß, dass du es willst. Es fehlt dir nur noch der letzte innere Anstoß, um dich von den sklavischen Ketten des Bösen zu befreien und ins reinigende Licht aufrichtiger Reue und Läuterung zu treten! Lass uns deshalb gemeinsam beten, dass sich dein verstocktes Herz dem gnadenreichen Zuruf Gottes öffnet und du reuevoll zurückkehrst auf den Pfad der Redlichen und Wahrhaftigen!«

Sjadú griff nach der gefesselten Rechten des Gefolterten und beugte sich ganz nah über ihn, als wollte er tatsächlich leise mit ihm um Kraft und göttlichen Beistand beten. Doch was er ihm sogleich leise in Ohr zischte, war alles andere als ein frommes Gebet um göttlichen Beistand.

»Rede, Kerl!«, fauchte er ihn so leise an, dass weder der Folterknecht noch Wilhelm von Nogaret etwas davon mitbekam. »Mach endlich dein Maul auf! Wen willst du mit deinem lächerlichen Schweigen beeindrucken? Glaubst du Einfaltspinsel vielleicht, du könntest es mit dem Folterknecht des Königs aufnehmen? Nicht eine Nacht wirst du durchhalten! Früher oder später wirst du reden, das schwöre ich dir! Der Mann dort drüben am Becken versteht sein Handwerk, darauf kannst du Gift nehmen. Er hat noch gar nicht richtig angefangen, dir seine hohe Kunstfertigkeit in der Handhabung der Tortur zu beweisen. Also gestehe endlich und spucke aus, was ich von dir hören will! Aber nicht das übliche Gerede will ich hören, sondern dass du Zeuge dieser schändlichen Zeremonien gewesen bist und selbst daran teilgenommen hast! Du weißt genau, wovon ich spreche. Ich habe dir in der Taverne lang und breit davon erzählt, und sage nicht, du warst da schon zu betrunken, um dich noch darauf besinnen zu können. Und nenne gefälligst Namen, verstanden? Du wirst dich doch an einige deiner einstigen Gefährten und Ordensoberen erinnern können. Wenn du deine Sache gut machst, lasse ich dich laufen! Ich gebe dir das Wort eines Ehrenmannes und schwöre es dir auch beim Kreuz Jesu!« Er lachte bei dieser Beteuerung innerlich höhnisch auf, hatte er für das eine doch so viel Verachtung übrig, wie er das andere aus tiefster Seele hasste und verabscheute. »Du bist zu unbedeutend, um uns nach deinem Geständnis noch länger von Nutzen sein zu können.«

Er machte nach dieser Lüge eine kleine Pause, um dann mit eisiger Stimme die Drohung hinzuzufügen: »Aber wenn du dich weigerst, werde ich dafür sorgen, dass du die Hölle schon hier auf Erden erlebst! Und deine Qual in diesem Kerker wird sich nicht in einigen wenigen Stunden höllischer Schmerzen bemessen, sondern in schier endlosen Tagen und Wochen der Folter, darauf gebe ich dir mein Wort! Man wird dir die Haut bei lebendigem Leib abziehen, dich mit kochendem Pech traktieren, dir Daumenschrauben und den spanischen Stiefel anlegen und dir noch vieles andere mehr antun, wovon du jetzt noch nicht einmal den Schimmer einer Ahnung hast, glaube es mir! Also, wofür entscheidest du dich?«

Damit ließ Sjadú die Hand des Mannes los, richtete sich wieder auf und fragte mit nun wieder lauter, trügerisch teilnahmsvoller Stimme: »Sag, hat dich unser Gebet gestärkt und dir die Kraft zur Wahrheit und seelischen Läuterung geschenkt, Rupin Turville?« Tränen grenzenloser Verzweiflung liefen dem einstigen Tempelritter über das zerfurchte Gesicht. »Ja, mein Herr«, schluchzte er mit kraftloser, stockender Stimme. »Ich . . . ich bin um meines ewigen Seelenheils willen bereit, meine . . . meine zahllosen Sünden zu gestehen und von . . . von abscheulichen Dingen und Geschehnissen zu berichten . . . bei denen ich sowohl Zeuge als . . . als auch Mitwirkender war . . .«

Ein zufriedenes, kaum merkliches Lächeln nistete sich in den Mundwinkeln des Judasjüngers ein. »Nur zu, guter Mann! Befreie deine Seele von der drückenden Last deiner Sünden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass du die Kraft dafür findest – wo du doch nun gestärkt bist von meinem geistigen Beistand!«, erwiderte er mit bösartigem Hohn, der dem königlichen Rat verborgen blieb.

Rupin Turville begann mit stockender Stimme zu reden. Anfänglich klangen seine Anklagen blass und reichlich wirr. Doch je länger er von jenen Geschehnissen berichtete, die Sjadú in Gegenwart des königlichen Beraters hören wollte, desto fester wurde nicht nur seine Stimme, sondern auch seine Geschichte gewann an innerer Festigkeit und die Beschreibung der geheimen Zeremonien wurde immer detaillierter. Er steigerte sich mit jeder Minute. Immer Neues fiel ihm ein, das er noch hinzufügen musste. Und schließlich nannte er die Namen all derjenigen, von denen er wusste, wie er höchst eifrig versicherte, dass sie sich dieser frevelhaften Schandtaten und ungeheuerlichen Gottlosigkeiten schuldig gemacht und andere dazu angehalten hatten.

Im Gesicht des königlichen Rats rührte sich kaum etwas, während es immer flüssiger aus Rupin Turville heraussprudelte. Doch Sjadú entging nicht, dass Wilhelm von Nogaret aufmerksam zuhörte.

Als Rupin Turville schließlich nichts mehr hinzuzufügen wusste und erschöpft schwieg, stellte Wilhelm von Nogaret ihm bezeichnenderweise keine bohrenden Nachfragen, sondern wollte von ihm nur noch eines wissen: »Schwörst du auf die Bibel und beim Heil unseres Erlösers, dass du die Wahrheit gesprochen hast?« Das Gesicht des geschundenen Mannes verzog sich zu einer Grimasse, in der Sjadú unschwer die innere Qual seines Opfers widergespiegelt sah. »Ja, ich schwöre es!«, stieß Rupin Turville schluchzend hervor und die Tränen der Scham über seinen Verrat liefen ihm über das bärtige Gesicht.

Wilhelm von Nogaret verlor augenblicklich das Interesse an dem Unglücklichen. Er wandte sich abrupt ab und gab dabei Sjadú ein knappes Handzeichen, ihm zu folgen. Schweigend verließen sie die Folterkammer und stiegen hinter der Tür die Steintreppe hoch und Sjadú war zu klug, um ihn mit Fragen zu bedrängen. Dabei brannte es ihm auf den Fingernägeln zu erfahren, zu welch gewagten Schritten Nogaret nun bereit war.

Erst als sie das Stockwerk mit der Folterkammer längst hinter sich gelassen hatten und sich schon auf der hell erleuchteten Treppe oberhalb der Kellergewölbe befanden, brach Wilhelm von Nogaret sein Schweigen. Er blieb plötzlich auf einem Treppenabsatz stehen, legte Sjadú seine Rechte vertraulich auf die Schulter und bedachte ihn mit einem anerkennenden Lächeln.

»Ich habe schon seit Langem gewusst, dass Ihr ein Mann nach meinem Geschmack seid und dass Euer Geist jene seltene eisige Schärfe besitzt, die zu kühnen Unternehmen befähigt. Und nun habt Ihr mich von Eurer gewagten Idee restlos überzeugt, Jean-Mathieu«, sagte er und in seinen Augen brannte jenes fanatische Feuer, das stets in ihm aufflammte, wenn es um ein Komplott zugunsten seines Königs ging. »Mir scheint, dass jetzt der passende Zeitpunkt gekommen ist, Seine Majestät und nur ihn allein von Euren faszinierenden Überlegungen in Kenntnis zu setzen. Nach den turbulenten Ereignissen der letzten Wochen dürfte er für derartige Anregungen in empfänglicher Stimmung sein.« Ein feines Lächeln umspielte seinen dünnlippigen Mund. »Und wer könnte Eure betörend scharfsinnigen Gedanken besser vortragen als Ihr selbst?«

Sjadú wusste, dass es Wilhelm von Nogaret in Wirklichkeit darum ging, sich beim König nicht in die Nesseln zu setzen. Dessen Stimmung wechselte nämlich häufig und schnell von einem Extrem ins andere. Und wie Philipp der Schöne auf das, was sein königlicher Rat ihm vortragen und anraten wollte, reagieren würde, war nicht abzuschätzen.

Aber all das kümmerte Sjadú nicht. Und im Notfall standen ihm zu seinem Schutz dunkle, erschreckende Mächte zur Verfügung, von denen nur die verfluchten Gralsritter wussten. Nein, was allein zählte, war, dass der König ihn anhören würde. Fünfzehn Jahre hatte er auf diesen Tag hingearbeitet. Und nun war es so weit! Nogaret verschaffte ihm die Unterredung mit dem König von Frankreich, aber nicht in Hörweite seines schwatzsüchtigen und intriganten Hofstaates, sondern es würde ein geheimes Gespräch sein. Und wenn alles nach Plan verlief, würde sich eine Sturmflut unvorstellbaren Ausmaßes erheben und für immer die Welt verändern – und zwar von Nacht zu ewiger Nacht!

* Insel inmitten der Seine, im Herzen von Paris, auf der sich die Kathedrale Notre-Dame erhebt. Im Mittelalter war die Flussinsel auch Ort der Königsburg. Dieses Palais de la Cité war eine weitläufige Anlage mit zahlreichen Gebäudetrakten, Festungstürmen, Söllern, Zinnen und Verließen.

* Männer, die zwar zum Orden gehörten und nicht weniger überragende Krieger waren, aber wegen ihrer niederen, nicht ritterbürtigen Abstammung nicht Tempelritter werden konnten.

* Mittelalterliche Sekte, die von der Inquisition verfolgt wurde.

* Mächtige Kreuzritterfestung und Hafenstadt mit 40.000 Einwohnern im Heiligen Land, die im Jahre 1291 nach mehrwöchiger Belagerung vom übermächtigen Heer der muslimischen Mamelukenstreitkräfte eingenommen wurde und endgültig den Untergang des Kreuzritterreiches in Palästina markierte. Siehe auch Band 1 der Trilogie »Der Fall von Akkon« sowie Band 2 »Das Amulett der Wüstenkrieger«.