Über Paris hing noch das tiefschwarze Tuch der Nacht, als Tarik el-Kharim den Versuch aufgab, vor der Laudes* noch ein wenig Schlaf zu finden. Es brachte nichts, dass er sich auf seinem harten Lager weiterhin rastlos von einer Seite auf die andere wälzte. Die Unruhe in ihm war einfach zu stark, als dass er zurück in den Schlaf finden konnte, denn seine Gedanken fanden keine Ruhe und hielten ihn wach. Unablässig beschäftigten sie sich damit, wie er die Herausforderung, die ihn beim Aufstehen an seinem Stehpult vor dem Fenster wieder erwartete, bloß meistern sollte. Aber alles war besser, als sich ruhelos hin- und herzudrehen. Und so warf er die Decke zurück, schwang sich mit einem Ruck aus dem Bett und fuhr in sein Obergewand.
Schnell hatte er der Glut im Kamin Flammen entlockt, einige dicke Scheite aufgelegt und die dicke Wachskerze auf seinem Stehpult entzündet, die nun ihr helles Licht über seine Schreibecke am Fenster warf. Pergamente, Tintenfass, Federkiele sowie Streusand standen bereit zur Arbeit, die er sich auferlegt hatte. Und rechts oben auf der schrägen Platte des Pultes lag aufgeschlagen das heilige Buch der Muslime, der Koran. Nun wartete die neunte Sure darauf, dass er für das Arabische die richtige französische Übersetzung fand, und obwohl er als Levantiner im Heiligen Land mit dem Arabischen quasi als zweite Muttersprache aufgewachsen war und das Französische nicht weniger perfekt beherrschte, fiel ihm die Arbeit mit jedem Tag schwerer, als in eine Schlacht gegen einen übermächtigen Gegner zu ziehen. Vor mehr als einem halben Jahr hatte er sich entschlossen, den Koran zu übersetzen. Nur wenige wussten von diesem gewagten Unternehmen, eigentlich nur eine Handvoll, nämlich Gerolt, Maurice, McIvor und Antoine von Saint-Armand. Und während Antoine daran nichts Verwerfliches hatte finden können, solange Tarik darüber strengstes Stillschweigen bewahrte, waren seine Freunde alles andere als angetan von seinem Vorhaben gewesen.
Besonders Gerolt und der stets hitzköpfige Maurice hatten sich darüber empört, dass er dem heiligen Buch der ungläubigen Muslime, die sie, die Christen, seit Jahrhunderten bis aufs Blut bekämpften, so viel Ehre erweisen wollte. Tarik erinnerte sich noch genau an den heftigen Wortwechsel, den es damals hier in seinem Zimmer darüber gegeben hatte.
»Hast du vergessen, wie viel Christenblut unter ihren Schwertern, Lanzen und Streitäxten in den letzten Jahrhunderten geflossen ist und dass sie uns aus dem Heiligen Land, der Heimat unseres Erlösers, vertrieben haben?«, hatte Maurice ihm erregt vorgeworfen. »Und zum Dank dafür willst du ihnen einen französischen Koran schenken? Du musst nicht recht bei Sinnen sein, Tarik!«
»Ich will nicht den Muslimen einen französischen Koran schenken, sondern dafür sorgen, dass auch diejenigen, die des Arabischen oder des Lateinischen nicht mächtig sind, sich ein genaueres Bild von der Lehre des Propheten Mohammed machen können. Denn am Anfang aller Katastrophen steht immer ein Mangel an Wissen und Nachdenken!«, hatte er seinem Freund kühl erwidert. »Das Eigene für kostbar zu erachten und es mit allen Kräften zu schützen und zu bewahren, schließt doch nicht aus, dass man sich auch mit dem Fremden beschäftigt und sich bestens darin auskennt. Denn erst dann kann man doch das Fremde verstehen und aus diesem Wissen für das Eigene Nutzen ziehen!«
»Unsinn!«, hatte Maurice hervorgestoßen und dabei eine wegwischende Handbewegung gemacht.
Er, Tarik, war in seiner Begründung jedoch unbeirrt fortgefahren: »Und was eine dieser gerade von mir erwähnten Katastrophen betrifft, nämlich unsere Vertreibung aus dem Heiligen Land, so haben wir ja als Kriegermönche, die mit den Gesetzen des Krieges nur zu gut vertraut sind, wohl kaum erwarten können, dass die Muslime unsere Kreuzzüge einfach tatenlos hinnehmen. Zudem wäre es wohl nicht zum Verlust des Königreichs gekommen, wenn sich alle Ritterorden damals einig gewesen wären und mit vereinter Friedens- wie Kriegspolitik gegen die Mameluken zusammengestanden hätten. Stattdessen haben sie alle ohne Ausnahme, die Johanniter wie die Deutschritter und auch unser Orden, ihr eigenes Süppchen kochen wollen und waren sich gegenseitig spinnefeind. Kein Wunder, dass wir letztlich den Kürzeren gezogen haben. Außerdem . . .«
»Nur mal langsam!«, hatte ihn Gerolt unterbrochen. »Du hast wohl vergessen, dass die Muslime schon Jahrhunderte vor dem ersten Kreuzzug über die damals christlichen Länder im Orient hergefallen sind! Auf ihren blutigen Eroberungszügen sind sie bis nach Griechenland und Italien eingefallen und schließlich sogar bis tief in Frankreich eingedrungen. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, war das im achten Jahrhundert, mein Freund! So sehen die historischen Tatsachen aus! Und erst als die Muslime es christlichen Pilgern immer schwerer machten, Jerusalem und die anderen heiligen Stätten aufzusuchen, und sie zu vielfältigen Arten der Unterdrückung griffen, um auch noch den letzten christlichen Gemeinden das Leben schwer zu machen, erst da erging im elften Jahrhundert der Aufruf zum ersten Kreuzzug!«
Maurice hatte da sofort nachdrücklich genickt. »Jawohl, so und nicht anders ist es gewesen! Und du scheinst auch vergessen zu haben, dass die Mauren noch immer einen Gutteil der spanischen Halbinsel besetzt halten und wir uns dort im Zuge der Reconquista* erbitterte Gefechte mit den Muslimen geliefert haben! Und zum Dank dafür willst du jetzt hier monatelang über den Koran gebeugt hocken und ihn ins Französische übertragen? Bei allem, was recht ist, aber manch einer würde das ganz anders nennen – nämlich Verrat am Christentum, ja Ketzerei!«
Bei diesen harten Worten war Tarik blass geworden. Er hatte das Gefühl gehabt, als hätte ihm Maurice damit die Freundschaft aufgekündigt. Und das hatte ihn mehr geschmerzt, als wenn Maurice ihm einen Fausthieb versetzt hätte.
»Nun halt mal die Luft an, Maurice!« McIvor hatte sofort für Tarik Partei ergriffen. »Richtig schmecken tut es mir auch nicht, was Tarik da vorhat, das will ich freimütig zugeben. Aber ich bin sicher, dass er dafür überaus redliche Gründe hat und dass sein fester Glaube über alle Zweifel erhaben ist, meine Freunde! Ihn also der schwächlichen Nachsicht gegenüber den Muslimen oder gar der Ketzerei, des Verrats an unserem Glauben zu verdächtigen, dürfte sogar einem verdammten Hitzkopf wie dir niemals über die Lippen kommen! Dafür wirst du dich bei ihm entschuldigen – und zwar auf der Stelle!«
Dazu war Maurice nicht bereit gewesen. Er hatte sich darauf versteift, doch nur das gesagt zu haben, was andere Ordensbrüder Tarik vorgeworfen hätten, wenn sie von seiner heimlichen Arbeit Wind bekämen. Gerolt hatte ihm beigepflichtet. Und das wiederum hatte McIvor noch mehr erbost, sodass es zu einem regelrechten Streit zwischen ihnen gekommen war.
Antoine hatte später zu schlichten versucht, um wieder ein kameradschaftliches Einvernehmen zwischen ihnen herzustellen. Aber so ganz geglückt war es ihm nicht. Und damit sich die Gemüter erst einmal abkühlten, hatte Antoine dafür gesorgt, dass jeder von ihnen für eine Weile eigene Wege ging. Und seitdem hatte Tarik seine Freunde, mit denen er in den vergangenen fünfzehn Jahren unzählige Gefahren bestanden und fröhliche Feste gefeiert hatte, nicht wiedergesehen. Sie fehlten ihm, mehr als er jemals für möglich gehalten hätte. Und er fragte sich nun, ob vielleicht auch eine gute Portion Ärger bei Maurice mit im Spiel war, weil überraschenderweise er, Tarik, es gewesen war, den Antoine von Saint-Armand unter ihnen als seine rechte Hand ausgewählt hatte. Er hatte sich wahrlich nicht danach gedrängt und das war wohl auch offensichtlich gewesen. Aber dennoch . . .
Ein schwerer Stoßseufzer entrang sich seiner Brust, als er sich nun dazu zwang, nicht länger zu grübeln, sondern sich auf die vor ihm liegende Arbeit zu konzentrieren. Es fiel ihm schwer, auch weil ihm die Suren mit jedem Tag mehr Kopfzerbrechen bereiteten. Je mehr er sich mit dem Koran beschäftigte, desto zwiespältiger stand er ihm gegenüber. Denn einerseits bewunderte er die Sprachfülle, die vielfältigen Aufrufe zu Milde, Gnade und gerechtem Tun sowie den großen Reichtum an Weisheit in diesem Buch, das der Prophet Mohammed gute sechs Jahrhunderte nach Christi Tod formuliert hatte und in dem auch Jesus selbst sowie Abraham, Mose, Maria und andere, die jedem guten Christen teuer waren, einen ehrenvollen Platz erhalten hatten. Aber andererseits stieß er vielerorts im Koran auf Schriftstellen, die rücksichtslose Gewalt gegenüber Andersgläubigen predigten. Im Unterschied zu Mohammed, der oft genug selbst zum Schwert gegriffen und blutige Kriege geführt hatte, hatte Jesus, der Erlöser, niemals zu Gewalt aufgerufen, im Gegenteil. Und doch war der Koran, so zwiespältig Tarik ihm auch gegenüberstand, ein faszinierendes und kraftvolles Buch.
Er griff zur Feder und fragte sich plötzlich, aber wahrlich nicht zum ersten Mal, wie es überhaupt dazu hatte kommen können, dass im Namen Jesu und des Kreuzes dennoch so viele Kriege geführt worden waren – und er sich davon hatte anstecken lassen und selbst zum Kriegermönch geworden war. Und sofort fiel ihm wieder ein, was der alte Abbé Villard einst zu ihnen, den vier neu berufenen Gralshütern, voller Bedauern gesagt hatte. Die Worte hatten sich ihm damals unvergesslich eingeprägt und saßen wie ein Dorn in seiner Seele:
»Es ist eine der großen Tragödien der Menschheit, dass sich Juden, Christen und Muslims gegenseitig bekämpfen, statt zu begreifen, dass sie alle doch denselben Gott anbeten. Und sie sollten sich besser darauf besinnen, wie viel sie miteinander verbindet, als ihre vergleichsweise geringen Unterschiede zu betonen, die größtenteils kulturell bedingt sind. Immerhin gilt Jesus den Muslims als ein bedeutender Prophet. Auch Maria, Mose und Abraham nehmen in der Lehre der Korangläubigen eine herausragende Rolle ein. Der Hass zwischen den Religionen ist daher eine beklagenswerte Tragik und hat nichts mit Gott zu tun, sondern einzig mit Verblendung, irdischen Machtgelüsten auf beiden Seiten und gegenseitigem kulturellem Unverständnis.«
Wie wahr diese Worte des Abbé doch waren! Hass war wie ein fruchtbarer Schoss, er gebar nur immer neuen Hass. Und er überdauerte Jahrhunderte, wie die Geschichte lehrte, ohne dass die Menschheit daraus lernte. Er blendete Generation um Generation und überzog die Welt mit fanatischer Wut und Vernichtung. Wann nur würden die Menschen endlich begreifen, wie sinnlos und unmenschlich dieses gegenseitige Verteufeln und Zerfleischen war? War denn die Welt nicht groß genug, dass alle in Frieden leben konnten, wenn auch vielleicht nicht immer miteinander, so aber zumindest doch nebeneinander und ohne Blutvergießen?
Tarik seufzte erneut, weil er zwar das Dilemma längst erkannt hatte, in welchem er sowohl als Templer wie als Gralsritter steckte, aber nicht wusste, wie er es lösen konnte, ohne seinem Gelübde und seinem heiligen Amt untreu zu werden. Er tröstete sich wieder einmal mit der Zuversicht, dass Gott ihm eines Tages die Augen für die Antwort auf diese Frage öffnen würde. Dann tunkte er die Federspitze in das Tintenfass und begann damit, über die richtige französische Entsprechung für den Anfang der neunten Sure zu sinnieren.
Er versank dermaßen in der Welt des Korans, dass er gar nicht mitbekam, wie schnell die Zeit dabei verstrich. Erst als von jenseits der hohen Umfassungsmauern des weiträumigen Templerbezirks herrische Stimmen, ein lautes Hämmern gegen die Bohlen des doppelflügeligen Haupttores vor der Zugbrücke sowie das Klirren von Waffen zu ihm in die Kammer drangen, blickte er von seinen Papieren auf. Im Osten dämmerte schon der neue Tag herauf, doch über dem Templerviertel und der Stadt lag noch trügerische Ruhe.
Sein erster Gedanke galt der Laudes, zu der gleich die Kirchenglocke rufen musste. Dann jedoch trieb ihn die Neugier ans Fenster. Er öffnete es und beugte sich weit hinaus, um in Erfahrung zu bringen, was der Lärm zu dieser frühen Morgenstunde zu bedeuten hatte und wer da Einlass verlangte. Von seinem Fenster aus hatte er jedoch ein nur sehr begrenztes Blickfeld, das nicht bis zum Haupttor reichte. Doch dann sah er einen Trupp Fußsoldaten, der im Eilschritt auf die mächtige Ordensburg mit ihren vier hohen Rundtürmen an den Außenkanten und den beiden etwas schlankeren und kleineren Türmen vor dem Portal zuhielt.
Es waren zweifellos Soldaten des Königs, wie Tarik unschwer erkennen konnte. Und nachdem Philipp der Schöne erst vor wenigen Monaten zu den Templern geflohen war und sich bei dem Aufstand gegen ihn ihrer Loyalität und tatkräftigen Hilfe hatte versichern können, kam ihm erst gar nicht der Gedanke, dass ihr Erscheinen Ungutes bedeuten könnte. Und mit einem Achselzucken schloss er das Fenster wieder und kehrte hinter sein Schreibpult zurück.
Er hatte jedoch kaum den Satz beendet, den er vor der Unterbrechung begonnen hatte, als lautes Stiefelgepolter, wüste Flüche und scharfe Kommandos durch den Treppenaufgang der Ordensburg schallten.
Sofort trieb es Tarik, nun doch beunruhigt, hinaus auf den breiten Gang. Dort lief er Antoine von Saint-Armand in die Arme. »Wisst Ihr, was dieser Aufruhr zu bedeuten hat?«, rief er ihm zu.
Der alte Gralshüter, der mit seinem grauen Bart und Haupthaar eine gewisse Ähnlichkeit mit Abbé Villard besaß, war bleich wie eine frisch gekalkte Wand.
»Der König hat seine Soldaten geschickt, um uns Templer verhaften zu lassen!«, stieß Antoine hervor. »Jeden von uns, ohne Ausnahme! Und nicht nur hier in Paris, sondern in ganz Frankreich und auch in allen anderen Ländern!«
»Unmöglich!«, rief Tarik. »Ihr müsst da etwas falsch verstanden haben!«
»Ich wünschte, es wäre so!«, gab Antoine zur Antwort. »Doch ich habe es mit eigenen Ohren gehört, als der königliche Rat und neue Siegelbewahrer, Wilhelm von Nogaret, soeben die Order des Königs im Angesicht unseres Großmeister Jacques von Molay verlesen hat!«
Sprachlos sah Tarik ihn an.
»Wir werden der Ketzerei, der Götzenanbetung und noch anderer entsetzlicher Verbrechen beschuldigt, die ich gar nicht auszusprechen wage! Papst und König wollen uns der Inquisition überantworten!«
»Wir und Ketzer und Götzenanbeter? Das ist doch einfach lächerlich!«
»Doch so lautet die Anschuldigung!«
»Aber das können wir nicht einfach tatenlos hinnehmen!«, rief Tarik empört. »Wir werden diesem König zeigen, was es heißt, sich mit dem Orden der Templer anzulegen und uns Rittern solche infamen Verbrechen anzuhängen! Warte, ich hole mein Schwert!« »Nein, das wirst du nicht tun, Tarik!«, widersprach Antoine und hielt ihn am Arm fest. »Unser Großmeister hat den unmissverständlichen Befehl erteilt, den Soldaten keinen Widerstand zu leisten und sich der Verhaftung nicht zu widersetzen. Was immer der König auch im Schilde führen mag, er wird damit nicht durchkommen. Denn jeder weiß, dass er nicht das Recht besitzt, über uns zu Gericht zu sitzen. Das vermag allein der Papst. Zudem wird sich schnell herausstellen, wie haltlos die Anschuldigungen sind, die man gegen uns vorbringt. Also beuge auch du dich dem Befehl des Großmeisters, der jetzt auch der meinige ist! Zudem wäre Widerstand völlig sinnlos, wimmelt es doch auf unserem Gelände längst nur so von Soldaten!« Dann senkte er die Stimme, bevor er fortfuhr: »Und was den Heiligen Gral betrifft, so brauchst du dir um ihn keine Sorgen zu machen. Er ist im schwarzen Ebenholzwürfel eingeschlossen und so gut verborgen, dass kein Ungeweihter ihn jemals finden wird, und wenn man noch so intensiv und ausdauernd nach ihm suchen sollte! So, und jetzt komm! Jacques von Molay hat befohlen, dass wir uns alle unten im großen Saal versammeln.«
»Aber mein Gralsschwert werde ich ihnen nicht aushändigen!«, zischte Tarik wild entschlossen. »Gebt mir wenigstens einen Augenblick, es zu verstecken!«
»Gut, aber beeil dich! Und vernichte auch alle Seiten deiner Übersetzung und den Koran! Alles ins Feuer! Schnell!«, raunte er ihm zu. »Das könnte dich jetzt den Kopf kosten!«
Wenige Augenblicke später kehrte Tarik wieder zu Antoine auf den Gang zurück. Wild brannte der Schmerz in ihm, dass er den Schweiß von einem halben Jahr Arbeit den Flammen hatte übergeben müssen. Mit Bitterkeit und Zorn reihte er sich mit Antoine in den Strom der anderen Ordensbrüder ein, die sich alle dem Befehl ihres Großmeisters beugten, nicht zu den Waffen zu greifen, sondern ihr Schicksal in die Hand des Papstes und Gottes zu legen. Aber ihren zornigen Gesichtern und so manch leisem Fluch war zu entnehmen, wie schwer es ihnen fiel, in dieser Situation Gehorsam zu leisten.
Ein noch sehr junger Tempelritter, bei dem der Flaum auf der Oberlippe und um das Kinn herum gerade erst in einen spärlichen Bartwuchs überging, schien den Ernst ihrer Lage jedoch gänzlich zu verkennen. Denn als er neben Tarik durch die breite Tür in den großen, hohen Saal mit der kunstvollen Gewölbedecke schritt, hörte der Levantiner ihn zu einem anderen Ordensbruder leise und mit dem sprichwörtlichen Hochmut eines Templers sagen:
»Was soll diese Komödie? Der König hat sich wohl zu oft geißeln lassen und muss den Verstand verloren haben, dass er es wagt, sich mit uns anzulegen! Der Papst wird ihm die Exkommunikation androhen, wenn er davon erfährt! Ich sage dir, wir werden schnell wieder in Freiheit sein. Und dann wird man den König nicht mehr ›Philipp den Schönen‹, sondern ›Philipp den Lächerlichen‹ nennen!«
Tarik wollte ihm schon einen derben Rippenstoß verpassen, doch in diesem Moment fiel sein Blick auf den groß gewachsenen, elegant gekleideten Mann, dessen Gesicht von makelloser Schönheit war und der auf der Stirnseite des Saals neben dem königlichen Siegelbewahrer Wilhelm von Nogaret stand. Und während der Siegelbewahrer ihm mit offensichtlicher Vertrautheit etwas ins Ohr flüsterte, verfolgte dieser das Eintreffen der Ritter mit dem wachsamen und beutehungrigen Blick eines Raubtieres.
Nichts hätte Tarik einen größeren Schreck einjagen können, als diesen Mann an der Seite von Wilhelm von Nogaret zu sehen, den er wie keinen anderen Menschen auf der Welt fürchtete. Und im selben Moment wusste er auch, dass sie alle in viel größerer Gefahr schwebten, als er soeben noch für möglich gehalten hätte. Und diese Gefahr galt ebenso dem Heiligen Gral! Denn der Mann dort drüben war kein anderer als der ruchlose und machtvolle Iskari Sjadú, der erhabene Erste Knecht des Fürsten der Finsternis! Tarik schauderte, als hätte plötzlich ein eisiger Wind die Luft im Saal gefrieren lassen. Und sein nächster Gedanke galt seinen Freunden.
Maurice, Gerolt, McIvor – wo seid ihr? Rettet euch – und rettet den Heiligen Gral!
* Eine der sieben täglichen monastischen Gebetszeiten, auch Horen genannt. Der Lobpreis der Laudes wird von Mönchen damals wie heute bei Anbruch des Tages gebetet.
* Das spanische Wort »Reconquista« bedeutet Wiedereroberung der unter maurischer Herrschaft stehenden Gebiete in Spanien.